1. Die USA stützen den Wandel
Die arabischen Revolten, die im Dezember 2010 in Tunesien begannen, dann auf Ägypten und schließlich auf nahezu den gesamten nordafrikanisch-nahöstlichen Raum übergriffen, kamen für viele Beobachter überraschend. Dennoch waren sie überfällig. Auch hatten viele Anzeichen darauf hingedeutet, dass gerade diese beiden Länder in eine revolutionäre Situation geraten waren: In Ägypten hatten die Kifaya-Bewegung (kifaya: es reicht) und zahlreiche spontane, z. T. massive Streiks gezeigt, dass polizeistaatliche Repression nicht mehr ausreichte, um der Lage Herr zu werden. Ebenso in Tunesien, wo 2008 Streiks und auf die Repression folgende Unruhen in den südtunesischen Phosphatminen das Regime herausgefordert hatten. Und es waren die soziale Situation, die Perspektivlosigkeit und die repressive Willkür der Staatsmacht, die zur Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis geführt hatte, die zum Auslöser der Proteste und Unruhen wurde. Die Eskalation der Gewalt gegen friedliche Demonstranten löste dann in Tunesien jene nationale Bewegung aus, die am 14. Januar in der Flucht des obersten Diebes der Nation Zin Abdin Ben Ali endete und Mubarak den Weg zeigte.
Der Sturz der Diktatoren und Kleptokraten Ben Ali und Mubarak signalisierte eine Zeitenwende: Die USA und der Westen ließen ihre jahrzehntelangen Freunde (wie später auch Saleh im Jemen und Qadhafi) wie heiße Kartoffeln fallen – mit der Ausnahme Frankreichs, das noch zwei Tage vor der Flucht Ben Alis dem tunesischen Despoten seine Spezialkräfte zur Aufstandsbekämpfung angeboten hatte. Eine neue und eigene Qualität zeigten die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten: Sie blieben trotz brutaler Repression gewaltfrei, die Armeen in beiden Ländern verzichteten letztlich auf Gewaltanwendung. Verblüffend schien die Haltung der USA, die schon sehr früh ihre Unterstützung für die Völker zum Ausdruck brachten, die Freiheit und Würde forderten: So erklärte der Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibb, bereits am 31. Januar, dass „den legitimen Forderungen des ägyptischen Volkes nach Versammlungs- und Redefreiheit stattgegeben werden“ müsse.[1] Die These, dass die Obama-Administration den Wandel wollte, belegen auch die Äußerungen von Philip Crowley, Sprecher des US-Außenministeriums bei einem Besuch in Algier am 18. Februar 2011:[2] „Der Wandel ist notwendig. … Wir haben nicht gezögert, die universellen Rechte des algerischen Volkes zu betonen. Wir haben dasselbe in Tunesien getan … wir sind dabei, dasselbe in der ganzen Region zu tun. Wir ermutigen diesen Wechsel und wir wollen einen friedlichen Wandel.“ Die westlichen Medien von CNN bis ZDF, von New York Times bis FAZ stimmten in den revolutionären Jubel ein und merkten offenbar nicht, dass sie damit zugleich das rassistische Paradigma vom „Kampf der Kulturen“ des Samuel P. Huntington zu Grabe trugen, der ja den Muslimen Demokratie-Unfähigkeit bescheinigt hatte.
