Demokratie und Nation
In den Jahren 1806/07 wurde Fichte zu einem führenden Theoretiker der patriotischen Bewegung Preußens. Kurz vor dem Einrücken der französischen Truppen in Berlin reiste Fichte gemeinsam mit Hufeland nach Königsberg, wo er Vorlesungen an der Universität hielt Der Zusammenbruch des altpreußischen Staates im Jahre 1806, der Diktatfrieden von Tilsit und die sich formierende nationale Befreiungsbewegung gegen Napoleon vermittelten dem gesamten Denken Fichtes bedeutsame neue Impulse. Die nationale Problematik wird nunmehr zu einem zentralen Bestandteil der Philosophie Fichtes. Die geschichtlichen Ereignisse der Jahre 1807 und 1813 inspirierten Fichte zu tiefen Einsichten über den Zusammenhang von Demokratie und Nation, die Notwendigkeit eines einheitlichen deutschen Nationalstaates, die Bedeutung eines demokratischen Nationalbewusstseins und über den gegensätzlichen Charakter von Volkskrieg und Krieg der herrschenden Klasse. Die „Wissenschaftslehre” wird jetzt zum allgemeinen theoretischen Instrumentarium des Ringens um die Lösung der nationalen Frage, um eine Überwindung der Fesseln und Hindernisse, die der von Fichte erstrebten Ordnung einer kleinbürgerlichen Demokratie entgegenstanden.
Nach dem Friedensschluss von Tilsit kehrt Fichte in das besetzte Berlin zurück. In den hier gehaltenen „Reden an die deutsche Nation” verficht Fichte die Erkenntnis, dass die politische Unabhängigkeit und Selbständigkeit der deutschen Nation bzw. die Errichtung eines bürgerlichen Nationalstaates unabdingbare Voraussetzungen für den historischen Fortschritt in Deutschland sind. Scharf kritisiert Fichte Kleinmut und Resignation im Hinblick auf die Perspektiven der deutschen Nation. Er beklagt die „Selbstsucht” (darunter versteht er die Politik des preußischen Staates), die sich selbst zugrunde gerichtet habe.
Für Fichte ist die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft unlöslich mit der Konstituierung der bürgerlichen Nationen verbunden. Das sittliche Vernunftreich kann nur über die Durchgangsstufe der Nationen als der „Hülle des ewigen”[1] erreicht werden. Fichte begründet in den „Reden an die deutsche Nation” einen umfassenden Plan demokratischer Nationalerziehung und betrachtet diese als Schlüssel gesellschaftlicher Erneuerung. Nur ein vom bürgerlichen Nationalbewusstsein durchdrungenes Volk kann die politische Unabhängigkeit von der französischen Fremdherrschaft erkämpfen. Fichte erstrebt eine Nationalerziehung, die alle Bürger ohne Unterschied des Standes und der Herkunft erfasst. Bei der Errichtung des bürgerlichen Vernunftreiches kommt nach Fichtes Ansicht dem deutschen Volke eine Vorrangrolle zu. In Reaktion auf die Annektionen Napoleons äußert Fichte überschwänglich, die innere Erneuerung der Menschheit müsse bei der deutschen Nation beginnen. W. Krauss betonte, dass Fichtes Nationalbewusstsein selbstverständlich nur im Dienste einer universalen Verantwortlichkeit zu verstehen ist. Er führte aus: „Die führenden Nationen sind die Vorhuten der Menschheit. Die Fackel der größten Bewusstheit wird von der einen an die andere gereicht: Die Geschichte der Menschheit bevorzugt die eine oder die andere je nach dem Grad ihrer sittlichen Reife. Doch war diese Zuerkennung eines Führungsanspruchs natürlich von keinem machtmäßigem Hegemoniestreben begleitet, da die Freiheit sich gerade bei höchster Bewusstheit in der Selbstbeschränkung bewähren sollte.”[2]
Mit seinen „Reden an die deutsche Nation” trat Fichte in die erste Reihe jener preußischen Patrioten, die wie Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz, W. v. Humboldt entschieden für bürgerliche Reformen und nationale Selbstbestimmung eintraten. Sein demokratisches Erziehungsprogramm suchte Fichte im Rahmen seines akademischen Wirkens in Berlin praktisch umzusetzen. Die demokratischen Ideen Fichtes schlugen sich in den von ihm verfassten „Deduzierten Plan einer in Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften steht”, nieder. Seine demokratischen Grundüberzeugungen suchte Fichte in der Zeit seines Wirkens als Dekan der Philosophischen Fakultät und als Rektor der Berliner Universität (1810/11) in die Tat umzusetzen.
