Obwohl innerhalb der Marxismus-Diskussion mit großer Selbstverständlichkeit von Ideologie, ideologischen Prozessen und ideologischen Vermittlungsverhältnissen geredet wird, ist jedoch keineswegs klar, ob bei allen Beteiligten mit diesen Begriffen immer das gleiche gemeint ist. Von einem Konsens über das Problemfeld „Ideologie“ kann gerade unter Marxistinnen und Marxisten keine Rede sein.
Selbst die Positionen eines „Postmodernen Denkens“, das davon spricht, dass die ideologiekritischen Fragestellungen sich für aktuelle Formen der „Befreiungspolitik“ (Fraser) erübrigt hätten[1], sind auf Teile der Marxismus-Diskussion nicht ohne Einfluss geblieben. Angesichts der Tatsache, dass realitätsverzerrende Gesellschaftsbilder in vielen Alltagsbereichen verbreitet sind (erinnert sei nur an rassistische und fremdenfeindliche Einstellungsmuster[2], ja eine unübersehbare Tendenz zum Irrationalen[3]), ist das natürlich schon erstaunlich. Noch erstaunlicher ist es jedoch, dass die postmodernistische Diskriminierung der Ideologiekritik gerade in der Konstitutions- und Durchsetzungsphase des Neoliberalismus, die mit einer besonders intensiven ideologischen Offensive verbunden war, seinen Einfluss geltend machen konnte.[4] Bekanntermaßen hat sich das mit den Namen „Neoliberalismus“ verbundene ausbeutungsorientierte Umgestaltungsprogramm so gründlich vor der Realität blamiert, dass die Frage sich aufdrängt, weshalb es überhaupt solange seinen Einfluss geltend machen konnte und warum die Opfer der neoliberalistischen Umgestaltungen bereit waren, die Durchsetzung sozio-ökonomischer Gestaltungsprinzipien zu akzeptieren, die ihrer eigenen Interessenlage widersprechen?
Werden solche Fragen überhaupt nur gestellt, wird deutlich, dass ideologiekritische Denkmittel unverzichtbar sind, wenn begriffen werden soll, wie der gegenwärtige Kapitalismus seine Macht stabilisiert, und weshalb es ihm, trotz fundamentaler Krisen und zunehmender Widersprüche, immer wieder gelingt, die Menschen geistig und emotional an sich zu binden.
II. Auch wer nicht viel über das Marxsche Denken weiß, dem ist dennoch „bekannt“, dass Ideologie „falsches Bewusstsein“ bedeuten soll und das eine Maxime der Marxschen Ideologielehre lautet, dass das „Sein“ das „Bewusstsein“ bestimme. Einen hohen Bekanntheitsgrad besitzen auch die metaphorischen verwandten Begriffe „Basis“ und „Überbau“, mit denen auf den Zusammenhang der sozio-ökonomischen Prozesse mit Denkmustern und Bewusstseinsformen hingewiesen wird. Wie alle Metaphern haben sie ihre eigene Deutungsmacht, besitzen einen großen (vielleicht zu großen) Einfluss auf das Verständnis des Problemfeldes „Ideologie“.
Zwar spielen die angesprochenen Theoreme und Begriffe im Marxschen Ideologieverständnis eine wichtige Rolle, nur haben sie im Kontext seiner Theoriepraxis nicht jene Eindeutigkeit, die ihnen im Prozess ihrer Popularisierung und formelhaften Fixierung zugefallen ist. In mancher Hinsicht stellen sie sogar Denkhindernisse dar.
Das ist beispielsweise bei jenen ökonomistischen Verkürzungen evident, die mit Bezugnahme auf die Formel, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, in einer unmittelbaren Weise das Denken zu den gesellschaftlich-materiellen Bewegungsformen in Beziehung setzen und auf der Grundlage dieses Schemas erwartet wird, dass ökonomische Bedrängnis und belastende Krisenerfahrungen automatisch Widerstandsbereitschaft hervorbringen würden. Auch die gegenwärtige Krise lehrt jedoch das Gegenteil: Trotz eskalierender Widerspruchserfahrungen gibt es (bestenfalls) nur verhaltenen Widerstand.[5]
Darauf, dass durch Krisen der Kapitalismus nicht automatisch in Frage gestellt wird, sondern die antikapitalistische Praxis spezifischer Voraussetzungen bedarf, hatte schon Lenin hingewiesen: „Es wäre falsch zu glauben, daß die revolutionären Klassen immer über genügend Kraft verfügen, um einen Umsturz zu bewerkstelligen, wenn dieser auf Grund der gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung vollauf herangereift ist … Der Umsturz kann herangereift sein, allein die Kräfte der revolutionären Schöpfer dieses Umsturzes können sich als ungenügend erweisen, ihn zu bewerkstelligen – dann fault die Gesellschaft, und diese Fäulnis kann Jahrzehnte hindurch andauern.“[6]
III. Der traditionelle Ökonomismus ist nicht die einzige Verkürzung des Marxschen Ideologiekonzeptes. Einen spezifischen Reduktionismus vertritt auch eine Denkschule, die immerhin den Anspruch einer „Neufundierung historisch-materialistischer Ideologieforschung“ erhebt[7], wie das bei den tonangebenden Mitarbeitern eines „Historisch-kritischem Wörterbuch des Marxismus“ (Ed. Haug) der Fall ist.[8] Von ihnen wird das Ideologische als eine gegenüber dem gesellschaftlichen Geschehen äußere Anordnung, als Bestandteil eines System „ideologischer Mächte“ begriffen, „die als gesellschaftliche Macht über der Gesellschaft“ angesiedelt seien.[9] Die von W. F. Haug formulierte Basisbestimmung seines theoretischen Konzepts lautet: „Das ideologische lässt sich fassen als Vergesellschaftung-von-oben.“[10] In einem ähnlichen Sinne hat auch Louis Althusser die neo-mechanistische Theorie der „Ideologischen Staatsapparate“ konzipiert, in deren Kontext er Ideologie als ein theoretisches Gebilde charakterisiert, das in das praktische Leben der Menschen „eindringt“.[11] Gesprochen wird von „Bildern, bisweilen Begriffen“, die sich „der Mehrzahl der Menschen … vor allem als Strukturen“ aufdrängen.[12]
Für den theoretischen Verständigungsprozess ist es wenig produktiv, dass beide Sichtweisen (die eine große Schnittmenge aufweisen) als die Marxsche, bzw. marxistische Ideologietheorie ausgegeben werden, obwohl sie, und das wird noch deutlich zu sehen sein, selbst zusammengenommen, nicht einmal die Hälfte dessen ausmachen, was als eine den aktuellen Problemkonstellationen angemessene marxistische Ideologieauffassung bezeichnet werden könnte.[13]
IV. Was ist daran problematisch, wenn „Ideologie“ vorrangig als das Geschäft von personellen und institutionellen Vermittlern verstanden wird, die der Gesellschaft eine interessendominierte und herrschaftsadäquate Sichtweise aufdrängen oder wenn Jan Rehmann (der ein zentrales Ideologie-Stichwort im HKWM verfasst hat), die Entstehungszentren des Ideologischen im Sinne der Haugschen Vorgaben als „aus der Gesellschaft ausgelagerte, von ihr entfremdete ideologische Instanzen“[14] bezeichnet?
