Die unübersichtliche aktuelle Weltlage wird besser verständlich, wenn man sie aus der Perspektive globaler Hegemonieverschiebungen im Weltkapitalismus betrachtet. Dabei stehen zwar die Verhältnisse zwischen den USA und China im Mittelpunkt. Es wäre aber verfehlt, die damit verbundenen Veränderungen nur aus der Perspektive von festen Blöcken (globaler Norden/globaler Süden) zu betrachten. Ganz wesentlich sind Differenzierungen innerhalb der Ländergruppen. Zu diesem Ergebnis kommen die Teilnehmer eines wissenschaftlichen Kolloquiums zu „Hegemonieverschiebungen in der Weltwirtschaft – Neue Konfliktfelder“, das die Z-Redaktion im März 2019 veranstaltet hat. Im Schwerpunkt des vorliegenden Heftes werden zentrale Beiträge zum Thema dokumentiert.
Dieter Boris gibt einen Überblick über Verschiebungen in den wirtschaftlichen Machtverhältnissen, die sich auf den ersten Blick als Aufstieg des „globalen Südens“ darstellen. Hegemoniewechsel sind keine neue Erscheinung, aktuell vollziehen sie sich aber unter den spezifischen Bedingungen neoliberaler Globalisierung. Merkmale sind dabei eine Renaissance der (nationalen) Entwicklungsstaaten und Differenzierung innerhalb der Blöcke: Kategorien wie globaler Norden bzw. Süden seien daher irreführend. Thomas Sablowski spitzt diese Kritik hinsichtlich des „globalen Südens“ zu: Im Konflikt USA/China sei z.B. die EU immer noch subalterner Teil des Westens, der Aufstieg Chinas aber sei eine spezifische Erscheinung, man können daher nicht von einer generellen „Emanzipation“ des Südens sprechen. Die Differenzierung innerhalb der Ländergruppen stellt auch Peter Wahl in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Aktuelles Merkmal seien Deglobalisierungstendenzen, verbunden mit einer Neigung zu Anarchie und Verlust von Steuerungsfähigkeit im internationalen System. Eine besondere Gefahrenquelle sei der „rabiate Unilateralismus“ der USA, die immer noch hoffen, ihre Vormachtstellung erhalten zu können. Franz Garnreiter verweist darauf, dass die Position der USA u.a. wegen des Dollar-Privilegs noch stark sei, dass wachsende Leistungsbilanzdefizite und internationale Verschuldung die Leitwährung jedoch schwächen könnten. Andrés Musacchio beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Varianten neoliberaler Orientierung vorwiegend in den entwickelten Ländern. Dabei unterscheidet er zwei Ebenen: Die der Produktionsstrukturen (Industrie versus Finanzwirtschaft) und die der Handlungsautonomie. Die damit verbundenen Ungleichgewichte in Handels- und Zahlungsbilanzen könnten zwar kurzfristig durch Devisenströme ausgeglichen werden, mittelfristig aber müsse das zu neuen Schuldenkrisen führen. Einem speziellen theoretischen Ansatz folgt Stephan Krüger. Ausgehend von der Marxschen Kategorie der „gesellschaftlichen Betriebsweise“ macht er darauf aufmerksam, dass die nationalen Ökonomien nach wie vor der Rahmen sind, in dem sich die Tendenz zum Ausgleich der Profitraten vollzieht. Dies begründe Dominanz und Unterschiedlichkeit nationaler Ökonomien. Anknüpfend an ältere Debatten über eine Neue Weltwirtschaftsordnung geht Rainer Falk der Frage nach, ob die wachsende Rolle neuer Wirtschaftsmächte aus dem Süden eine Veränderung der Weltwirtschaftsordnung mit sich bringen würde. Heute treten zwar neue gewichtige Akteure auf, diese verträten aber keine systemischen Alternativen. In diesem Kontext plädiert er dafür, internationale Organisationen wie z.B. die WTO zu nutzen, um der völligen Aufhebung von regelgebundenen Verfahren entgegenzuwirken. Simone Claar fragt, ob der wirtschaftliche Aufstieg der Schwellenländer einen Beitrag zur Lösung ökologischer Probleme leistet. Zwar würde derzeit einigen armen Ländern „grüne Ökonomie“ als Lösung angeboten, für die aufstrebenden Schwellenländer aber blieben Wachstum und kapitalistische Entwicklung zentrale Bezugspunkte. In vielen Beiträgen klingt die Frage an, ob die sich aktuell vollziehenden, mit der Auflösung von Blöcken verbundenen Hegemonieverschiebungen auf friedliche Weise vor sich gehen könnten. Werner Ruf untersucht die militärischen Kräfteverhältnisse und stellt fest, dass der aktuellen Übermacht der USA die ökonomische Grundlage abhandengekommen sei. In diesem Kontext sei aber nicht die Bipolarität USA/China die Haupttendenz, sondern eine Zunahme von Rivalitäten auch innerhalb des Westens, verbunden mit Aufrüstung und Militarisierung. Würde Deutschland den Schwerpunkt seiner Außenpolitik auf die Herstellung eines Systems kollektiver Sicherheit (unter Einschluss Russlands) legen, dann könnte dies auch jene Kräfte stärken, die nach einem friedlichen Interessenausgleich zwischen den USA und China streben. Lucas Zeise gibt einen instruktiven Bericht zum Kolloquium in der auch ansonsten gut bestückten Rubrik „Berichte“.