Formveränderungen der Wissenschaftslehre
Der sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts abzeichnende geschichtliche Perspektivverlust für das Kleinbürgertum mit der beginnenden kapitalistischen Entwicklung in den deutschen Teilstaaten, das Abflauen der Volksbewegungen nach 1800 führen, beginnend mit der Fassung der „Wissenschaftslehre” von 1804, zu erheblichen Veränderungen in der theoretischen Philosophie Fichtes. An einer Revision seiner „Wissenschaftslehre” hatte Fichte in den Jahren 1802/03 angestrengt gearbeitet. Fichte betonte die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen mit radikal-demokratischer Zielsetzung gerade angesichts der Erfahrung des Thermidor, angesichts des Umstandes, dass in Deutschland nunmehr reale Aktionsmöglichkeiten für die Volkskräfte und damit der unmittelbare soziale Adressat seiner Lehre – jedenfalls zeitweilig – fehlten. Den Spätfassungen der „Wissenschaftslehre” korrespondiert aber auch der Kampf der Volkskräfte gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Fichte theoretisiert nunmehr mit sich verstärkendem Nachdruck das antizipatorische und konzeptive Moment menschlichen Daseins. Beginnend mit der Fassung der „Wissenschaftslehre” von 1804 hypostasiert Fichte das Wissen zum Wissen an und für sich, die ursprüngliche Tathandlung zur „Genesis”. „Alle Philosophie soll aufgehen in das Wissen an und für sich. Das Wissen oder die Evidenz an und für sich ist genetisch.”[3] Der höhere „Begriff”, das „Licht” spalte sich in Sein und Denken. In dieser „Urdisjunktion des Lichts”[4] bestehe sein Leben.
Die Hypostasierung des Wissens zum Wissen an und für sich bedeutet, dass Freiheit gleichsam zum Wesen der Welt schlechthin erhoben wird. Bezeichnend ist die Begriffswelt Fichtes. Dominierende Kategorien sind „Wissen”, „Begriff”, „Licht”, „Verstehen”, „Sehen“, „Durch”. Mit diesen Termini sucht Fichte die rationale Durchsichtigkeit des gesamten Seins zu artikulieren. Es gibt schlechthin keine der Vernunft entgegenstehende Macht. Sie erzeugt sich selbst und durchdringt alles Sein. Die Erhebung des Wissens, der Vernunft zum Wesensinhalt der gesamten Wirklichkeit soll der Grundintention der „Wissenschaftslehre” eine noch höhere Apodiktik verleihen. Es soll unmöglich sein, sich der Zwangsläufigkeit ihrer Argumentation zu entziehen.
Fichte betont in den Spätfassungen seiner „Wissenschaftslehre” die Unzugänglichkeit des Absoluten, des Lichts usw. Dieses trete nur in seiner Erscheinung, in seinem Bilde, das wieder abgebildete Bilder erzeugt, zutage. Das Ich ist Erscheinung des unzugänglichen Lichts, bloße Erscheinung der Erscheinung. Hier reproduzieren sich Momente der heterodoxen Mystik, namentlich die geschichtlich weiter zurückreichenden Thesen Eckharts von der Unerschaffbarkeit des Erkennens und der Ewigkeit des Intellekts. H. Ley hob hervor, dass in der plebejischen und städtischen Mystik des Mittelalters der einfache Mensch auf Grund der menschlichen Natur die höchsten denkmöglichen Fähigkeiten besitze, bei deren Entfaltung ausdrücklich der Verstand hervorgehoben wird.[5] In der „Quaestio Parisiensis I” schrieb Eckhart: „Und deshalb sind die Wesen, die Intellekt haben, vollkommener als die, die keinen haben, wie in dem Werdeprozeß das Unvollkommene die erste Stufe einnimmt, so dass die Untersuchung beim Intellekt und beim intelligenten Wesen als dem Höchsten und Vollkommensten haltmacht. Und deshalb ist das Erkennen höher als das Sein.”