Zunächst muss konstatiert werden, dass es diese ideologischen Instanzen zweifellos gibt und sie auch innerhalb des Gesamtprozesses geistiger Herrschaftsreproduktion eine nicht unwesentliche Rolle spielen! Aber sie sind nicht – wie unterstellt wird – das primäre Entstehungsfeld des Ideologischen und existieren auch nicht in „ausgelagerten“ Sozialbereichen – jedenfalls nicht nach dem Verständnis von Marx und Engels, wie sie es in der „Deutschen Ideologie“ entwickelt haben.
Die Herangehensweise von Marx und Engels braucht natürlich nicht richtig zu sein – aber das angeblich Fragliche und Ergänzungsbedürftige müsste dann auch detailliert erörtert werden. Vor allem dann, wenn sich ein von ihren Auffassungen deutlich abweichendes Ideologie-Konzept legitimatorisch auf sie beruft. Aber eine zufriedenstellende Auseinandersetzung mit dem Ideologiekonzept der „Deutschen Ideologie“ findet nicht statt. Es ist schon bemerkenswert, mit welch dürren, mehr abwiegelnden denn klärenden Worten der ideologietheoretische Grundlagentext des Marxismus im HKWM „abgehandelt“ wird: Es wird nicht deutlich, dass es sich bei den Ausführungen zum Ideologiekomplex um Begründungsfragen des historisch-materialistischen Gesellschaftsverständnisses von Marx und Engels handelt.
V. Skizzenhaft, soll das Versäumte nachgeholt werden. Vorweg muss jedoch betont werden, dass der Marxsche Ideologiebegriff sich nur dann vollständig erschließt, wenn auch sein theoretischer Kontext zur Kenntnis genommen, also in Rechnung gestellt wird, dass im marxistischen Verständnis die Ideologietheorie eine Unterabteilung einer allgemeinen Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins ist (vgl. den Beitrag von Thomas Metscher in diesem Heft). Gleichermaßen ist zu beachten, dass die Ideologieauffassung, ebenso wie alle anderen Marxschen Theoreme, in ein umfassendes Verständnis des Sozialen integriert ist: Die Marxsche Theorie des Ideologischen ist integraler Bestandteil dessen, was als Historischer Materialismus bezeichnet wird und weitgehend mit dem deckungsgleich ist, was Gramsci als Theorie der Praxis bezeichnet hat.
Damit sind nicht, wie manchmal kurzgeschlossen wird, vorrangig die politischen Implikationen der Marxschen Theorie gemeint (die natürlich fraglos existieren, auch wenn deren tragende Bedeutung für die marxistische Theoriepraxis ja mittlerweile von einer angeblich „Neuen Marxlektüre“ in Frage gestellt wird[15]). Die Praxisphilosophie repräsentiert vielmehr den Begründungshorizont des Marxschen Gesellschaftsverständnis (und darin eingeschlossen des Ideologiekonzepts), in dessen Mittelpunkt die Erkenntnis steht, dass die historischen Subjekte gleichermaßen aktive und passive Momente des gesellschaftlichen Geschehens sind.[16] Die Menschen werden zwar als abhängig von den sozialen Verhältnissen (den „Umständen“) begriffen, gleichzeitig wird jedoch betont, dass es sich dabei um eine Abhängigkeit besonderer Art handelt, weil sie diese gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie integriert sind, durch ihre soziale Praxis selbst geschaffen haben. Dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis wird in der „Deutschen Ideologie“ mit der Aussage auf den Punkt gebracht, dass „die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen“.[17]
Im Kontext dieses Gesellschaftsverständnisses stehen für Marx und Engels soziales Sein und Denken in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander, wie es nach der Auffassung eines frühbürgerlichen Materialismus der Fall war: Das eine ist nicht aus dem anderen „abzuleiten“, weil es unauflöslich aufeinander bezogene, synchrone Momente eines einheitlichen gesellschaftlichen Geschehens sind. Folglich werden im Historischen Materialismus Ideologien nicht als Gedanken über ein Objekt, sondern als „gesellschaftliche Gedankenformen“ (Marx) begriffen, die irreversibel mit den Praxisverhältnissen verbunden sind. Sie sind elementare Bestandteile der gesellschaftlichen Selbstreproduktion, weil dieser Prozess durch das bewusstseinsvermittelte Handeln der Individuen konstituiert ist. Klaus Holzkamp hat die Dialektik der gesellschaftliche Gedankenformen durch den Hinweis konkretisiert, „dass der Mensch, wenn er sich erkennend auf die gesellschaftliche Realität bezieht, als gesellschaftliches Individuum immer schon Teil dessen ist, was erkannt werden soll.“[18]
Im Marxschen Verständnis ist Denken in einen Handlungskontext eingebunden, auf den die Menschen selektierend und ihre Ziele ordnend reagieren: „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde hinabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen (…); es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.“[19] Nach dem Verständnis der Haug-Schule soll das exakte Gegenteil gelten: Ideologie bedürfe „den Marsch durch die Institutionen, Praxisformen und Diskurse … bevor sie [sich] zu den wirklichen Menschen begibt“.[20]
