Marktwirtschaft ins Grundgesetz und das neue Gespenst in Europa

23.07.2019
von Andreas Fisahn

Man staunt nicht schlecht über die scharfen Reaktionen auf die beiläufig geäußerte Bemerkung des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert in der Zeit: „Mir ist weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW ‘staatlicher Automobilbetrieb’ steht oder ‘genossenschaftlicher Automobilbetrieb’ oder ob das Kollektiv entscheidet, dass es BMW in dieser Form nicht mehr braucht.“ Ein neues Gespenst scheint umzugehen, das die Philister bei Liberalen und Konservativen in einen heilsamen Schrecken versetzt hat. Während die Linke eher annimmt, dass ein neuer Bonapartismus vor der Tür steht als eine neue „Pariser Kommune“ und in Kevin Kühnert eher Otfried Preußlers „Kleines Gespenst“ ausmacht als das Gespenst des „Kommunistischen Manifests“.

Genug der Reminiszenzen: Herr Lindner hat in Reaktion auf Kühnert vorgeschlagen, den Sozialisierungsartikel, also Artikel 15 Grundgesetz, aus eben diesem zu streichen. Initiativ wurde auch Ulrich van Suntum, über den Wikipedia weiß, dass er Landesvorsitzender des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen der Partei „Liberal-Konservative Reformer“ war, Botschafter der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ und Autor des Standort-Rankings der Bertelsmann-Stiftung ist. Van Suntum, Wirtschaftsprofessor in Münster, scharte einige seiner marktradikalen Kollegen um sich und startete eine Online-Petition mit dem Ziel, die Bundesrepublik mit Art. 15 GG auf die „soziale Marktwirtschaft“ zu verpflichten. Weil die „soziale Marktwirtschaft“ keinen Verfassungsrang habe, schreibt er in der „Wirtschaftlichen Freiheit“, sei sie „derzeit nicht viel mehr als eine Tradition. Sie könnte jederzeit durch ein sozialistisches Wirtschaftssystem à la DDR ersetzt werden – mit einfacher Mehrheit des Bundestages.“ Das ginge ja gar nicht, also folgert er: „Konkret schlagen wir vor, den bisherigen Artikel 15 durch einen einzigen schlichten Satz zu ersetzen: ‚Bund, Länder und Kommunen sind in ihren wirtschaftspolitisch relevanten Entscheidungen und Maßnahmen grundsätzlich den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet.’ Damit wäre Kevin Kühnert nicht automatisch ein Verfassungsfeind, er dürfte natürlich weiter für eine andere Wirtschaftsordnung werben. Aber er könnte diese nicht mehr mit einfacher Mehrheit durchsetzen.“

Woher kommt dieser Schrecken? Das Grundgesetz spiegelt die Kräfteverhältnisse wider, die nach dem Krieg zwischen den gesellschaftlichen Kräften und den Parteien bestanden. Das Grundgesetz hat einen Kompromisscharakter: Es garantiert die Religionsfreiheit und bestimmt, dass die Kirchen den Inhalt des Religionsunterrichts bestimmen; es verfügt, dass die Schule unter der Aufsicht des Staates steht und erlaubt Privatschulen, solange dies nicht zu einer Klassenbildung führt; es garantiert die Meinungsfreiheit und verpflichtet auf „die Vorschriften über die ‚Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus’ (Art. 132, 139); es erlaubt die Wehrpflicht und die Kriegsdienstverweigerung und schließlich: Es garantiert das Eigentum (Art. 14 I) und erlaubt die Enteignung (Art. 14 III) und Sozialisierung von Produktionsmitteln und Grund und Boden (Art. 15). Sehr früh hat der Kampf um die Festschreibung einer verfassungsrechtlichen Absicherung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Grundgesetz begonnen. Wolfgang Abendroth meinte, das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 GG müsse im Sinne einer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik verstanden werden, was schließlich nur eine sozialistische Wirtschaftsordnung erlaube. Ernst Forsthoff konterte von rechts mit dem Argument, Sozialstaat und Rechtsstaat schlössen sich gegenseitig aus, weil der eine Gleichheit, der andere Freiheit einfordere. Die Freiheit habe Vorrang, so dass der Sozialstaat in der Verfassungswirklichkeit zurückstehen müsse und eigentlich keine Bedeutung habe. Eine Zeit lang folgte eine Mehrheit Forsthoff in abgeschwächter Form und erklärte den Sozialstaat zum bloßen „Staatsziel“, dessen Verwirklichung vollständig zur Disposition des Gesetzgebers stehe. Mit dem Hartz IV Urteil hat das BVerfG aus der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaat ein Grundrecht auf ein „soziokulturelles Existenzminimum“ anerkannt, womit sich die Reduktion auf eine Staatsziel erledigt haben dürfte. Das hat sich aber in der Juristenzunft noch nicht herumgesprochen.