[6] Die Spätphilosophie Fichtes stimmt mit Eckhart hinsichtlich der Rolle des Denkens und des Erkennens überein. Die Höherrangigkeit des Erkennens kommt bei Eckhart darin zum Ausdruck, dass der Mensch das Feuer denken könne, ohne dass es wärmt, während in Gott das Feuer immer zugleich wärme. Ley notiert zu Eckhart: „Eckhart geht von der Voraussetzung aus, daß Erkenntnis zugleich Macht über das erkannte Ding gibt und die Wesenskräfte des Menschen bereichert. Das Diesseits ist in den Mittelpunkt gerückt. Das Jenseits hat seine Selbständigkeit verloren. Eckhart vollzieht eine theoretische Rehabilitierung des Menschen und seines Verstandes.”[7] In Eckharts Anthropologie bleiben Tätigwerden und Zielsetzen Angelegenheit des Menschen. Über die mittelalterliche Mystik hinausgehend, schließt Fichte auch an die spätantike Lichtmetaphysik des Dionysios an. Wie „Leben” und „Begriff” hat auch der Terminus „Licht” bei Fichte Prävalenz. Die linke Mystik des Dionysios übernimmt nicht, wie Ley vermerkt, die christlich-platonische Abwertung der Materie und des Menschen, sondern wirkt ihr entgegen. Im Buch über die himmlische Hierarchie des Pseudo-Dionysios werde gelehrt, dass alles Licht und alle geistige Gnade vom Vater des Lichts ausstrahle und der Mensch sich mit ihm vereinige.[8]
Fichtes Konzeption des Absoluten zielt darauf ab, die duale Wirklichkeitsstruktur, die Disjunktion der Wirklichkeit in Sein und Denken, in Subjekt und Objekt, an der Kant mit seiner Unterscheidung von Sinnlichem und Übersinnlichem noch festhielt, zu tilgen. Diese sei Quelle menschlicher Entfremdung. Die Annahme der Priorität des „Begriffs” ist nicht nur gegen die mechanisch-materialistische Abbildtheorie gerichtet, ebenso zielt sie gegen die nach 1800 zum Platonismus tendierende Naturphilosophie Schellings, gegen die Annahme präexistenter Ideen und gegen die protestantische Lehre von einer „geschaffenen Welt”. Alle diese Auffassungen schalten nach Fichte Antizipation, Aktivität und Konstruktivität als Grundmomente des menschlichen Intellekts bzw. als Bedingungen menschlichen Handelns aus.
In Anknüpfung an die heterodoxe Mystik zielt Fichtes „Wissenschaftslehre” auf die völlige innere „Umschaffung” des Menschen. Ein „ganz neues inneres Sinnenwerkzeug, durch welches eine ganz neue Welt geboren wird”[9] sei hierzu notwendig. Ein „neuer Sinn und Zustand”[10] sei Bedingung für die Erneuerung des Menschengeschlechts, d. h. die Schaffung von Voraussetzungen des gänzlichen Sich-Befreiens des menschlichen Individuums von knechtenden und unterdrückenden Lebensformen, einer Abstreifen von überkommenen Bewusstseinsstrukturen, die den Menschen in Verhältnisse blinder Abhängigkeit und knechtender Unterwerfung versetzen. Die Reproduktion von Strukturen der Mystik im Denken des Berliner Fichte schaltet die von ihm verfochtene Aktivität des Subjekts nicht aus. Jedoch wird diese nunmehr anders konzipiert. Nach Fichte ist „die Vernunft … schlechthin Grund ihres eigenen Daseins”[11]. Sie ist für ihn die alles durchdringende, alles bewegende, Tätigkeit auslösende Instanz, der übergreifende lebendig-prozessuale Gehalt der gesamten Wirklichkeit. Sie ergreift und durchdringt insofern auch das „Ich des Bewußtseyns in der Erscheinung”[12]. Letztlich sucht Fichte den Kampf des deutschen Volkes um äußere und innere Befreiung eine noch größere Geltung zu verschaffen, indem Schöpferkraft gleichsam zum Wesen der Welt selbst erhoben wird. Adäquiere sich der Mensch dem „absoluten Sein”, werde er selbst von universeller Schöpferkraft durchdrungen. Auch die höhere „Vernunft” ist lediglich Orientierungspunkt für menschliche Selbstbestimmung.