VI. In welch elementarer Weise die Denkformen Funktions- und Bedingungselemente der Praxisverhältnisse sind und wie sie sich aus den Alltagskonstellationen heraus entwickeln, ist das zentrale Thema der „Deutschen Ideologie“. Vorstellungen und Ideen gelten Marx und Engels als die „Sprache des wirklichen Lebens“.[21] Geradezu programmatisch wird auch in dem bekanntesten Satz aus der „Deutschen Ideologie“ die Spezifik des Ideologie-Verständnis von Marx und Engels zum Ausdruck gebracht: „Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.“[22]
Der „wirkliche Lebensprozeß“ umfasst das materiell vermittelte Weltverhältnis des tätigen und damit sich bewusstseinsmäßig verhaltenden Menschen ebenso, wie die virulenten ideologischen Orientierungssysteme, zu denen auch religiöse Einstellungen oder politische Präferenzen gehören. In der Regel stellen sie elementare Bestandteile der Alltagsorientierungen dar, liegen diesen zugrunde, weil sie sich beispielsweise in den Mentalitätsstrukturen der Menschen verfestigt haben.
Es wirken in diesen „wirklichen Lebensprozeß“ natürlich auch die Interventionen ideologischer Apparate und Instanzen (beispielsweise der Medienkomplex) hinein[23], jedoch sie sind nur ein Aspekt unter anderen – und vor allem können sie ihre Wirkung in der Regel auch nur dann entfalten, wenn sie an jene Orientierungsmuster anschließen, die innerhalb der alltagspraktischen Konstellationen entstanden sind. Gerade Ideologie, die unmittelbar das Interesse der Herrschenden vertritt, würde ins Leere laufen, wenn sie nicht mit den alltäglichen Vorstellungswelten und Bewusstseinspräformierungen, also mit dem Warenfetisch, den Idolen des Marktes und den Fetischen des Alltags, korrespondieren würden: „Als ideologische Elementarmächte fungieren sie in Konjunktion. Sie fundieren und ergänzen als Prozesse der ideologischen Vergesellschaftung die Arbeit des ideologischen Überbaus.“[24]
VII. In seinen Analysen des fetischisierten Bewusstseins im 1. Band des „Kapital“ hat Marx nicht nur ein weiteres Mal thematisiert, in welcher Weise die Gedankenformen in den Praxisverhältnissen entstehen, sondern auch, wie sich bedingt durch den Warencharakters aller sozialen Beziehungen und durch die verwertungsorientierte Prägung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung Auffassungen entwickeln, die das Bild von den (klassengesellschaftlich strukturierten) sozialen Zusammenhängen systematisch verzerren: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht (...) darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt (…).“[25] Daraus resultiert u.a. der Eindruck einer scheinbar irreversiblen Festgefügtheit der herrschenden Zustände, der eine zentrale Rolle bei der ideologischer Machtreproduktion im Industriekapitalismus spielt. Es wird in diesen Ausführungen zum Fetischcharakter der Ware von Marx herausgearbeitet, dass den Menschen desorientierende Einstellungen nicht erst eingeredet werden müssen, sondern diese zu einem wesentlichen Teil aus ihrem Agieren in den entfremdeten Praxiskonstellationen resultieren.
Es ist Ausdruck eines vollständigen Verkennens der Absicht der Fetischismusanalyse, wenn das HKWM Marx vorwirft, in ihrem Kontext nicht zu zeigen, wie die alltagspraktisch verzerrten Auffassungen „eingesetzt werden, um Menschen auf bestimmte Verhältnisse einzuschwören“.[26] Dies geschieht natürlich, jedoch wird diese „Einschwörung“ nicht als primärer, das Ideologische „erzeugender“ Vorgang (wie man es zur Bestätigung der eigenen Auffassung gerne von Marx hören würde), sondern als systematisierende „Weltbildarbeit“ begriffen, bei der die äußeren „Interventionen“ mit den in den Alltagszusammenhängen entstandenen Verzerrungen korrespondieren.
Nach der Marxschen Analyse entstehen also herrschaftsadäquate Vorstellungen zunächst unabhängig von der „systematisierenden Arbeit der Ideologen“[27], die das HKWM als den primären Faktor der Bewusstseinsformierung unterstellt. Eigentlich unmissverständlich wird in der „Deutschen Ideologie“ im Gegensatz dazu davon gesprochen, dass sich der gesellschaftliche Zusammenhang als ideologisches Vermittlungsverhältnis, durch die „Bedürfnisse und die Weise der Produktion“[28] herstellt – und zwar „auch ohne dass irgendein politischer oder religiöser Nonsens existiert, der die Menschen noch extra“ zusammenhalten würde.[29]
Angesichts der beträchtlichen Differenz zwischen den Ausführungen in den Klassikertexten und den interpretatorischen Kopfstandübungen der Haug-Schule (durch die nichts anderes, als die von Marx vollzogene materialistische Wende bei der Bewusstseinsproblematik in Frage gestellt wird!), lässt sich nur eine Empfehlung formulieren: Marx und Engels lesen!
