Die Form
Der Untertitel des Buches „Der Implex“ von Barbara
Kirchner und Dietmar
Dath1 heißt „Sozialer Fortschritt. Begriff
und Geschichte“, handelt also von
Gesellschaftlichem. Bevor Soziologen, Politologen, Philosophen,
Ökonomen
und Historiker sich damit befassen, sollten sie eine Warnung zur
Kenntnis
nehmen, die gleich im ersten Satz steht. Sie lautet:
„Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Monographie, kein
Manifest, keine
philosophische Abhandlung.“
Das überrascht. Tatsächlich wird 835 Seiten lang
über Gesellschaft, Politik,
Kunst, Philosophie räsoniert. Das Buch hat Anmerkungen,
Literaturverzeich-
nis und Register wie ein wissenschaftliches Werk.
Dennoch werden Spezialistinnen und Spezialisten verschiedener
Disziplinen
sich aufregen. Sie müssen den durchaus zutreffenden Eindruck
gewinnen, als
seien die Erträge ihrer Fächer nur Material zu einem
Zweck, der außerhalb
liegt. Ergebnisse werden abgegriffen, oft nur im Namedropping
erwähnt, Lob
und Tadel werden verteilt, aber zuweilen im Detail nicht
begründet. Hinterher
erscheinen die Fächer geplündert, und die Lieferanten
fragen sich, was
schließlich daraus neu erstellt werden soll.
Kirchner und Dath antworten: „Man könnte sagen, dass das
Buch eine Art
Roman in Begriffen ist: Es begleitet die Schicksale von Versuchen,
die Welt
besser einzurichten, als die neuzeitlichen Menschen sie vorfanden,
als sie an-
fingen, neuzeitliche Menschen zu sein.“
Der wissenschaftliche Aufwand scheint ein literarisches Ziel zu
haben: er
trägt Material zu einem Roman über ein gesellschaftlich
relevantes Thema
herbei. Kirchner und Dath versuchen sich – einzeln und zu
zweit – seit über
einem Jahrzehnt im erzählenden Genre. Barbara Kirchner schrieb
den Roman
„Die verbesserte Frau“ (2001), gemeinsam mit Dietmar
Dath verfasste sie
„Schwester Mitternacht“ (2002). Es handelt sich um
Thriller mit Science Fic-
tion, auch mit gezielt eingesetzter Pornographie.
Es sind zugleich politische Texte. Thema ist die Einfunktionierung
von Wis-
senschaft in Macht und Herrschaft. Ein programmatisches Gerüst
wurde 2008
in der Programmschrift „Maschinenwinter“ von Dietmar
Dath sichtbar. Orien-
tiert an Marx und Saint-Simon hält er sich nicht damit auf,
Wissenschaft und
Technik als instrumentelle Vernunft zu verbellen, sondern sieht sie
als durch
eine verkehrte Gesellschaft gefesselte Emanzipations-Potentiale.
Der letzte
Satz lautet: „Die Menschen müssen ihre Maschinen
befreien, damit die sich
revanchieren können.“
Das Manifest „Maschinenwinter“ hätte politisch
diskutiert werden müssen.
Dies geschah nicht. Zu den Gründen mag gehören, dass ein
gleichzeitiger lite-
rarischer Erfolg der Debatte über die Broschüre im Weg
lag: Dietmar Daths
Roman „Die Abschaffung der Arten“, ebenfalls 2008, kam
auf die Shortlist
des Deutschen Buchpreises, landete nur ganz knapp hinter Tellkamps
„Der
Turm“, wurde in den Feuilletons, wie bei ihm üblich,
kontrovers, aber breit
besprochen, ist inzwischen auch ins Englische übersetzt und
festigte seinen
Ruf als Dichter. Die linken Milieus, von denen man eine Debatte
über „Ma-
schinenwinter“ hätte erhoffen können, blieben
stumm. Dabei ist „Die Ab-
schaffung der Arten“ die fiktionale Fortsetzung dieser
Streitschrift: der Ro-
man zeigt, was passiert, wenn die Maschinen nicht befreit werden.
Er ist die
Dystopie einer transhumanen Gesellschaft.