Auf dem Weg zum „Reich der Freiheit“
In den „Tatsachen des Bewußtseins” bemerkt Fichte, dass das Leben sich durch „Koncentration auf individuelle Form” entwickle. Er fragt: „Wozu nun und zu welchem Zwecke? Nach dem bisherigen können wir diese Frage nicht anders beantworten. Denn also: zu keinem, als eben die Kraft zu äußern; das Ziel der Kraftentwicklung ist die Kraftentwicklung selbst.”[13] Konzeptionell findet dies, über die Positionen der „Grundlage des Naturrechts” von 1796 hinausgehend, auch in der „Rechtslehre” von 1812 und in der „Staatslehre” von 1813 Niederschlag. In der „Rechtslehre” heißt es, die Steigerung der Produktivität der Arbeit sei nur Mittel, um Raum für die freie schöpferische Betätigung der Individuen zu schaffen. „Der durch den Staat gesicherte Endzwek aller Verbindungen der Menschen zum Recht ist Freiheit, d. i. zuforderst Muße. Dies ist also der eigentliche Zwek, und die Arbeit nur das aufgedrungne Mittel. Es gehört zur Freiheit das Mittel immerfort zu verringern, versteht sich doch also, dass der Endzwek erreicht werde; also es ist ein Zwek des Staats das Verhältnis der Arbeit des Ganzen zu seiner Muße immerfort günstiger zu machen (d. h. den Nationalreichtum zu vermehren).”[14] Es solle kein Armer und kein Müßiggänger im Staate sein. Auch bei unterbrochener Arbeit müssen alle leben können. Fichte führt weiter aus: „Was ist nun der Preis der Arbeit aller: Antwort das Leben: und zwar in doppelter Rüksicht, theils daß es erhalten werde, theils, daß es frei (von Arbeit und in Muße) sich bewegen könne. Dieser Preis wird errungen durch die Arbeit aller, ist das ihnen garantirte Eigenthum und sie haben alle darauf gleiche Rechtsansprüche: der gleiche Anteil an dem Leben ist drum das Eigentum jedes einzelnen.”[15] Das Recht auf Arbeit ist hier weiterentwickelt zum Recht auf freie menschliche Selbstbetätigung, die durch fortschreitende Arbeitsteilung, Anwendung der Wissenschaft und Vermehrung des Reichtums der Gesellschaft überhaupt möglich werde. Analoge Gedankengänge finden sich bei Karl Marx wieder, mit bestechender Übereinstimmung mit Fichte und mit wissenschaftlich gereiftem Blick. Im 3. Band des „Kapital” stellt Marx fest: Jenseits des Reichs der Notwendigkeit ”beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzwek gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Nothwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.”[16] In den „Ökonomischen Manuskripten” von 1857/58 hebt er hervor, gegen Adam Smith gewandt, dass die Arbeit als äußerer Zweck „den Schein bloß äusserer Naturnothwendigkeit abgestreift erhalten [muss]“, damit die Zwecke, „die das Individuum selbst erst sezt, gesezt werden – also als Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjects, daher reale Freiheit, deren Aktion also die Arbeit [ist].”[17]. Von den Hauptvertretern der klassischen deutschen Philosophie steht Fichte in seinen sozialen Intentionen heute der Arbeiterbewegung und allen anderen Kräften, die um die Befreiung der Menschheit kämpfen, am nächsten.
Im Sommer 1813 hielt Fichte an der Berliner Universität Vorlesungen zum Thema „Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche”. Er geht darin vom Gegensatz der alten und neuen Welt aus. Die alte Welt war auf der „Aufopferung der Mehrzahl der Menschen als Sklaven”[18] gegründet. In der neuen Zeit sollen sich die Menschen jedoch „schlechthin zu Reichen der Freiheit gestalten”[19]. Diese Freiheit sei „gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt”[20]. Der sich steigernden Apodiktik der „Wissenschaftslehre” entspricht die immer stärkere Betonung des Zwangscharakters des Staates, mittels dessen die Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse im kleinbürgerlich-demokratischen Rahmen realisiert werden soll. Fichte erkennt, dass sein kleinbürgerliches Gesellschaftsideal nur mit Gewalt, mit Zwang – gegen den privilegierten Adel, gegen das nach Ausweitung seines Besitzes strebende Bürgertum, aber auch gegen den Unverstand der Volksmassen – erreicht werden kann. Es ist darum notwendig, zur „rechtlichen Verfassung die Menschen zu zwingen, dem Rechte sie durch Gewalt zu unterjochen”[21]. Das Zwangsrecht ist aber für Fichte zugleich ein notwendiges Instrument, um die Herrschaft des Menschen über die äußere Natur zu erweitern, wozu es rationeller Beziehungen zwischen den Produzenten der materiellen Güter und der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und ihrer Bildung, der Entfaltung ihrer Individualität, bedarf. Wie Fichte ausführt, sei die Annahme eines Gesamtplanes und die Schaffung eines kollektiven Verstandes der Produzenten erforderlich. Der staatliche Zwang schließt die Einebnung gesellschaftlicher Unterschiede ein. Das Prinzip der sozialen Gleichheit wird zum übergreifenden Prinzip der Gesellschaftsgestaltung. „Nichts, was Menschengesicht trägt, ist ausgeschlossen von der gleichen Gnade, nichts sündig oder verworfen.”[22] In der neueren, vom Christentum durchdrungenen Welt sei zwischen Gott und Mensch kein Mittelglied mehr vorhanden. Das Gewissen wurde einziges Kriterium der Sittlichkeit. Die Menschen handeln vernunftgemäß, aus klarer eigener Einsicht heraus – das ist nach Fichte das „Grundgesetz” der neuen Welt. Zu seiner Realisierung bedürfe es der beständigen Erziehung der menschlichen Individuen. In dem Maße, wie dieser Erziehungsprozess fortschreitet, sich die innere Freiheit der Menschen realisiert, wird nach Fichte die Zwangsregierung überflüssig.