VIII. In seinem Spätwerk „Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ schließt Georg Lukács an die in der „Deutschen Ideologie“ entwickelten Vorstellungen an, wenn er Ideologie „vor allem als jene Form der gedanklichen Bearbeitung der Wirklichkeit [begreift], die dazu dient, die gesellschaftliche Praxis der Menschen bewusst und aktionsfähig zu machen“.[30]
Eine solche Definition fungiert gleichzeitig als Anti-These zur gewöhnlichen Identifizierung von Ideologie mit falschem Bewusstsein. Sie spielt auf die implizite Doppelbödigkeit des Ideologiebegriffs an, die daraus resultiert, dass unter den klassengesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen die Menschen sich aus einem verzerrten Bewusstsein heraus verhalten müssen, dieses gleichzeitig jedoch auch einen praktischen Orientierungswert besitzt.
Wer in der bürgerlichen Gesellschaft existieren will, muss beispielsweise innerhalb seiner Alltagsverhältnisse den Geldfetisch akzeptieren – auch wenn er Gegner der Geldwirtschaft ist. Marx spricht in diesem Zusammenhang von „Kategorien“ als gesellschaftlich objektiven (weil überlebenswichtigen) Gedankenformen. Diese sich im Prozess der individuellen Lebenstätigkeit spontan entwickelnden kategorialen Bewusstseinsformen entsprechen den praktischen Erfordernissen des Alltags. Zwar wird die Realität selektiv wahrgenommen oder mit fragwürdigen Vorstellungsmustern interpretiert, aber in einer zur Bewältigung der praktischen Lebensprobleme ausreichenden Weise. Jedoch fehlt diesem Denken das Wissen um den Zusammenhang und die Einsicht in die Ursachen der Dinge. Aber diese reduktionistischen Reflexionsformen können dennoch das „Rohmaterial“ für die Entwicklung realistischen Denkens sein.
IX. Es gehört zu den üblich gewordenen („postmodern“ determinierten) Verballhornungen der Ideologieproblematik, dass die Frage nach „Wahrheit“ diskreditiert, Erkenntnisstreben mit Absolutheitsobsession gleichgesetzt wird.[31] Aber allein schon die Berücksichtigung der alltagspraktischen Funktionalität des Denkens konterkariert solche Auffassungen. Dass es Entwicklungsstufen des Erkennens, in historischer Perspektive nur Annäherungen an die Wahrheit, gibt, darauf hat schon Lenin verwiesen: Licht in das Dunkel zu bringen und die Halbschatten auszuleuchten ist ein niemals abgeschlossener Prozess, den zu beschreiten jedoch gerade im Interesse unterdrückter Klassen liegt. Herrschende Interessen können sich mit einem fatalistischen Klima und einem kognitiven Nihilismus, mit der „Gewissheit“ zufrieden geben, dass niemand Sicheres weiß und wissen kann, weil dann die Gefahr minimiert ist, dass die Mechanismen der Macht kritisch und mit Geltungsanspruch thematisiert werden.
Durch das historisch-materialistische Verständnis der Bewusstseinsprozesse ist nicht nur eine vorgängige Festschreibung des Ideologischen als „falsches Bewusstsein“ ausgeschlossen: Es wird auch die Einsicht transportiert, dass gesellschaftliche Vermittlung des Bewusstseins nicht nur Ursache verzerrten Denkens ist, sondern ebenfalls Bedingung realistischer Erkenntnis: Eine Gesellschaft ist gemäß der Marxschen Auffassung unter ganz bestimmten Bedingungen fähig ein Bewusstsein über sich selbst zu entwickeln und auch sich selbst zu kritisieren. So hat die bürgerliche Gesellschaft (durch die ökonomisch vermittelte) Verallgemeinerung des gesellschaftlichen Verkehrs die Voraussetzung zur sozialen „Selbsterkenntnis“ geschaffen.
Die Universalisierung der Warenform führt zwar zu alltagspraktischen Bewusstseinsformierungen (verdinglichten Denkmustern), gleichzeitig ist sie jedoch auch vermittelter Ausdruck der gesellschaftlichen Totalität; sie ist der gemeinsame Bezugspunkt divergierender Gesellschaftsmomente: Das universale Ausdehnungsstreben der kapitalistischen Ökonomie und die von ihr vorangetriebene Verflechtung aller sozialen Beziehungen hat einen realen Zusammenhang geschaffen, der sich auch theoretisch abbilden lässt. Darüber hinaus ist durch die antagonistische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft ebenso ein objektives Widerspruchsprinzip mitgesetzt, das zur Grundlage alternativer Orientierungen werden kann. Mit dem von Marx und Engels erarbeiteten Verständnis der sozialen Vermitteltheit aller Bewusstseinsformen ist das Ideologieproblem auf eine theoriegeschichtlich neue Ebene (mit Ausstrahlung bis ins Zentrum der bürgerlichen Sozialwissenschaften hinein[32]) gehoben worden.