Es stellt sich die Frage, ob dieser Wandel in der Position des Westens einen radikalen Politikwechsel darstellt oder ob er nicht in subtiler Weise eine Kontinuität der US-amerikanischen und westlichen Außenpolitik ausdrückt. Hatte nicht schon George W. Bush erklärt, er wolle den Mittleren Osten demokratisieren? Offiziell galten die Kriege in Irak und auch in Afghanistan diesem Ziel – auch wenn die wahren Gründe die Kontrolle des Öl- und Gasreichtums der Region waren.[3] Die Kriege sind verloren, ihr Ergebnis sind zwei zerfallene Staaten. Zugleich signalisieren sie aber auch die demütigende Niederlage der einzigen nach Ende des Kalten Krieges verbliebenen Supermacht. Einen Politikwechsel gegenüber dem arabisch-islamischen Raum hatte Präsident Obama schon in seiner berühmten Rede am 4. Juni 2009[4] in Kairo zum Ausdruck gebracht, die er mit einem feierlichen „assalamu aleikum“ begann und in der er ankündigte, die Beziehungen zwischen den USA und diesem Teil der Welt müssten hinfort gekennzeichnet sein „von gegenseitigem Respekt … (und) den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Toleranz und der Würde aller Menschen.“
In der Tat, in einem flammenden Appell hatte der neokonservative Kolumnist der Washington Post Charles Krauthammer am Ende der Bipolarität die US-Politik zur Wahrnehmung einer einzigartigen Chance aufgerufen; „Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit .... ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham (unshamed) die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie auch durchzusetzen”.[5] Dieser Augenblick scheint vorbei zu sein, und der Appell des Friedensnobelpreisträgers 2009 in Kairo für eine gerechte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts blieb zwar folgenlos, stellt aber dennoch ein Signal dar. Obama schien die Stimmungslage der Region verstanden zu haben: Mehrfach benutzte er in seiner Rede das Wort „Würde“. Die Rede muss verstanden werden als Anerkennung der gescheiterten Politik seines Amtsvorgängers: Zwei Kriege haben die USA in der Region verloren, anti-amerikanische Ressentiments in der Region waren noch nie so groß. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat auch die militärischen Kapazitäten der Führungsmacht zu erodieren begonnen: Aufgrund mangelnder Finanzierungsmöglichkeiten mussten die USA aus dem weltweit geplanten Anti-Raketen-Programm, dem einzigen transatlantischen Rüstungsprojekt MEADS (Medium Extended Air Defense System) aussteigen;[6] erstmalig seit zehn Jahrzehnten wächst der Militär-Etat nicht mehr, sondern muss – wenn auch geringe – Kürzungen hinnehmen; in ihrer jüngsten Nationalen Sicherheitsstrategie (Mai 2010)[7] erklären die USA, dass sie hinfort nicht mehr zwei Kriege gleichzeitig führen werden, sondern nur noch einen.
Dieser Strategiewechsel zeigt den endgültigen Abschied der USA von dem noch für die Bush-Administration bestimmenden Projekt des Neuen Amerikanischen Jahrhunderts (PNAC), das – ganz im Sinne Krauthammers – amerikanische Macht ausschließlich auf militärische Überlegenheit zu bauen suchte.[8] Die (nicht nur materiellen) Ressourcen für eine solche Politik sind schlicht nicht mehr vorhanden, wie Zbigniew Brzezinski in seinem jüngsten Buch detailliert nachweist.[9] Strategiewechsel aber bedeutet nicht Änderung der Politikziele: Der Applaus für die Revolten wurde begleitet von engen Kontakten zwischen den USA und der jeweiligen Militärführung in Tunesien und Ägypten: Der Oberkommandierende der tunesischen Armee, Rachid Ammar, besuchte mehrfach die US-Botschaft in Tunis, bevor er seinem Präsidenten den Befehl auf die Demonstranten zu schießen, verweigerte. Und sein ägyptischer Amtskollege Sami Anan weilte auf dem Höhepunkt der Krise mehrere Tage in Washington.[10] Das Militär beider Länder wurde so zum Garanten der Kontinuität, während die verhassten Symbole der Macht, Ben Ali und Mubarak, verjagt wurden. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Militär in Ägypten rd. 40 Prozent der Ökonomie kontrolliert und jährlich eine Militärhilfe in Höhe von rd. 1,3 Mrd. US-$ erhält.[11] Ziel des Wandels musste es also sein, durch ein Mehr an politischem Pluralismus und Pressefreiheit ein Ventil zu öffnen und mehr Rechtsstaatlichkeit zu schaffen, die zugleich ausländische Investitionen vor den korrupten Praktiken der habgierigen Präsidenten-Familien schützen sollte.