Indem Kirchner/Dath ihr Buch als eine Art Roman vorstellen, haben
sie sich
für das formloseste literarische Genre entschieden und sich so
eine sehr weit-
gehende Lizenz verschafft. Reicht sie aus? Zu einem Roman
gehören entwe-
der – konventionell – mindestens ein Plot und
ausgearbeitete Charaktere oder
die vielfältigen neuen Formen, die das zwanzigste Jahrhundert
hervorgebracht
hat. Die opulente Großerzählung des 19. Jahrhunderts ist
nicht tot, sie wird
immer wieder neu geschrieben. Zugleich wurde sie aufgesprengt:
irgendwo
finden sich in dieser Geschichte ihrer Hybridformen James Joyce,
Arno
Schmidt und der Nouveau Roman. Dietmar Daths 1000-Seiten-Roman
„Für
immer in Honig“ (2005, 2. Auflage 2008), der eine andere
Veränderung der
alten Gattung veranstaltete, ist inzwischen Kult in der Szene um
den Berliner
Verbrecher Verlag und den von Barbara Kirchner gegründeten
Freiburger
Implex-Verlag. Aber jetzt findet ein weiterer Wechsel innerhalb des
Genres
statt: statt Personen werden Begriffe bewegt, anstelle einer
Handlung haben
wir Argumentationsabläufe, deren Verzweigungen, Widerreden und
Über-
windung. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen Abenteuerroman
im Kopf.
Man hört eine Art Rap-Rhythmus und versucht sich das, was da
passiert, et-
was hilflos zu dolmetschen: es sei wohl ein Poproman in
Begriffen.
Aber das ist dann wohl schon Rabulistik, die darüber
hinwegtäuscht, dass es
eben doch kein Roman ist. Also sollte eine andere, zutreffendere
Bezeichnung
gefunden werden. Kirchner/Dath sind sich offenbar ebenfalls nicht
ganz si-
cher. Nicht schlankwegs ein Roman in Begriffen liege hier vor,
sondern „eine
Art Roman in Begriffen“.
Ist es ein Essay? Ja und nein. Dafür spricht, dass es sich
unverkennbar um Re-
flexionsprosa handelt. Dietmar Dath hat sich in seinen
journalistischen Arbei-
ten als ein Meister dieses Fachs erwiesen. Wer genau hinsieht,
entdeckt auch
im „Implex“ die kleine Form. Einerseits ist das Buch
eine Abbreviatur von
Überlegungen, die über seinen Rahmen weit hinausgehen und
noch zur Auflö-
sung entweder durch das Autoren-Duo oder durch andere anstehen.
Anderer-
seits setzt es sich selbst wieder aus Abbreviaturen, die wie
Aphorismen wir-
ken, zusammen. Diese können ihrerseits recht lang sein. Sie
konzentrieren,
was andernorts schon gedacht wurde, von Kirchner/Dath neu erwogen
wurde
und nun einem vorläufig abschließenden Urteil
zugeführt werden soll. Neh-
men wir als Beispiel die Seiten 641/642. Hier wird eingangs die
Ansicht kriti-
siert, das Internet öffne eo ipso das Reich der Freiheit; sie
wird dann mit Illu-
sionen über den Aufstieg Chinas in Analogie gesetzt, wobei auf
eineinhalb
Seiten Argumente gereiht werden, die diese Phantasien widerlegen
sollen, um
in die Bemerkung zu münden: „ – das Internet,
wollen wir sagen, ist eine Art
China“. Alles das geschieht in einem einzigen Satz von 37
Zeilen, der dann
aber noch gar nicht endet, sondern nach einem Doppelpunkt noch
weitere
zwölf Zeilen aufbringt. In „Z.“ Nr. 89, S. 138,
haben wir eine Sequenz aus
„Der Implex“, S. 630/631, zitiert, in der – dort
wiederum auf 37 Zeilen – ein
Abriss neurotischer Aspekte Marxschen und marxistischen Herangehens
an
den Kapitalismus gegeben wird. Das sind Groß-Aphorismen und
Klein-
Essays, in denen da und dort mehr gesagt werden mag, als die
Autorin und der
Autor als jeweils im Speziellen Fachfremde wissen, in denen sie
aber Teile ih-
res Publikums animieren, eigene, vielleicht sogar genauere
Vorkenntnisse zu
mobilisieren, so dass die entsprechende Passage zur
Projektionsfläche wird.
Wer den Band einmal als Ganzen gelesen und sich das Interesse an
seinem
Thema erhalten hat, wird die zweite Lektüre kleinteilig
vornehmen: die Porti-
onen sollten sich dann auf jeweils einen der 132 Unterabschnitte
beschränken,
vorzunehmen nicht notwendig in der Reihenfolge des
Buchbinders.