Eine bedeutsame Leistung Fichtes besteht darin, dass er die Auffassung, wachsende Naturbeherrschung sei Wesenszug menschlicher Freiheit, mit kleinbürgerlich-egalitaristischem Gedankengut in Verbindung bringt. Das „Reich der Freiheit” gründet sich auf sozialen Egalitarismus und wachsende Naturbeherrschung durch die assoziierten Individuen. Akkumulation und Verwertung von Wissen sind für die kollektive Naturbeherrschung unabdingbare Voraussetzung. Fichte geht darin über Rousseau hinaus, bei dem zunehmende Aneignung der Natur durch den Menschen und gesellschaftliche Gleichheit nicht zu vereinbaren sind. Fichte setzt Freiheit und Gleichheit geradezu in Korrespondenz. Die Herstellung sozialer Gleichheit ist bei ihm mit der Aufgabe verbunden, die Potenzen der menschlichen Individuen zur Entfaltung zu bringen. Fichtes Denken vereint jakobinisch geprägten Egalitarismus mit der von der klassischen deutschen Philosophie begründeten Konzeption der Herstellung des Vernunftzustandes der Menschheit. Nicht zufällig vertieft Fichte in seinen letzten Arbeiten seine gesellschaftskritischen Positionen und radikalisiert sie zum Teil auch. Hierin manifestieren sich Impulse einer gedanklichen Weiterführung der Kantschen Lehre vom Menschen als Selbstzweck, neu aufgenommene Anregungen der emanzipatorischen Intentionen der linken Mystik des Mittelalters, schließlich eigene Erfahrungen aus der beginnenden bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in Deutschland nach der Französischen Revolution, die der Kritik an der antagonistischen Klassengesellschaft ein noch deutlicheres Profil verliehen. Bemühungen in der bürgerlichen Fichte-Literatur, Fichte als Theoretiker des „Totalitarismus” zu deuten, reflektieren nur partiell sein Verständnis einer geschichtlichen Übergangsperiode, gehen aber am Kern der Gesellschafts- und Staatslehre seiner letzten Lebensjahre vorbei.
Fichte zu Krieg und Frieden
Zu den von Fichte behandelten Fragen gehört auch die Problematik von Krieg und Frieden. Bereits 1796 hatte Fichte eine Rezension zu Kants Schrift „Zum ewigen Frieden” verfasst. Die Herstellung eines ewigen Friedens sah Fichte in diesem Aufsatz als historisch lösbare Aufgabe an. Es sei falsch, die Kantsche „Hauptidee” als bloßen frommen Wunsch, als schönen Traum zu betrachten. Sie liege vielmehr „im Wesen der Vernunft”, diese aber fordere „schlechthin ihre Realisation”[23]. In der „Bestimmung des Menschen” äußert Fichte, dass der ewige Friede mit Notwendigkeit aus der Errichtung einer rechtlichen Verfassung im Innern der Staaten folge. Letztere biete die Möglichkeit, eine Weltföderation freier Staaten zu begründen. Die Sicht Fichtes ändert sich mit der napoleonischen Eroberungspolitik. Die Abschaffung des Feudalismus gebar nicht den ewigen Frieden, sondern neue Kriege. Ein ewiger Friede bleibt zwar unverrückbares Ideal, doch hat es nunmehr nur den Rang einer politischen Utopie, eines bloßen Konjunktivs. Auf eigentlich politischer Ebene bleibt, wie D. Losurdo vermerkt, höchstens der „sichere Friede”, gegründet auf einem partiellen Gleichgewicht der Staaten, das einzige realistische Programm.[24]
Den Befreiungskrieg gegen Napoleon unterzog Fichte einer eingehenden Analyse. Er bezeichnete ihn als „wahrhaften Krieg”, als „Volks-Krieg”, im Unterschied zum „landläufigen Krieg”, der nur im Interesse der herrschenden Schichten geführt wird. Fichte selbst nahm an den Übungen des Landsturms teil. Der Freiheitskrieg ist für Fichte Instrument der Durchsetzung des Vernunftprinzips, Mittel zum ewigen Frieden. Den Volkskrieg gegen Napoleon betrachtet er als geschichtliche Möglichkeit, die Volksherrschaft zu begründen. Seine Vorstellungen von der gesellschaftlichen Erneuerung Deutschlands