2. Der Krieg in Libyen: Eine politische Wende?
Von Beginn an unterschied sich die libysche Revolte von den Aufständen in Tunesien und Ägypten: Für den 16. Februar 2011 hatten Oppositionelle zu einem „Tag des Zorns“ aufgerufen. Die Demonstranten schwenkten die rot-schwarz-grüne Fahne mit Halbmond und Stern des von Qadhafi abgesetzten Königs Idriss I., Oberhaupt der konservativen islamischen Senussiya-Bruderschaft. Der britische Imperialismus hatte Idriss 1951 auf den Thron des nach Ende des italienischen Kolonialismus geschaffenen Libyen gesetzt. Schon am zweiten Tag nach den ersten Demonstrationen griffen Teilnehmer Polizeistationen und Kasernen an und bewaffneten sich. Die Revolte vollzog sich in einer Stammesgesellschaft, die nie zu einem Nationalbewusstsein gefunden hatte: Qadhafis Putsch gegen Idriss am 1. September 1969 war auch die Machtübernahme der tripolitanischen Stämme über die des Ostteils des Landes gewesen, und in dem Maße, in dem Qadhafis Herrschaft erodierte, stützte er sich immer mehr auf die tripolitanischen Stämme, die Verteilung der Einnahmen aus der Öl- und Gasrente wurde immer ungerechter. So wurden Benghazi und die Stämme des Ostens zum Träger des Aufstands. Dass die Staatsmacht Waffengewalt gegen die gewaltsamen Aufstände einsetzte, entspricht der Logik staatlichen Handelns.[12]
Schon am 10. März 2011 anerkannte Frankreich den in Benghazi gebildeten „Nationalen Übergangsrat“ als „legitime Vertreterin des libyschen Volkes“ – obwohl nicht einmal die Hälfte seiner Mitglieder bekannt war. Nicolas Sarkozy kündigte die Entsendung eines Botschafters an und schlug eine militärische Intervention vor.[13] Am gleichen Tage versuchte er, das Thema auf die Tagesordnung des Treffens der Verteidigungsminister der NATO in Brüssel zu setzen. Die NATO allerdings widersetzte sich einer Intervention, da ein Mandat des UN-Sicherheitsrats ebenso fehle wie „das Einverständnis der Nachbarstaaten“. Am 12. März beschloss die Liga der Arabischen Staaten, „den Sicherheitsrat zu veranlassen, seine Verantwortung wahrzunehmen, indem er ein Flugverbot über den libyschen Luftraum verhängt, um die libysche Bevölkerung zu schützen.“[14] Algerien, Mauretanien und Syrien stimmten gegen diese Resolution, Libyen war von den Beratungen ausgeschlossen worden. Auf der Grundlage dieser Resolution beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17. März 2011 die Resolution 1973, die die Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung verfügte. Die Haltung der USA war bis zum Vortag nicht klar gewesen, wandte sich doch vor allem Verteidigungsminister Gates massiv gegen jede Art militärischer Intervention, da sie zwangsläufig zu Angriffen gegen libysche Militäreinrichtungen und so zu einem veritablen Krieg führen müsse.[15]
Seit ihrer Gründung am 22. März 1945 hatte sich die Arabische Liga durch ihre Inaktivität, ja Unfähigkeit ausgezeichnet, Konflikte innerhalb dieses regionalen Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zu lösen. Hauptgrund dafür war die Unvereinbarkeit der politischen Systeme, bestand sie doch sowohl aus reaktionären Monarchien religiöser Legitimierung, wie aus republikanischen Staaten, die sich teilweise auf sozialistische Prinzipien beriefen, wie aus bürgerlich-republikanischen wie monarchischen Systemen. Sie alle pflegten während des Kalten Krieges Allianzen mit der einen oder anderen Supermacht. Qadhafis unkonventioneller Politikstil, seine Besessenheit von Einigungsbestrebungen mit den Nachbarstaaten, sein politisches System, das offiziell auf den Volkskomitees basierte, die von ihm durchgesetzten Frauenrechte machten Libyen zu einer Provokation für die reaktionären Despotien der arabischen Halbinsel. Endlich schienen sie eine Handhabe zu finden, um sich des libyschen „Führers“ zu entledigen. Und Frankreich eilte ihnen zur Hilfe, „um einem Volk in Todesgefahr zu Hilfe zu kommen … im Namen des Weltgewissens.“[16] In Wirklichkeit verfolgte Frankreich klare Interessen: Qadhafi hatte es in den letzten Jahren verstanden, die Afrikanische Union zu einem wichtigen internationalen Akteur zu machen.[17] Das wachsende Selbstbewusstsein der Afrikaner gefährdete direkt das zutiefst korrupte neo-koloniale System der Françafrique.[18] Bereits am 3. April unterzeichnete Frankreich ein Abkommen mit dem Nationalen Übergangsrat, demzufolge Frankreich hinfort zu Vorzugspreisen 35 Prozent des in Libyen geförderten Öls erhalten sollte.[19]
Nachdem die Resolution 1973 des Sicherheitsrates angenommen war, unternahmen die westlichen Staaten ebenso wie der Generalsekretär der UN alles, um eine Deeskalation des Konflikts zu verhindern: Obwohl die libysche Führung die Resolution akzeptiert hatte und Beobachter der UN zwecks Überwachung der Einhaltung des Waffenstillstands durch die libysche Armee eingeladen hatte, erklärte Ban Ki Moon in klarer Verletzung des Resolutionstextes, „Ghaddhafi hat seine Legitimität verloren. Er kann nicht an der Macht in Libyen bleiben. Was auch immer geschieht: Er muss verschwinden.“[20] So begann der Krieg am 19. März 2011 mit einem französischen Angriff auf eine libysche Panzerkolonne in Benghazi, britische und französische Kriegsschiffe beschossen Ziele an Land mit Raketen. Bereits dieser erste Angriff hatte also nichts zu tun mit der Einrichtung einer „Flugverbotszone“. Die Resolution 1973 wurde von der „Koalition der Willigen“ vom ersten Augenblick an zur Makulatur gemacht.