Aber ein Band von – mit Register und Literaturverzeichnis
– 880 Seiten ist
dann doch mehr als ein Essay. Es gehört zu einer neuen
Gattung, die im letz-
ten Viertel des 20. Jahrhunderts entstand: eher formlose
Erörterungstexte in
Buchformat an der Grenze von Politik und Literatur. Im
deutschsprachigen
Bereich mag das mit „Öffentlichkeit und Erfahrung“
sowie „Geschichte und
Eigensinn“ von Alexander Kluge und Oskar Negt angefangen
haben. Sie ha-
ben ein breites, damals vor allem jüngeres Publikum auf sich
gezogen, wäh-
rend Historiker der Arbeiterbewegung vor Entsetzen die Hände
über dem
Kopf zusammenschlugen. Globale Aufmerksamkeit erregte
„Empire“ von
Michael Hardt und Antonio Negri. Es fällt auf, dass solche
gesellschaftstheo-
retischen Welterklärungen von Autoren-Paaren geschrieben
werden: vielleicht
ein Eingeständnis, dass ein(e) Einzelne(r) sich damit
übernehmen müsste und
eine Verdoppelung letztlich ebenfalls nicht ausreicht.
Bei „Der Implex“ kommt ein autobiografischer
Gesichtspunkt hinzu. Barbara
Kirchner, mittlerweile Professorin für Theoretische Chemie in
Leipzig, und
Dietmar Dath, im Brotberuf Redakteur bei der „Frankfurter
Allgemeinen Zei-
tung“, arbeiten und denken bereits seit Schulzeiten zusammen
und legen hier
das Ergebnis jahre-, wenn nicht jahrzehntelanger Bemühungen
vor. Insofern
hat das Buch auch Spuren eines sehr alten, aber kaum noch
gebrauchten litera-
rischen Genres, der „confessiones“ (lat.) oder
„confessions“ (frz.). Autobio-
grafische Entwicklungsromane haben einen Helden: den Autor, und
eine
Handlung: sein Leben. Kirchner/Dath verstecken sich nicht hinter
ihrem Ge-
genstand, aber die Heldenrolle besetzen sie anders, es besteht ein
Unterschied
zwischen der erzählenden und der erzählten Person. Sie
bringen sich eher wie
ein Recherche-Team ins Bild. Beobachtungsgegenstand –
gleichsam der Held
– ist der soziale Fortschritt. Die Landschaft, in der er sich
bewegt, ist die mo-
derne Welt und das, was seit der Aufklärung (deren
Anfänge mit ihren eige-
nen zusammenfallen) in ihr steckt: der Implex.
Die Argumentation
Dieser Begriff nun ist ein genialischer, wenn nicht sogar schon
genialer Griff.
Wer das Buch durchgearbeitet hat, dann zu seiner Überschrift
zurückkehrt und
schließlich aus dem Fenster blickt, sucht das überall:
„jene wahrnehmbaren
Spuren des Nichtmehrseienden und Voraussetzungen des
Nochnichtseienden,
die wir Implex nennen.“ (S. 754 f.) In „Der
Implex“ ist nicht „Das Prinzip
Hoffnung“ linear fortgeschrieben, sondern dessen Impuls ist
gebrochen durch
die „Dialektik der Aufklärung“ und dann wieder
aufgeladen durch die Perspek-
tiven weiteren technischen Fortschritts und popkulturelle
Erfahrungen, die
Adorno und Horkheimer perhorresziert hätten und denen auch
Bloch – Kirch-
ner/Dath kritisieren seine Ablehnung des Jazz – nicht immer
gerecht wurde.
Ein häufig gebrauchtes Gegensatzpaar ist – von
Aristoteles entlehnt – Hexis
und Praxis. Erstere meint den zur Gewohnheit gewordenen und als
Habitus
verinnerlichten Zwang der Verhältnisse, letztere folgt bei
Kirchner/Dath der
Norm des sozialen Fortschritts. Dass dieser möglich und
anzustreben sei, le-
sen sie einerseits aus Kämpfen und Ansätzen der
Vergangenheit, andererseits
ist es eine Forderung, nicht ontologisch oder als
Zwangsläufigkeit in der Rea-
lität angelegt, sondern deontisch aus ihr
herauszubringen.