X. Um dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Denken und Sein auch ideologietheoretisch gerecht zu werden, reicht es nicht aus, nur lineare Einwirkungsprozesse zu beschreiben, bei denen die konkreten Formen des menschlichen in-der-Welts-seins (einschließlich ihrer materiellen Dimensionen) dabei ebenso unter den Tisch fallen wie der Handlungs- und Reflexionshorizont der Praxissubjekte. In den Basis-Überbau-Modellen, aber auch in den Konzepten des Ideologischen als ein „äußerer“ Interventionsvorgang, bleibt letztlich die ganze Dimension dieses geistigen und praktischen Weltverhältnisses der Praxissubjekte ausgeklammert. Statt als Denkform, in der die Menschen ihre Lebensumstände und sozialen Handlungsbedingungen reflektieren, wird Ideologie primär als Vorgang der Übernahme fremddeterminierter Sichtweisen und der Unterwerfung (unter die von ihnen transportierten Herrschaftsimplikationen) dargestellt. In geradezu trivialer Weise geschieht das bei Althussers Charakterisierung ideologischer Unterwerfungspraktiken analog religiöser Rituale: „Knie nieder, bewege deine Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben“.[33]
Der Dreh- und Angelpunkt des Marxschen Verständnisses des menschlichen Weltverhältnisses, ist jedoch die Einsicht, dass Ideologie von den Menschen nicht „empfangen“, sondern „gelebt“ wird, oder wie Lukács das gleiche Problem aus einem anderen Blickwinkel thematisiert hat, die ideologischen Grundmuster „nicht aus den Büchern ins Leben, sondern aus dem Leben in die Bücher“ kommen.[34]
Trotz realer Fremdbestimmung und einer in seiner Tendenz affirmativen Funktionalität ist das menschliche Weltverhältnis (und natürlich auch die damit verbundenen ideologischen Reflexionsformen) Ausdruck der aktiven Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Subjekte mit ihren Lebensbedingungen. Zwar gibt es auch bei Althusser Hinweise auf das Ideologische als gelebtes Weltverhältnis, jedoch wird es unter dem Vorzeichen der Unterwerfung abgehandelt.
XI. Die Analyse der Entwicklung des ideologischen Bewusstsein innerhalb konkreter Praxisverhältnisse impliziert auch die Berücksichtigung der Tatsache, dass sich innerhalb dieses Prozesses Bewusstes mit „Unbewusstem“ (im ideologietheoretischen Kontext wäre sicherlich die Bezeichnung „Vorbewusstem“ angemessener) vermengt. Erst durch die Verbindung von praxisgeprägten Denkformen, ideologischen Deutungsmustern und psychischen Dispositionen konstituieren sich die alltagsrelevanten Motivations- und Orientierungssysteme. Jedes dieser Elemente hat einen größeren oder geringeren Einfluss, ohne jedoch eine irreversible Determinationskraft zu besitzen.
Der konkrete Bewusstseinsprozess ist vielgestaltig und widersprüchlich, enthält reflektierte und unreflektierte Elemente, die sich überkreuzen, wie es Voltaire seinem „Wilden“ in dem „Gespräch zwischen einem Wilden und einem Bakkalaureus“ schildern lässt: „Manchmal habe ich nur vage Vorstellungen, gleichsam als ob ich Gegenstände aus der Ferne verschwommen sähe; manchmal habe ich klarere Ideen, so wie ich einen Gegenstand besser erkennen kann, wenn ich ihn von nahem sehe; manchmal habe ich gar keine Ideen, so wie ich nichts sehe, wenn ich die Augen schließe.“[35]
Die Mehrschichtigkeit, auch Mehrdeutigkeit der Ideologien ist es, die ihre alltagspraktische Funktionalität gewährleistet, weil die Menschen auf Realitätsstrukturen mit konträrer Wirkungstendenz und oft auch sich widersprechende Anforderungen reagieren müssen.
Die historisch-materialistische Beschäftigung mit dem Spannungsverhältnis von tradierten und aktuellen Bewusstseinsformen (in die das im psychoanalytischen Sinne „Unbewusste“ eingeschlossen ist) dient der konkreten Dechiffrierung der innerhalb des ideologischen Felds wirkenden Einflussfaktoren, ebenso wie der Charakterisierung seiner spezifischen Verarbeitungsmuster – nicht aber (wie das im postmodernistischen Denken in der Nachfolge Lacans der Fall ist, bei dem die Unterwerfungserfahrungen als unüberschreitbar festgeschrieben werden) um eine angebliche Hilflosigkeit der Menschen gegenüber vorrationalen Strukturen zu konstruieren, die ihnen grundsätzlich unbegriffen bleiben müssen.
Auch wenn die Menschen nicht alle Implikationen ihres Denkens (und daraus resultierend ihre Handelns) überblicken, agieren sie weder blind noch „kopflos“. Wenn von den postmodernistischen „Meisterdenkern“ das Gegenteil behauptet wird, können sie sich eigentlich nicht auf Freud berufen. Wenn sie es trotzdem machen, um eine prinzipielle Unterordnung des Menschen unter seine Triebstruktur behaupten zu können, wird dessen konkrete Aufklärungsintention auf den Kopf gestellt, die er als „psychologisches Ideal“ beschrieben und als „Primat der menschlichen Intelligenz“ gegenüber einen Triebdeterminismus konkretisiert hat.[36]: Wo Es war, soll Ich werden, fasst er seine Absicht in programmatischer Prägnanz zusammen.
XII. Wie schon angedeutet, wirken in den „wirklichen Lebensprozeß“ natürlich auch die Interventionen ideologischer Apparate hinein, aber sie sind nur ein Aspekt unter anderen – und vor allem können sie ihre Wirkung in der Regel auch nur dann entfalten, wenn sie an jene Orientierungsmuster anschließen, die innerhalb der alltagspraktischen Konstellationen schon existieren.