Richtig ist, dass die USA sich vom ersten Tag des Krieges an beteiligten, zugleich unternahmen sie große Anstrengungen, um die NATO zur Übernahme des Kommandos zu bewegen, und der amerikanische Generalstabschef erklärte bereits am 31. März, dass die USA ihre militärischen Aktivitäten am 3. April einstellen würden[21] - was dann allerdings nicht geschah. An diesem 31. März übernahm die NATO das Kommando der Operationen. Sowohl die Türkei wie zahlreiche andere Mitgliedsstaaten widersetzten sich anfänglich der Intervention. Der Führungsmacht gelang es nicht, das Bündnis geeint in den Krieg zu führen. Schließlich nahmen exakt 14 der 28 Mitgliedstaaten des Bündnisses aktiv an der Koalition teil.[22] Die beteiligten Nicht-NATO-Staaten waren Jordanien, Qatar, Schweden und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Deutschland beteiligte sich nicht an den militärischen Aktionen, sieht man von der Präsenz zweier Stabsoffiziere im Oberkommando ab. Damit folgte Deutschland seinem Verhalten im UN-Sicherheitsrat, wo es sich gemeinsam mit Brasilien, China, Indien und Russland bei der Abstimmung über die Resolution 1973 enthalten hatte. Wegen dieses Verhaltens ist viel Tinte geflossen. Erstmalig hatte Deutschland den USA und dem Westen seine bedingungslose Gefolgschaft verweigert. Die deutsche Enthaltung ist Ausdruck der nach der deutschen Einigung langsam aber endlich erreichten vollen Souveränität: Deutschland hatte in den letzten Jahren eine aktive, auf die Sicherung von Rohstoffen orientierte Politik gerade in Afrika entwickelt. Qadhafi genoss vor allem seitens der afrikanischen Staaten große Sympathien. Im Augenblick der Abstimmung war keineswegs absehbar, wie das Abenteuer ausgehen würde. Deutschland verhielt sich als „normaler“ Staat, der ausschließlich seine nationalen Interessen verfolgt – unabhängig von den Alliierten und „Freunden“. Auch dieses Verhalten unterstreicht die hier vertretene These: Die USA haben den Zenith ihrer Hegemonie überschritten.