Zentral steht die Figur der Maschinen. Diese sind nicht nur
Gegenstände z.B.
aus Glas, Kunststoff und Stahl, sondern alle von Menschen zur
Bewältigung
ihres Lebens und prinzipiell nie allein, sondern gesellschaftlich
hergestellte
Arrangements, also auch Theorien. Natur bleibt außerhalb und
ist anders als in
rhetorischen Figuren der frühen Aufklärung–
„deus sive natura“ – keine Refe-
renzgröße. Alles, was gesellschaftlich relevant ist, ist
künstlich: Maschine –
Ergebnis von Praxis, zu der es jeweils Alternativen gab und die
erst dann,
wenn eine Entscheidung gefallen ist, zu – vorläufiger
– Hexis wird. Natur ist
kein Sein, aus dem ein Sollen gefolgert werden kann, es gibt nur
von Men-
schen Gemachtes – unbewusst, hinter ihrem Rücken: Hexis,
aus der – bewusst
– in Praxis etwas Anderes hergestellt werden kann.
Das Gedankenexperiment des Buches besteht in der Evaluation von
Ge-
schichte, Gegenwart und Zukunft der Aufklärung in der
praktischen Ab-
sicht des sozialen Fortschritts. Dessen Ziel wird so benannt:
„Auskom-
men, Freiheit, Mitsprache.“ (430, 431, 435) Das klingt
bescheiden – ein
gutes Programm, dem niemand widersprechen wird, aber irgendwie
weni-
ger als „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines
jeden die Be-
dingung für die freie Entwicklung aller ist“ oder auch
nur als „Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit“.
Der Unterschied der Tonlage hat offenbar zwei Gründe:
Erstens: Barbara Kirchner und Dietmar Dath haben eine Gemeinsamkeit
zwi-
schen ihren Unterschieden gesucht. Sie beschreiben sich selbst so:
„Einer der
beiden Köpfe, die sich das Buch zusammen ausgedacht haben,
wäre nicht be-
leidigt, wenn man ihn einen sozialdemokratischen Kopf nennen
würde. Der
andere bevorzugt jüngere und verrufenere Namen. Da diese
beiden nun aber
herausfinden durften, dass sie einander näher sind, als sie
dachten, und sich
beispielsweise herausstellte, dass das, was der sozialdemokratische
der beiden
Köpfe unter Sozialdemokratie versteht, jedenfalls wenig mit
dem zu tun hat,
was die SPD tut und will, ist das Bündnis während der
Arbeit nicht zerbro-
chen, sondern gefestigt worden.“ (15 f.)
Zweitens: Barbara Kirchner und Dietmar Dath, beide Jahrgang 1970,
verste-
hen sich als ideologische Trümmerfrauen. Sie fangen noch
einmal da an, wo
andere – die 1789er, die 1917er und die Achtundsechziger
– gescheitert sind.
Ohne Wimperzucken quittieren sie den Einbruch der beiden
großen Erzählun-
gen des 19. und 20. Jahrhunderts – Liberalismus und
Sozialismus in ihrer da-
maligen Gestalt – und widmen sich stattdessen dem Kern, der
bleiben müsse:
Möglichkeiten, die entgegen landläufiger Resignation
nicht geringer werden,
sondern vielfältiger. Diese offenen Enden nennen sie mit einem
Begriff u. a.
aus der Mathematik: Freiheitsgrade. Diese sind nicht zu verwechseln
mit
Freiheit, sondern bezeichnen lediglich durch Vernunft und bewusstes
Handeln
beeinflussbare Wahrscheinlichkeiten. Hardt/Negris scheinbare
Gegenwartsbe-
schreibung behandeln sie wegen dieser Verwechselung als Kitsch. Ob
dieser
zusammen mit dem Manifest „Der kommende Aufstand“ des
Unsichtbaren
Komitees so umstandslos mit Baldur Springmann kurzgeschlossen
werden darf,
wie dies auf den Seiten 258/259 geschieht, wäre zu
überlegen – vielleicht pole-
mischer Überschuss, vielleicht Hellsicht. Laut Barbara
Kirchner und Dietmar
Dath sind die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft
nicht eine Art Gefan-
genen-Dilemma mit Zusammenbruchs-Perspektive, sondern der
Gegensatz
zwischen dem, wie diese bürgerliche Gesellschaft ist, und dem,
was nach ihr –
im Guten und im Bösen – kommen kann und in ihr schon
angelegt, also ihr
implizit ist.