legte Fichte in seinem politischen Testament, dem „Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühjahr 1813”, einem der bedeutendsten Dokumente des politischen Denkens jener Zeit, nieder. In dieser zur Selbstverständigung verfassten Schrift zeigte Fichte die möglichen sozialen Komponenten des Volkskampfes gegen die napoleonischen Okkupanten auf. In dieser Schrift kommt das Ziel, ein freies, einheitliches und unabhängiges Deutschland zu schaffen, mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Ein einheitliches Deutschland setzt nach Fichte die Abschaffung der Fürstenherrschaft voraus. Die geschichtliche Perspektive Deutschlands ist in der Errichtung einer bürgerlichen Republik begründet: „… kein Volk von Sklaven ist möglich. Nicht mehr umzubilden daher wäre ein Volk, noch zum Anhange eines anderen zu machen, wenn es in einen regelmässigen Fortschritt der freien Verfassung hineingekommen. Dazu also ist es fortzubilden, um seine nationale Existenz zu sichern. Dies ist ein Hauptgedanke!”[25] Fichte hält – historisch weit vorausschauend – sogar die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden, seine Nationalisierung für unabdingbar.
Impulse Fichtes für den Marxismus
Im Junghegelianismus wirkten die Ideen Fichtes als Ferment der Kritik des spekulativen Idealismus Hegels. Bei C. F. Köppen wurden Fichtes Schriften zur Französischen Revolution in das gesellschaftskritische Denken des Junghegelianismus integriert. Der junge Karl Marx beschäftigte sich u. a. ausführlich mit der Fichteschen Rechtsphilosophie, wobei ihm „der Gegensatz des Wirklichen und Sollenden, der dem Idealismus eigen war”[26], sehr störend hervortrat. Wiederholt kritisierte Marx die Hypertrophierung des Ich in der Fichteschen Philosophie. Für Fichte sei der „metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur”[27] maßgebend. Auf der anderen Seite war die Dominanz der praktischen Vernunft, wie sie bei Fichte zu finden war, eine unentbehrliche Voraussetzung für das Marxsche Denken. „Fichtes Vereinigung von Praxis und Vernunft zur ‘praktischen Vernunft’, deren primäre Seinsform das absolute Handeln (durch das Selbstsetzen der Kontraposition) ist, ist der Schlüssel für die Erfassung der weiteren Entwicklung der deutschen Transzendentalphilosophie und für die Marxsche Überwindung der traditionellen Ontologie bei der Kritik der deutschen spekulativen Philosophie, d. h. der Metaphysik der praktischen Vernunft.”[28] Zweifellos bedurfte es der Entschlüsselung der gesellschaftlichen Praxis, die zur Entdeckung der Kategorie des gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses führte, der Vorleistungen der klassischen bürgerlichen Ökonomie und des früheren sozialistischen Denkens. Doch das konzisere Praxisverständnis Fichtes bildete, obgleich es im Idealismus eingeschlossen war, insofern es in das progressive gesellschaftliche Bewusstsein einging, eine unentbehrliche gedankliche Voraussetzung für die Revolutionierung des Gesellschaftsverständnisses durch Marx. Schlüssiger als seine Vorgänger erhebt Fichte das Verhältnis des Menschen zur Welt zum Gegenstand der Philosophie. Fichte erfasst präzise die fundamentale Bedeutung der Subjekt-Objekt-Relation, die aus den Arbeits-, Tätigkeits- und Erkenntnisbeziehungen der Menschen abgeleitet ist, wenngleich die Bewusstseinsfunktion von ihm idealistisch verselbständigt wird. Bedeutsam ist Fichtes Einsicht, dass Dialektik unentbehrliche Methode der Gedankenentwicklung ist, die Kategorien auseinander abgeleitet werden müssen. Für Fichte ist die Seinsweise des absoluten Ich Tätigkeit, Prozess, damit widersprüchlich. Für ihn sind Sein und Selbstbestimmung, Selbstsetzung identisch. Bei ihm findet sich ein viel tieferes, fundamentaleres Verständnis des Widerspruchs als bei seinen Vorgängern. Auch Kant fasste den Widerspruch als notwendig, aber er fiel bei ihm in das Subjekt und wurde antinomisch interpretiert. Bei Fichte ist die fundamentale Seinsweise das Sichselbstsetzen durch Entgegensetzen. In der neuzeitlichen Philosophie tritt erst bei Fichte, wie J. Zelenỳ notierte, die Idee der fundamentalen positiven und ontologischen Bedeutung des Widerspruchs in explizierter Form auf, wenngleich mit Inkonsequenzen und Rückfällen behaftet.[29]