3. Die Konterrevolution der Golf-Monarchien
In der Vorbereitung des Krieges gegen Libyen spielte der qatarische TV-Sender mit seinem arabisch- und englisch-sprachigen Programm eine zentrale Rolle. Dieser Sender hatte das Quasi-Monopol der Berichterstattung. Seine Reportagen wurden, oft ohne jede Überprüfung, von den westlichen Sendern übernommen. Es war al jazeera, der die Behauptung von Massakern durch die Armee Qadhafis ebenso verbreitete wie die Behauptung, dieser habe seine Truppen mit Potenzmitteln versorgt, um Massenvergewaltigungen durchführen zu lassen. Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Moreno Ocampo, zögerte nicht, diese Anklagen zum Gegenstand seines internationalen Haftbefehls gegen Qadhafi und seine Familienmitglieder zu machen.[23] Die Anschuldigungen sind inzwischen durch einen Untersuchungsbericht von amnesty international widerlegt.[24]
Der Pulverdampf des Krieges in Libyen diente zugleich dazu, die Menschenrechtsverbrechen zu verdecken, die Saudi-Arabien und die Staaten des Golf-Kooperationsrates in Bahrein begingen, als sie die dortige Protestbewegung brutal niederschlugen. Jenseits des Ziels, jeden Protest und vor allem jede Demokratie-Bewegung in der arabischen Golfregion zu verhindern, die die absolutistischen Herrscherhäuser bedrohen könnten, galt dies auch als Warnung an die vorwiegend schiitische Bevölkerung Saudi-Arabiens selbst,[25] die vor allem die Ölförderungsgebiete besiedelt. Dort hatte es seit 2009 mehrere Aufstände gegeben, die gleichfalls brutal unterdrückt wurden. Die Diskriminierung dieser seit Jahrhunderten ansässigen, aber aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit unterprivilegierten Bevölkerungsanteile wurde von offizieller Seite mit iranischer Agitation in Verbindung gebracht und erhielt so eine explosive internationale Dimension: Die Staaten des Golf-Kooperationsrates präsentieren sich damit als (letzte) verlässliche Verbündete der USA … und Israels.
Mit Erfolg hatte Saudi-Arabien diese Rolle bereits im Jemen gespielt, wo es die Kämpfe um Sturz und Nachfolge des Diktators Saleh erfolgreich unter Kontrolle hielt. Dieses ärmste Land der Arabischen Liga ist von höchster strategischer Bedeutung, kontrolliert es doch am Bab Mandab den Ausgang aus dem Roten Meer zum Indischen Ozean. Mit der Insel Socotra besitzt es ein weiteres strategisches Faustpfand im Dreieck mit Djibouti und Diego Garcia. Die Insel wird derzeit zu einem Stützpunkt der US Air Force ausgebaut, auf dem auch Langstreckenbomber landen können.
Neben der politischen Nutzung der strategischen Positionen am Golf geht es den Monarchien der Halbinsel auch um die Vernichtung der letzten säkularen Regime des arabischen Raums: Nach den Wahlgewinnen der Islamisten in Marokko, Tunesien und Ägypten stellt – nach Libyen – der Sturz Assads in Syrien ein altes und wichtiges Ziel dar. Darüber hinaus wird durch den Verlust seines einzigen Verbündeten die Position Teherans geschwächt, das sich immer unverhohleneren Kriegsdrohungen Israels ausgesetzt sieht. In grotesker Weise gelingt es Saudi-Arabien, das wie kein anderes Land mit seinem archaisch-islamischen System die Menschenrechte täglich verletzt, sich mit Applaus der westlichen Medien an die Spitze der Menschenrechts- und Demokratie-Verteidiger im Nahen Osten zu setzen.
Die Fernsehstationen al jazeera und (in geringerem Maße) der saudische Sender al arabiya bedienen nicht nur die arabische Welt, sondern in zunehmendem Maße auch die westlichen Medien, die diesen Stationen hohe Glaubwürdigkeit zubilligen. Auf diplomatischer Ebene agiert vor allem Qatar. Mit einer Bevölkerung von rd. 300.000 Menschen hat Qatar das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Seine Gas-Reserven sind wahrscheinlich die größten der Welt. Die qatarische Diplomatie hat sich in der Vergangenheit ein großes Prestige erworben durch Vermittlungsaktionen im Jemen, zwischen Äthiopien und Eritrea, in Indonesien (Aceh), Somalia, Darfur und im Libanon. Sie hatte entscheidenden Anteil an der „Versöhnung“ zwischen der palästinensischen Fatah und Hamas, die afghanischen Taliban sind im Begriff, in der Hauptstadt Doha ein Verbindungsbüro zu eröffnen. Zugleich verfügen die USA in Qatar über eine wichtige Militärbasis, von der aus die Einsätze in Irak und Afghanistan koordiniert werden. Qatar hatte als zweiter Staat nach Frankreich den libyschen Nationalen Übergangsrat als legitime Vertretung des libyschen Volkes anerkannt – und im Jahr 2022 findet im Emirat die Fußballweltmeisterschaft statt.