Und natürlich gab es immer wieder Bemühungen, der Marktwirtschaft Verfassungsrang zukommen zu lassen, um sie gegen jedwede Staatsintervention abzusichern. Schon 1954 hatte das Bundverfassungsgericht Verfassungsbeschwerden gegen ein Investitionshilfegesetz zurückgewiesen und ausgeführt: „Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde ‚soziale Marktwirtschaft’. Die ‚wirtschaftspolitische Neutralität’ des Grundgesetzes besteht lediglich darin, daß sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Dies ermöglicht dem Gesetzgeber die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachtet. Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung.“ Diese Rechtsprechung hat das Gericht aufrecht erhalten und in weiteren Urteilen die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes betont.

Es gibt immer noch Versuche, aus den Grundrechten, insbesondere aus der Eigentumsgarantie und der Berufsfreiheit ein „Recht auf unternehmerische Freiheit“ und damit eine kapitalistische Wirtschaftsordnung verfassungsrechtlich abzusichern. Weil aber auch diese Versuche erfolglos blieben, kam es auf Seiten der Marktradikalen zu einem Strategiewechsel. Die Wirtschaftsordnung wurde nicht im Grundgesetz festgeschrieben, sondern in den Verträgen der Europäischen Union. Im Lissabon-Vertrag, genauer im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) findet man die Festlegung auf die „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 119, 120, 127 AEUV) gleich in drei Artikeln – selbst die geringfügige Einschränkung, die durch das Wörtchen „sozial“ vor der Marktwirtschaft ermöglicht werden könnte, wird damit ausgehebelt. Im Lissabon-Vertrag wird die „soziale Marktwirtschaft“ sogar zum Gegenpol der „offenen Marktwirtschaft“. Nachdem die Franzosen 2004 gegen den Verfassungsentwurf für die EU gestimmt hatten, wurde dieser in drei Teile zerschlagen, die heute den Lissabon-Vertrag ausmachen. In den ersten Teil, dem Vertrag über die Europäische Union (EUV), wurde auf Druck der französischen Regierung, die ihr Volk beruhigen musste, in Art. 3 III normiert, dass die EU auf eine in „hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“, hinwirke. Das bleibt Rhetorik, während die offene Marktwirtschaft im Vertrag ausbuchstabiert wird, so dass die „soziale Marktwirtschaft“ in gewissem Maße zu einem Kontrapunkt zur „offenen Marktwirtschaft“ wird. In der Grundrechte-Charta, dem dritten Teil der EU-Verfassung, findet sich schließlich das „Recht auf unternehmerische Freiheit“ (Art. 16). Insgesamt war die Absicherung der kapitalistischen Ordnung in der EU-Verfassung also erfolgreich.

Warum also, lässt sich deshalb fragen, wollen die marktradikalen Wirtschaftsprofessoren nun die Marktwirtschaft durch die Verfassung gegen demokratische Mehrheiten im Bundestag absichern? Es bleiben zwei Möglichkeiten: entweder aus Unkenntnis über die Rechtslage in der EU, was ich eher ausschließen würde, oder: Sie haben wie die Konservativen seit Mitte des 19. Jahrhunderts Angst vor der Demokratie. Das hat den Konservatismus seit jeher veranlasst, darüber nachzusinnen, wie man denn verhindern könne, dass die Mehrheit des Volkes die wenigen Reichen in ihrem Reichtum beschränkt. Das ist nichts Neues. Interessanter ist, warum diese Angst sich gerade jetzt wieder deutlich manifestiert, hat man doch über die EU-Verträge offenbar ausreichend vorgesorgt. Kevin Kühnert ist sicher nicht das Gespenst, das diesen Schrecken verursachte. Der dürfte andere Ursachen haben, nämlich die mögliche Implosion der EU. Da sich der Mauerfall dieses Jahr zum 30ten Male jährt, scheint man sich zu erinnern, wie schnell ein scheinbar stabiles System implodieren kann, wenn die wirtschaftlichen Aussichten eher trübe sind und die Eliten sich arrogant vom Volk entfernt haben. Die Implosion der EU ist das neue Gespenst, das umgeht in Europa!