Dies wird nun auf entweder disparat erscheinenden oder auch
wirklich dispara-
ten Feldern durchprobiert: Aufklärungsphilosophie, Arbeit,
Geschlechter-, ras-
sistische und imperialistische Verhältnisse und Emanzipation
von diesen, Tech-
nik, Kunst, Revolution. Für Barbara Kirchner und Dietmar Dath
ist der Kapita-
lismus seinerseits ein Produkt der Aufklärung und ein Implex:
„Wenn ein Pro-
duktionsverhältnis so ungeheure Beschleunigungen im Wachstum
der Produk-
tivkräfte bewirkt wie das der freien Konkurrenz von Kapitalen
auf dem Markt,
dann vervielfachen sich auch die Ausfahrten, von denen unser Bild
im letzten
Kapitel redet.“ (403) Dieses letzte Kapitel heißt:
„Der explizite Implex“.
Indem Kirchner/Dath die Position von Konservativen als gegnerische
charak-
terisieren, liefern sie sogar eine faire Apologie selbst von
Renegaten, die es
sich irgendwann anders überlegt haben: „Die
Exklusivität der Kunst wird ver-
teidigt; die des Besitzes lässt sich gern mitmeinen, in der
richtigen Ahnung,
dass jenseits dieser beiden Exklusivitäten nur die Barbarei
oder etwas sehr ne-
belhaft Besseres kommen können, und der noch richtigeren, dass
die Barbarei
einstweilen die besseren Karten hat.“ (S. 382) Der Implex hat
Hintertüren:
„dass also die Konterrevolution in der Revolution steckt wie
diese im nichtre-
volutionären Alltag aller Klassengesellschaften, ist der
ubiquitären Zwiege-
sichtigkeit von Implexkonstellationen gemäß und macht
sie, mehr noch als die
kontraintuitive Nichtzuständigkeit von Maßgaben der
Mengenlehre für diese
großen Sachen, die in scheinbar kleineren stecken, so schwer
zu denken.“
(404) Warum dann aber überhaupt noch sozialer Fortschritt?
Dass, wer mit
dem Rücken an der Wand steht, nicht mehr weiter zurück
kann, reicht nicht
aus. Hinzukommen müsse, dass man sich eine Richtung nach vorn
vorzustel-
len vermag und dass man sie einschlagen will. Das ist kein Privileg
derer, de-
nen es schlecht geht, vielleicht können die es gar nicht
besonders gut. Ein
Schuss Voluntarismus scheint unverzichtbar, ist für
Kirchner/Dath aber be-
gründbar.
Einwände
Versprochen wurde eine Ideengeschichte, und dabei bleibt es. Das
Herange-
hen ist in hohem Maße kulturalistisch. Es fehlen die
Induktionen aus der Re-
algeschichte und die Ökonomie. Dabei war letztere von Marx
ebenfalls als
Implex gesehen worden, zugleich kam es hier zu einigen seiner
vorschnellen
Fortschreibungen. Kirchner/Dath sind Ökonomie und
Sozialgeschichte viel-
leicht Hexis-verdächtig. Oder sie überlassen sie Leuten
vom Fach, die nun al-
lerdings gefordert sind, wenn sie sich nicht mit beleidigter
Spezialistenkritik
begnügen wollen. Sind diese keine Betriebswirtschaftler,
sondern Politische
Ökonomen, dann bedienen sie sich ja schon jenes Zusammenhangs,
den
Kirchner und Dath „Interpenetration“ nennen – der
wechselseitigen Durch-
dringung von „Maschinen“.
Rezeption
Achtzigjährige Marxisten mögen versucht sein, dem Buch
„Der Implex“ vor-
zuhalten, hier werde der Nordpol zum zweiten Mal entdeckt. Im
„Konkret“-
Interview hat Dietmar Dath diese Kritik vorweggenommen: „Man
könnte jetzt
böse sagen, wir erfinden das Rad neu.“ Anders als in der
Geografie wurde in
der Gesellschaft der Nordpol, falls er da ebenfalls schon entdeckt
worden sein
sollte, nie betreten. Wenn das Kriterium der Wahrheit die Praxis
ist, folgt aus
dem Ausbleiben der Verifikation, dass die Theorie selber in Frage
gestellt ist.
Also muss neu angefangen werden.