Doch Qatar ist auch, neben Saudi-Arabien, der wichtigste Geldgeber nicht nur der islamistischen Bewegungen in Tunesien und Ägypten, und zwar nicht nur der Muslim-Brüder und der tunesischen en-nahda, sondern auch der ägyptischen salafistischen Partei hizb en-nour (Partei des Lichts) und der tunesischen (noch nicht offiziell zugelassenen) hizb at-tahrir (Partei der Befreiung). Der Emir von Qatar und das saudische Königshaus fordern unmissverständlich eine Militär-Intervention in Syrien, und es ist mehr als wahrscheinlich,[26] dass Qatar die syrischen Rebellen mit Waffen beliefert und das Eindringen libyscher islamistischer Kämpfer[27] über die irakische und türkische Grenze nach Syrien organisiert.
4. Die Islamisten – letzter Schutzwall der „Freien Welt“?
Seit Beginn der Revolten hatte Qatar die arabischen Revolten unterstützt – allerdings nicht diejenigen in den Golfstaaten. Der TV-Sender al jazeera wurde zum herausragenden Propaganda-Organ dieser Politik. Seit den 90er Jahren hatte das Emirat verschiedenen islamistischen Gruppen politisches Asyl gewährt und ihnen – einschließlich al qa’eda – eine wichtige Informationsplattform verschafft. Allerdings stand die Sendeanstalt auch säkularen Gruppen und Organisationen offen, die die Verletzung der Menschenrechte in zahlreichen arabischen Staaten anprangerten, weshalb der Empfang der Sendungen gestört, Büros des Senders in zahlreichen Staaten geschlossen wurden. Emir Hamad bin Yassin al Thani präsentierte sich aber letztlich immer als verlässlicher Freund des Westens. Zugleich erklärte er öffentlich sein Verständnis nicht nur für die ägyptischen Muslim-Brüder, sondern auch für die Salafisten von al qa’eda.[28] Während die Saudis sich mit den Muslimbrüdern überwarfen, gelang es dem Emir von Qatar, enge Beziehungen zu islamistischen Bewegungen jedweder Art zu unterhalten und hierdurch seinen Einfluss auf den großen saudischen Bruder zu stärken.
Unter saudisch-qatarischer Führung ist die inzwischen von den Golfstaaten und den in Marokko und Tunesien die Regierungen bestimmenden islamistischen Kräften beherrschte Arabische Liga nach fast siebzigjähriger politischer Handlungsunfähigkeit zu einem bemerkenswerten Akteur auf der internationalen Tribüne aufgestiegen. Gegenüber dem Westen präsentiert sich diese Allianz nicht nur als verlässlicher Energielieferant, sondern auch als treuer Alliierter sowohl gegen den Iran wie gegen unerwünschte Entwicklungen in den übrigen arabischen Staaten. Als Schutzmächte der islamistischen Bewegungen positionieren sie sich als Garanten der existierenden politischen und ökonomischen Ordnung gegen sozialistische und sozialdemokratische Tendenzen in den säkularen Parteien, die die westliche Dominanz infrage stellen könnten. Diese Situation könnte erklären, weshalb die islamistischen Parteien, die in Marokko und weitgehend in Tunesien und vielleicht bald in Syrien an der Macht sind, plötzlich im Westen insgesamt das Etikett „gemäßigt“ erhalten haben. Der begeisterte Empfang, der dem tunesischen Ministerpräsidenten Hamdi Jebali beim Weltwirtschaftsforum in Davos bereitet wurde und die Wahl von Rachid Ghannouchi, dem geistigen Führer der tunesischen en-nahda, zu einem „der hundert wichtigsten globalen Denker des Jahres 2011“ durch die politikwissenschaftliche US-Zeitschrift Foreign Affairs[29] deuten in diese Richtung. Immerhin hatte derselbe Ghannouchi während seines zwanzigjährigen Exils in London nicht ein Mal ein Einreisevisum in die USA erhalten.
Der mit den bejubelten arabischen Revolten eingeleitete regime change light entpuppt sich so als geschicktes, aber zugleich verzweifeltes Manöver: Die nicht mehr direkt oder durch zwischengeschaltete Diktatoren haltbare Hegemonie wird zumindest teilweise ersetzt durch reaktionäre und anachronistische Vasallen. Indem sie aber konsequent eine neoliberale Politik durchsetzen und so die Verschärfung der sozialen Gegensätze betreiben, untergraben sie die Legitimität der jüngst an die Macht geratenen islamistischen Parteien. Die Völker, die die Diktatoren vertrieben, haben die Revolution noch vor sich.