Fichtes Vermächtnis in der DDR und für die Gegenwart
In der DDR hatte die Würdigung Fichtes anlässlich seines 200. Geburtstages im Jahre 1962 eine beträchtliche Breitenwirkung. Die Fichte-Ehrung war eingebettet in das Ringen um die Lösung der Lebensfragen des deutschen Volkes nach dem zweiten Weltkrieg, um die Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens in Ostdeutschland, um gesamtgesellschaftlichen und geistigen Fortschritt, in den Kampf gegen den wiedererstehenden Imperialismus und Militarismus in der BRD. Die humanistischen Ideen Fichtes, die sozialkritischen Implikationen seines Denkens, die in den Forderungen des Rechts auf Arbeit und des Rechts auf Existenz gipfelten, seine Lehre vom immerwährenden Frieden, seine Gedanken zur nationalen Selbstbestimmung, zur demokratischen Nationalerziehung und zum Zusammenhang von nationaler und sozialer Frage waren Kernpunkte der Fichte-Ehrung. An allen Universitäten und Hochschulen wurde der 200. Geburtstag Fichtes gewürdigt. Alle Tageszeitungen und viele andere Presseorgane publizierten Beiträge zu Fichte. Neben einem Staatsakt der Regierung der DDR in der Berliner Staatsoper sind besonders die wissenschaftlichen Konferenzen an den ehemaligen Wirkungsstätten Fichtes in Berlin und Jena hervorzuheben, die die philosophische Leistung Fichtes und die Lebendigkeit seines Vermächtnisses verdeutlichen. Im Akademie-Verlag gab M. Buhr den Band „Wissen und Gewissen” heraus, in dem namhafte Wissenschaftler des In- und Auslands die verschiedenen Aspekte des Fichteschen Denkens erörterten. Nicht zuletzt soll auf die Ehrung Fichtes in seinem Geburtsort Rammenau verwiesen werden, wo nicht nur in einem bewegenden Festakt das demokratische und soziale Anliegen des großen Sohnes dieser Gemeinde und die Lebendigkeit seiner Ideen veranschaulicht wurde, sondern auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Jubiläum durch die Einwohner des Ortes selbst vielfältige gesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten ausgelöst wurden.
Die Fichte-Ehrung des Jahres 1962 inspirierte die Erforschung des nationalen philosophischen Erbes als eines organischen Bestandteils des sozialistischen Geschichtsbewusstseins. D. Bergner verwies in einem Beitrag für die „Deutsche Zeitschrift für Philosophie” auch auf die Bedeutung des philosophischen Erbes für die Analyse und Kritik der bürgerlichen, vorrangig irrationalistischen Philosophie der Gegenwart, in der, wie er ausführte, das progressive philosophische Erbe weitgehend destruiert bzw. einseitig interpretiert wird.[30]
Das Fichte-Jubiläum 2012 findet unter gänzlich veränderten Vorzeichen statt. In Ostdeutschland, in Osteuropa und in den übrigen Gebieten der früheren Sowjetunion ist der Kapitalismus mit all seinen Gebrechen und barbarischen Wesenszügen restauriert. Entgegen den Fichteschen Intentionen ist die Gesellschaft heute durch tiefe soziale Gegensätze gekennzeichnet. Riesigen Reichtümern auf der einen Seite steht in der heutigen Welt wachsende Verarmung und Verelendung auf der anderen Seite entgegen. Die von Fichte kritisierte Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme hat ein neues, noch krasseres Ausmaß angenommen.