Die je aktuellen (praxisdeterminierten) ideologischen Prozesse sind in mehrschichtige Ideologiekomplexe eingebunden, die jeweils eine eigene Genese und eine differenzierte Funktionalität besitzen, sich aber gegenseitig beeinflussen und inhaltlich „ergänzen“. Basisfunktion hat das schon erwähnte fetischisierte Bewusstsein, das in einer späteren marxistischen Diskussion auch als „Verdinglichung” (als verdinglichte Auffassung der gesellschaftlichen Verhältnisse, weil das von den Menschen Erzeugte ihnen als verselbstständigte Macht erscheint) bezeichnet wird.[37] Weil es allen anderen ideologischen Prozessen in der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt, hat Leo Kofler den gesellschaftlich erzeugten Fetischismus einer „primären Stufe der ideologischen Reflexion” zugerechnet. Dieser ideologische Vorgang „vollzieht sich in einer spontan-irrationellen Form [und] ... stellt schlechthin das dar, was man als die ‚unreflektierte‘ Hinnahme erlebter ökonomischer Zwangsläufigkeit und damit zusammenhängend gesellschaftlicher Schicksalhaftigkeit im Alltagsbewußtsein” bezeichnen kann.[38]
In seiner offensichtlichen Reibungslosigkeit kann das System der ideologischen Machtreproduktion jedoch nur funktionieren, weil den aus der unmittelbaren Praxis entstammenden Bewusstseinspräformierungen mehrschichtige Vorstellungswelten mit meist repressiver Funktionalität vorgelagert sind. Die im praktischen Lebensvollzug sich entwickelnden Interpretationsschablonen werden durch sowohl historisch, als auch aktuell vermittelte Bilder und Deutungsmuster zu einem Weltbild mit alltagspraktischer Orientierungsstruktur komprimiert.
Es sind mehrere tradierte Ideologiekomplexe zu unterscheiden, die jeweils einen eigenen Entstehungsprozess und eine differenzierte Funktionalität besitzen, sich jedoch wechselseitig beeinflussen und inhaltlich „ergänzen”. Zu ihnen gehören auch tief verwurzelte Bewusstseinsebenen (die als kulturelle Gedächtnisstrukturen bezeichnet werden können, zu denen beispielsweise patriarchale Einstellungsmuster gehören), die Produkte der gesamten klassengesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit darstellen: In ihnen sind die historischen Erfahrungen der Unterdrückung und der Mühseligkeit subalternen Lebens gespeichert. Alltagsvirulente „Gewissheiten“ wie beispielsweise die Auffassungen, dass sich „jeder selbst der Nächste” ist, oder dass „Die-da-oben” doch machen was sie wollen, entsprechen zwar zunächst einmal den unmittelbaren Sozialerlebnissen der Menschen. Solche pseudo-empirischen Feststellungen entfalten ihre vollständige Wirkung jedoch erst durch die Prägekraft der verinnerlichten Koordinaten eines „repressiven Menschenbildes” (Kofler), dem beispielsweise menschliche Fremdbestimmung, ein selbstunterdrückender Charakter von Arbeit oder die Allgegenwart von Gewalt als unüberwindbar gilt. Seine Konturen beeinflussen die Bewertung und Einordnung aktueller Erlebnisse. Das Gewicht der einzelnen Bewusstseinsschichten bei der Bewertung und Verarbeitung aktueller Erfahrungen ist dabei von den übrigen ideologischen Konstellationen (der Struktur des „Gegenwartsbewusstseins“), wie auch von den Interpretationsbedürfnissen des Alltagsdenkens abhängig.
Es koexistieren „in einer gegebenen Gesellschaft mehrere Repräsentationssysteme ..., die … miteinander konkurrieren“[39], die jedoch in Hinsicht auf die praktische Lebensbewältigung auf der Subjektebene zu einem „homogenen” Weltbild verarbeitet werden. Individuelle Existenzansprüche werden dabei mit den objektiven Anforderungen und Möglichkeiten in Übereinstimmung gebracht. Das geschieht nicht widerspruchsfrei, weil auch die „lebensweltlichen“ Ansprüche widersprüchlich sind, jedoch gerade diese Heterogenität sichert die praktische Funktionalität der Weltbildmuster.
XIII. Durch den Hinweis auf das konstitutive Beziehungsverhältnis von „Sein“ und „Bewusstsein“ wurde schon angedeutet, dass die ideologischen Prozesse keinen separiert zu denkenden Bereich innerhalb des Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse darstellen; sie durchdringen sie auf allen Stufen und fungieren als eine nicht nur das Bewusstsein, sondern auch die Psyche prägende und deformierende Kraft. Diese Vorgänge sind Ausdruck der Tatsache, dass in den spätimperialistischen Metropolenländern soziale Konformität vorrangig nicht mehr durch die Orientierung auf normative Weltbilder erzeugt, sondern durch die machtadäquate Formierung der Massenpsyche gesichert wird: Ideologischen Formen der Repression sind in den psychischen Strukturen eingelagert.[40]
Ausgeprägt und „optimiert“ hat sich dieser Modus der Herrschaftsvermittlung in den Jahrzehnten des Prosperitätskapitalismus, als die imperialistischen Hauptländer sich im Nachkriegsboom und in der Illusion einer immerwährenden Prosperität sonnten. Im Rahmen der „Konsumgesellschaften“ gab es tatsächlich eine beträchtliche Verbreiterung der Partizipationsbasis an den Konsummöglichkeiten und die Perspektive erweiterter Gestaltungsmöglichkeiten des individuellen Lebens. Aber mit der Ausbreitung „wohlstandsgesellschaftlicher“ Zustände hat sich auch das System sozio-kultureller Fremdbestimmung verfestigt. Diese paradoxe Konstellation resultiert u.a. daraus, dass Konsumpartizipation mit einem wachsenden Leistungszwang verbunden ist, was ja in der „modernen Arbeitswelt“ vor allem die Zunahme psychischer Auspressung und die Beanspruchung des „ganzen Menschen“ bedeutet: Zunehmend reproduziert sich der Kapitalismus durch eine fast unentwirrbar gewordene Verbindung von ökonomische Verwertung und subjektiver Selbstinstrumentalisierung.
„Außenlenkung“ wird dadurch weitgehend durch „Innenlenkung“ ersetzt: Die Herrschaftsimplikationen setzen sich vermittelst eines Systems psychischer Formatierung, mentaler Formierung und einer Verinnerlichung der Ausbeutungsimperative durch. Die Menschen werden so sozialisiert, dass sie freiwillig das machen, was von ihnen erwartet wird.