[1] http://www.defense.gov/news/newsarticle.aspx?id=62636 [19-02-11].
[2] Interview mit der algerischen Tageszeitung Liberté, 19. Februar 2011.
[3] Werner Ruf, Afghanistan im Fadenkreuz der Geostrategie; in: spw – Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, Nr. 176 (1/2010), S. 32 – 37.
[4] http://www.whitehouse.gov/the-press-office/remarks-president-cairo-university-6-04-09 [04-03-12]
[5] Charles Krauthammer, The Unipolar Moment; in: Foreign Affairs, 1/1991, S. 23.
[6] FAZ, 15. Febr. 2011.
[7] http://www.whitehouse.gov/sites/default/files/rss_viewer/national_security_strategy.pdf [12-06-10].
[8] Rebuilding America’s Defenses. Strategy, Forces and Resources for a New Century. A Report of the Project for the New American Century, Sept. 2000. http://www.newamericancentury.org/RebuildingAmericasDefenses.pdf ]13-10-2000].
[9] Zbigniew Brzezinski, Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power, New York 2012, insbes. S. 37 – 74.
[10] http://www.libertarianrepublican.net/2011/02/sami-enan-to-take-over-for-mubarak.html [19-02-11].
[11] http://www.telegraph.co.uk/finance/financetopics/8290133/Most-US-aid-to-Egypt-goes-to-military.html [04-04-12].
[12] Siehe dazu und zu den Hintergründen des Krieges: Andreas Buro, Clemens Ronnefeldt, Der NATO-Einsatz in Libyen ist (Öl)-interessengeleitet, http://www.aixpaix.de/autoren/buro/libyen2.html [10-05-11].
[13] http://www.tagesschau.de/ausland/libyen548.html [10-03-11].
[14] http://www.iiss.org/publications/strategic-comments/past-issues/volume-17-2011/march/options-in-libya-after-un-vote/ [05-03-12].
[15] http://www.huffingtonpost.com/2011/03/12/arab-league-asks-un-for-libya-no-fly-zone_n_834975.html [05-03-12].
[16] Libération, 24. August 2011.
[17] Denis M. Tull, Wolfram Lacher, Die Folgen des Libyen-Konflikts für Afrika, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, März 2012.
[18] Einen guten Einstieg hierzu liefert in deutsche Sprache Bernhard Schmid, Frankreich in Afrika, Münster 2011.
[19] Libération, 24. August 2011.
[20] The Sidney Morning Herald, 20-03-11: http://news.smh.com.au/breaking-news-world/gaddafi-has-lost-all-legitimacy-un-20110320-1c1q6.html [01-03-12].
[21] Focus, 1. April 2011. http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/libyen-usa-beenden-kampfeinsatz-am-sonntag_aid_614133.html [05-03-12].
[22] Dies waren: Belgien, Bulgarien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Niederlande, Norwegen, Rumänien, Spanien, die Türkei Großbritannien und die USA.
[23]
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,770808,00.html
[28-06-11].
http://www.ndtv.com/article/world/prosecutor-says-gaddafi-ordered-mass-rape-111156
[05-03-12].
[24] http://www.independent.co.uk/news/world/africa/amnesty-questions-claim-that-gaddafi-ordered-rape-as-weapon-of-war-2302037.html [05-03-12].
[25] Steinberg, Guido: Ein Koloss auf tönernen Füßen. http://de.qantara.de/wcsite.php?wc_c=3000 [05-03-12].
[26] Guido Steinberg, Qatar and the Arab Spring, Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, SWP Comments 7. Februar 2012.
[27] Aus der Cyrenaika (Ost-Libyen) kam die zweitgrößte Zahl der arabischen Afghanen, also jener Freiwilligen, die in Afghanistan zunächst gegen die Sowjetunion, dann gegen die USA kämpften. Unter Qadhafi wurden sie brutal verfolgt.
[28] Guido Steinberg, Qatar and the Arab Spring, a.a.O.
[29]http://www.foreignpolicy.com/articles/2011/11/28/the_fp_top_100_global_thinkers?page=0,3 [01-01-12].