Heute existiert eine Gesamtausgabe der Werke Fichtes, die von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften besorgt wurde. Diese Edition ist äußerst verdienstvoll. Eine Vielzahl von Arbeiten zu einzelnen Aspekten des Schaffens Fichtes wurde publiziert, was sich in den letzten beiden Jahrzehnten besonders in den „Fichte-Studien” manifestierte. Doch in den Blickwinkel gerät zumeist nur ein mehr oder weniger autonom interpretiertes Text- und Begriffsgebäude. So diffizil manche Untersuchungen auch sein mögen, der wirkliche Gehalt des Fichteschen Denkens wird vielfach nur unzureichend erfasst. In einer Zeit, in der die Ideen der Postmoderne, der Destruktion der Wirklichkeit und ihres Gesamtzusammenhanges vorherrschen, besitzt das Denken Fichtes einen unvermindert hohen Stellenwert. Seine Ideen der Hochschätzung der menschlichen Würde, des menschlichen Intellekts und der Wissenschaft stehen den Positionen der Postmoderne und anderen Strömungen der zeitgenössischen bürgerlichen Niedergangsideologie diametral entgegen. Fichtes Proklamation des Rechts auf Arbeit und des Rechts auf Existenz sind ein Plädoyer gegen die heutige Hartz-IV-Gesetzgebung. Das von Fichte fixierte Recht auf Revolution bleibt weiterhin ein Recht, dessen Realisierung den Völkern aufgegeben ist.
* Teil I erschien in Z 89, März 2012, S. 162-171.
[1] J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: J. G. Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. Von R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. I.10, S. 205.
[2] W. Krauss, Nationalismus und Chauvinismus. In: Ders., Das wissenschaftliche Werk, Bd. 1, Literaturtheorie, Philosophie und Politik, hg. von M. Naumann, Berlin und Weimar 1984, S. 390.
[3] J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre (1804), in: Akad.-Ausg., Bd. I. 8., S. 43.
[4] Ebd., S. 119.
[5] Vgl. H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 2/2, Berlin 1971, S. 260.
[6] Meister Eckhart, Werke II, Frankfurt a. M. 2008, S. 547.
[7] H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 2/2, a.a.O., S. 267.
[8] Vgl. H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 2/1, a.a.O., S. 128.
[9] J. G. Fichte, Einleitung in die Wissenschaftslehre Herbst 1813, in: Ultima inquirenda, J. G. Fichtes letzte Bearbeitungen der Wissenschaftslehre Ende 1813/Anfang 1814, hg. von R. Lauth, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 4.
[10] Ebd., S. 10.
[11] J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre (1804), S. 410.
[12] Ebd., S. 417.
[13] J. G. Fichte, Die Thatsachen des Bewußtseins, in: Akad.-Ausg., Bd. II.12, S. 105.
[14] J. G. Fichte, Rechtslehre 1812, in: Akad.-Ausg., Bd. II.13, S. 230.
[15] Ebd., S. 241.
[16] K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, Herbst 1894, in: MEGA(2), Berlin 1975 ff., Bd. II.15, S. 795.
[17] K. Marx, Ökonomische Manuskripte 1857/58, in: MEGA(2), Band II.1.2, S. 499.
[18] J. G. Fichte, Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche, in: Akad.-Ausg., Bd. II.16, S. 57.
[19] Ebd., S. 54.
[20] Ebd., S. 57.
[21] Ebd., S. 66.
[22] Ebd., S. 132.
[23] J. G. Fichte, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant (Rezension), in: Akad.-Ausg., Bd. I.3, S. 227f.
[24] Vgl. D. Losurdo, Fichte, die Französische Revolution und das Ideal vom ewigen Frieden, in: M. Buhr/D. Losurdo, Fichte – die Französische Revolution und das Ideal vom ewigen Frieden, Berlin 1991, S. 129f.
[25] J. G. Fichte, Aus dem Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühling 1813, in: Sämmtl. Werke, hg. v. J. H. Fichte, Berlin 1845f., Bd. 7, S. 549f.
[26] K. Marx, Karl Marx an Heinrich Marx in Trier, Berlin, 10./11. November 1837, in: MEGA(2), Bd. III/1, S. 10.
[27] K. Marx/ F. Engels, Die heilige Familie, in: K. Marx/ F. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1957, S. 147.
[28] J. Zelenỳ, Die Wissenschaftslogik bei Marx und „Das Kapital”, S. 319.
[29] J. Zelenỳ, Die dialektische Ontologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 144.
[30] Vgl. D. Bergner, Lebendiges nationales Erbe – Zur Fichte-Ehrung in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (10), 11/1962, S. 1347ff.