XIV. Eine theoretische Rekonstruktion dieses „fordistischen“ Modus der Machtperpetuierung ist von dringender Aktualität, weil nur vor dessen Hintergrund theoretisch hinreichend bestimmt werden kann, in welch grundlegender Weise sich in den letzten 20 Jahren die Verhältnisse verändert haben. Erst durch eine Theorie des Spätkapitalismus kann präzise nachvollzogen werden, wie aus dem System weitgehend „geräuschloser“ Vermittlung herrschaftskonformer Orientierungen und Verhaltensweisen ein umfassendes System der Kontrolle und direkter Manipulation geworden ist. Durch die strukturelle Gewalt der ausbeutungszentrierten Umgestaltungsstrategien des Neoliberalismus ist ein disziplinierendes Klima der Angst und Unterwerfung entstanden: Mit der bewusst eingesetzten Waffe der Unsicherheit ist eine neue Form der Herrschaftsstabilisierung installiert worden: Es hat sich ein Akkumulationsregime durchgesetzt, „das untrennbar mit dem politischen Regime verbunden ist, ein mit dem Herrschaftsmodus verbundener Produktionsmodus, der die Institutionalisierung von Unsicherheit zur Grundlage hat und Herrschaft mittels Prekarität ausübt“.[41]
Perfektioniert worden ist ebenfalls ein wirksames Netz elektronischer Kontrolle, das aus einem System der Überwachung jederzeit zu einem System der Verfügung transformiert werden kann. Krakenhaft gewachsen ist auch ein bürokratischer Apparat zur Verbreitung und Beibehaltung von Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Der kultur-industrielle Komplex leistet einen flankierenden Beitrag zur Destruktion progressiver Zukunftsvisionen. Im Gleichschritt mit ihm perpetuiert die Medienmaschine eine selbstrepressive Alltags“gewissheit“ von der Alternativlosigkeit herrschender Zustände.
XV. Die bisher skizzierten Entfremdungsformen des gesellschaftlichen Bewusstseins vermitteln ein düsteres, vielleicht ein zu düsteres Bild, denn die ideologischen Verarbeitungsprozesse erschöpfen sich nicht in einer repressiven Funktionalität. In unserer Gegenwart sind sie vorherrschend, jedoch existieren in den Alltagskontexten auch nicht integrierbare Widerspruchsmomente, die mit nicht repressiv besetzten Bereichen eines kollektiven Unterbewusstseins korrespondieren: Vorstellungen von einem besseren Leben und ein unbestimmtes Hoffen auf eine „andere“ Welt, auf Solidarität und zwischenmenschliche Rücksichtnahme. Tief in seiner neuronalen Struktur verankert sind auch ein elementares „Bedürfnis des Menschen nach Bindung und Zugehörigkeit“.[42]
Die mentalen und psychischen Integrationsprozesse sind weit fortgeschritten, aber die Unterwerfung ist (noch?) nicht, wie beispielsweise Adorno es unterstellt, vollständig gelungen; die „Verblendung“ von der er spricht, nicht universal. Der ideologische (und somit soziale) Reproduktionsprozess ist zwar ein Vorgang der Anpassung, die oft aber, wie Goffman es bezeichnet, einen sekundären Charakter besitzt[43]: Auch jenseits ausdrücklicher Gegenwehr gelingt es den Alltagssubjekten innerhalb des Regel- und Normensystems, sich Frei- und Handlungsräume zu verschaffen. Es sind Vorgänge, die seit je die „Rationalisierer“ von Arbeitsprozessen zur Verzweiflung getrieben haben, denn alle „wissenschaftliche Betriebsführung“ vermag nicht zu verhindern, dass ihr Regelgeflecht partiell von den Lohnabhängigen unterlaufen wird: Obwohl es aufgrund eines eskalierenden Leistungsdrucks und der Methoden der „Innenlenkung“ (einschließlich des Zwangs vom „unternehmerischen Standpunkt“ aus zu denken) ihnen immer schwerer fällt, gelingt es den Beschäftigten im Arbeitsprozess partielle „Freiräume“ zu verteidigen.
Für den ideologischen Reproduktionsprozess in seiner Gesamtheit gilt, dass trotz aller Manipulationstendenzen sich immer wieder Widerspruchstendenzen, sich neue Formen alternativer Artikulation heraus bilden. Die Lohnabhängigen haben es in der herrschenden Kultur der Erinnerungslosigkeit zwar verlernt, ihren Konflikterfahrungen einen konsistenten Ausdruck zu geben, aber der gesellschaftliche Grundantagonismus ist in ihren Gesellschaftsbildern ungebrochen präsent.[44] Eine empirisch verankerte Ideologiekritik kann berechtigterweise also von der Annahme ausgehen, „dass niemand je vollständig verblendet ist, dass die Unterdrückten selbst jetzt Hoffnungen und Wünsche haben, die sich realistisch nur durch eine Veränderung ihrer materiellen Lage erfüllen lassen.“[45]
[1] Mit Verweis auf Foucaults angebliche „Einsichten in das Wesen moderner Macht“ wird sogar gefordert, „politische Orientierungen, die vorrangig auf die Demystifizierung ideologisch verzerrter Überzeugungssystem abzielen“ (N. Fraser, Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Frankfurt/M. 1994, S. 32) aus dem „Diskurs“ gänzlich auszuschließen. Dieses Ansinnen entspricht Foucaults Forderung zu vermeiden, „bestimmte Machtinstitutionen, Gruppen Klassen oder Eliten“ als Träger von Machtverhältnissen identifizieren zu wollen (M. Foucault, Analytik der Macht, Frankfurt/M. 2005, S. 245). Mit diesem Imperativ wird die ganze Tradition kritischer Gesellschaftstheorie, einschließlich der Marxschen „Kritik der politischen Ökonomie“, dem theoriegeschichtlichen Abfallhaufen überantwortet.