Wie mit solchen Versuchen adäquat umzugehen ist, lässt
sich an einer Paralle-
le zeigen. In den „Marxistischen Blättern“ hat
Robert Steigerwald und in „Z.“
hat Günter Benser Ralf Hoffrogges Buch „Sozialismus und
Arbeiterbewegung
in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914“ aufmerksam
besprochen. Früher
hätten sie es wohl, gemessen an einem von ihnen gebilligten
Kräfteverhältnis,
das durch erfolgreiche kommunistische Parteien und den realen
Sozialismus
mitbestimmt wurde, eher wie eine Regression und einiges davon auch
als Irr-
weg oder überflüssig behandelt. Dass sie dies jetzt nicht
tun, wird gewiss und
hoffentlich nicht in erster Linie auf Altersmilde
zurückzuführen sein, sondern
auf die Erkenntnis, dass nach der Niederlage des einst für
richtig Gehaltenen
nun neue Versuche, die sich in einer zwar kritischen, aber doch
auch positiven
Weise mit den vorigen verbinden (und deren Verfechter nicht mies
antikom-
munistisch auf ihnen herumtrampeln), zu unternehmen sind.
Anders sieht es offenbar bei Altersgenossen von Kirchner und Dath
aus. Für
sie ist das Buch retro, es handelt von Dingen, mit denen sie nie zu
tun haben
wollten. In einigen Feuilletons wurde „Der Implex“
einem Shitstorm ausge-
setzt. „Kalaschnikowhafte
Selbstermächtigungsprosa“ (DIE ZEIT), „bohe-
mienhafte Apologie von Terror“ (taz), „krude
Anmaßung“ verdecke, „dass die
Autoren den altbösen Feind Kapitalismus irgendwie nicht am
Schlafittchen zu
packen kriegen, so wild sie auch herumfuchteln“
(Deutschlandradio Kultur).
Einiges mag zu hastiger Lektüre geschuldet zu sein. Der
Kapitalismus ist, wie
gezeigt, für Kirchner und Dath kein altböser Feind. Dass
sie das Recht auf
freie Meinungsäußerung als eine Maschine zur
Wahrheitsfindung und zur ar-
gumentativen Eliminierung von Unwahrheit sehen und der
Aufklärung das
Recht auf Tricks und Kampf im Handgemenge zubilligen, erscheint
denen,
die das ständige Gerede als Selbstzweck schätzen,
offenbar schon als Sympa-
thisantentum des Terrors. In ihrer Generation Golf sind Kirchner
und Dath
wohl ebenso solitär (um nicht zu sagen: einsam) wie die Form
des Buchs zwi-
schen verschiedenen literarischen Gattungen und seine Argumentation
zwi-
schen den Wissensgebieten.
Eine unbestreitbare Begriffs- und Bezüge-Opulenz des Textes
ist keine Kraft-
meierei, sondern markiert Leerstellen, die von zwei Leuten allein
nicht zu füllen
sind. Immerhin könnte, wer sich dadurch gestört
fühlt, sich wenigstens einmal
kundig zu machen versuchen, wen und was Kirchner/Dath da aufrufen
und von
wem und was man selbst nie zuvor etwas gehört hat. Das
bildet.
Perspektive
Als Dietrich Kuhlbrodt den „Implex“ zu lesen begann,
fühlte er sich (so er-
zählt er in einem Bericht über eine Vorstellung des Buchs
im Literaturforum
des Brecht-Hauses in Berlin) in die Zeit seiner Lektüre der
„Ästhetik des Wi-
derstands“ zurückversetzt. Vor einer Generation gab es
dafür Lesezirkel. Viel-
leicht wäre das heute zu betulich. In den
Amazon-Kundenrezensionen tut sich
inzwischen etwas. Vielleicht wäre das Netz das richtige Forum.
Einige Leute
erhoffen sich eine „Implex“-Plattform. Hier könnte
das Buch auseinander ge-
nommen, korrigiert, in Einzelheiten widerlegt und weitergeschrieben
werden.
Sollte es, von da ausgehend, eines Tages sogar zu einer
Implex-Partei kom-
men, hätte sich die Idee von ihrer Urheberin und ihrem Urheber
emanzipiert.
Etwas Besseres kann Leuten, die Vernünftiges in die Welt
setzen, nicht pas-
sieren.
1
Dietmar Dath/Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt:
Geschichte und Idee. Berlin:
Suhrkamp Verlag 2012. 880 Seiten. 29,90 Euro.