[2] Vgl.: W. Heitmeyer, Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt/M. 2011.
[3] Vgl.: W. Seppmann, Dialektik der Entzivilisierung. Krise, Irrationalismus und Gewalt, Hamburg 22011.
[4] Vgl.: S. Herkommer, Metamorphosen der Ideologie. Zur Analyse des Neoliberalismus durch Pierre Bourdieu und aus marxistischer Perspektive, Hamburg 2004; E. Hahn, Probleme der Ideologiekritik unter den Bedingungen des Neoliberalismus, in: junge Welt vom 16. 7. 2005.
[5] Vgl.: W. Seppmann, Krise ohne Widerstand?, Berlin 22011.
[6] W. I. Lenin, Werke, Bd. 9, S. 367.
[7] W. F. Haug (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus (nachfolgend auch HKWM), Hamburg und Berlin 1994ff., Bd. 6/1, Sp. 717.
[8] Vgl.: J. Rehmann, Einleitung in die Ideologietheorie, Hamburg 2008.
[9] W. F. Haug, Elemente einer Theorie des Ideologischen, Hamburg 1993, S. 81.
[10] Ebd.
[11] Vgl.: L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1977.
[12] L. Althusser, Für Marx, Frankfurt/M. 1968, S. 183.
[13] Vgl.: E. Hahn/Th. Metscher/W. Seppmann, Marxismus und Ideologie, Hamburg 2013 (in Vorb.)
[14] J. Rehmann, a.a.O., S. 153
[15] Vgl. u.a.: I. Elbe, Marx im Westen. Die Neues Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008. Kritisch dazu: H. Wendt, Logisch? Historisch? Anmerkungen zu einem Methodenstreit und seinen politischen Implikationen, in: Marxistische Blätter, H. 6/2010; W. Seppmann, Subjekt und System. Der lange Schatten des Objektivismus, Hamburg 2011.
[16] Vgl.: W. Seppmann, Was ist Praxisphilosophie?, in: Marx-Engels-Stiftung (Hg.), Konturen eines Zukunftsfähigen Marxismus, Köln 2008.
[17] Marx-Engels-Werke, Bd. 3, S. 38.
[18] K. Holzkamp, in: E. Altvater/W. F. Haug u.a., Wozu „Kapital“-Studium, Argument Studienhefte 1, S. 10.
[19] Marx-Engels-Werke, Bd. 3, S. 26.
[20] J. Rehmann, a.a.O., S. 65.
[21] Marx-Engels-Werke, Bd. 3, S. 26.
[22] Ebd.
[23] Vgl.: E. Hahn, Alte und neue Probleme der Ideologietheorie, in: W. Eichhorn/W. Küttler (Hg.), Was ist Geschichte? Aktuelle Entwicklungstendenzen von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft, Berlin 2007.
[24] Th. Metscher, Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zur Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins, Frankfurt/M. 2010, S. 327.
[25] Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S. 86.
[26] HKWM, Bd. 6.1, Sp. 699.
[27] Ebd.
[28] Marx-Engels-Werke, Bd. 3, S. 30.
[29] Ebd.
[30] G. Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Bd. 2, Darmstadt und Neuwied 1985, S. 398.
[31] Ihr Echo finden solchen Positionen beispielsweise in dem Versuch (in einer gegen Erich Hahn gerichteten Passage), die marxistische Frage nach der Wahrheit in einen Gegensatz zur „Anstrengung eines vorurteilsfreien wissenschaftlichen Forschens“ (J. Rehmann, a.a.O., S. 64) zu stellen.
[32] Vgl.: K. Lenk, Marx in der Wissenssoziologie, Neuwied und Berlin 1972.
[33] L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, a.a.O., S. 138. Bemerkenswert ist, wie weit Althusser hinter dem marxistischen Diskussionsstand des Religiösen zurück bleibt. Vgl.: E. Bloch, Atheismus im Christentum, Frankfurt/M. 1968; U.-J. Heuer, Marxismus und Glauben, Hamburg 2007; W. Seppmann, Religion als Utopie, In: Marxistische Blätter, H. 5/2010.
[34] G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin und Weimar 1985, S. 362.
[35] Voltaire, Kritische und satirische Schriften, München 1970, S. 117.
[36] S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 371.
[37] Vgl.: G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied und Berlin 1970 . Vgl. als aktuellen Versuch, einem Zentraltheorem der Marxismusdiskussion dadurch den kapitalismuskritischen Stachel zu nehmen, dass Fremdbestimmung und die (Selbst-)Instrumentalisierung der Menschen als unvermeidbare „Modernisierungseffekte“ interpretiert werden: „Hochdifferenzierte Gesellschaften [seien] aus Effektivitätsgründen darauf angewiesen …, dass ihre Mitglieder einen strategischen Umgang mit sich und anderen erlernen“. (A. Honneth, Verdinglichung. Eine erkenntnistheoretische Studie, Frankfurt/M. 2005, S. 28)
[38] L. Kofler, Technologische Rationalität im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1971, S. 63.
[39] G. Duby, Geschichte der Ideologien, in: ders.: Wirklichkeit und höfischer Traum. Zur Kultur des Mittelalter, Westberlin 1986, S. 33.
[40] H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1967; L. Kofler, Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967.
[41] P. Bourdieu, Für eine neue europäische Aufklärung, in: UTOPIE kreativ, H. 139/2002, S. 391.
[42] J. Bauer, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, München 2011, S. 17.
[43] Vgl.: E. Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M. 1972.
[44] Vgl.: W. Seppmann, Die verleugnete Klasse. Zur Arbeiterklasse heute, Berlin 22012.
[45] T. Eagleton, Ideologie. Eine Einführung, Stuttgart und Weimar 1993 , S. 4.