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Kapitalismus-Theorie: In dieser Rubrik werden verschiedene Dimensionen des Gegenwarts-Kapitalismus analysiert. Jürgen Leibiger hinterfragt die von Paul Mason, Jeremy Rifkin und anderen vertretene These, nach der Informationstechnologien und das Internet Formen des Gemeineigentums hervorbringen, die den Kapitalismus untergraben. Seine detaillierte Untersuchung der Eigentums- und Machtverhältnisse sowie der Verwertungsketten im „Netz“ zeigt, dass von „Commons“ und „Commonismus“ keine Rede sein kann. Rainer Rilling setzt sich, ausgehend von einer neuen Studie von Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, mit dem Phänomen der „Bereicherungsökonomie“ auseinander. Es geht um „Ausbeutung heterogener und scheinbar alleinstehender Ressourcen wie Künste, Kultur, Luxusindustrie (…) oder Tourismus“. Untersucht werden die expandierenden globalen „Märkte“ für Luxusgüter, hochpreisige Immobilien, Reiseziele und Kunstobjekte, deren Werthaltigkeit gezielt durch Kulturpolitik zugunsten der Kapitaleigentümer und Reichen gesteigert wird. Andreas Wehr rekapituliert die Analysen zum Verhältnis von Nation und Staat in der Geschichte und im heutigen Kapitalismus in den Schriften des unlängst verstorbenen marxistischen Philosophen und Gesellschaftstheoretikers Domenico Losurdo. Er empfiehlt dessen staatstheoretische Arbeiten mit Blick auf aktuelle Problemkonstellationen (Ende des Nationalstaats? Rolle des Staates für soziale Errungenschaften und die Stabilisierung postkapitalistischer Verhältnisse) und eine kritische Geschichte des Sozialismus.
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Klassen und Arbeitskämpfe: Thomas Goes greift die laufende Debatte über Klassen und Klassenanalyse auf und kritisiert die in Z116 veröffentlichten Beiträge von Nicole Mayer-Ahuja und Klaus Dörre. Die Vorstellung einer großen Arbeiterklasse, wie er sie bei Mayer-Ahuja formuliert sieht, sei zu einfach. Die von Dörre formulierten Thesen zur Klassenformierung mehrerer Lohnabhängigenklassen, so Goes, überzeugten allerdings auch nicht. Er ruft daher einige Grundlagen des marxistischen Klassenbegriffs auf und formuliert einen eigenen Vorschlag zur Klassenstrukturierung im Gegenwartskapitalismus. Im „Streikmonitor“ geben Dirk Müller und Juri Kilroy eine Übersicht zu den Arbeitskämpfen 2018. Besonders hervorzuheben ist die starke Ausweitung der Streikaktivitäten im Rahmen der großen Tarifauseinandersetzungen in der Metall- und Elektroindustrie und im Öffentlichen Dienst mit rd. 1,2 Millionen Streikbeteiligten. Eingehend analysiert wird die erstmals erfolgreiche transnationale Organisation von Beschäftigten und Arbeitskämpfen bei der Airline Ryanair.
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Weitere Beiträge: Die Krise in Venezuela ist, wie Raina Zimmering konstatiert, Resultat einer Gemengelage von US-amerikanischen Sanktionen, sinkendem Erdölpreis, einer verfehlten Politik der Maduro-Regierung und einer zunehmend feindlichen Haltung der lateinamerikanischen Nachbarländer. Die Autorin kritisiert die außenpolitische Haltung der Bundesrepublik gegenüber Venezuela, die sich vollständig im Kielwasser der US-Sanktions- und Regimechange-Politik bewegt, statt auf eine Überwindung der Krise durch Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition zu orientieren. Holger Czitrich-Stahl und Rainer Holze geben im zweiten Teil ihres Literaturberichts zu 100 Jahren Novemberrevolution (Teil I in Z 115) eine Übersicht zu neueren Gesamtdarstellungen, Regionaluntersuchungen und Dokumenten der Erinnerungskultur. Neben Buchpublikationen gehen sie auch auf Veröffentlichungen in Zeitschriften der Linken ein. Sie konstatieren eine „Zunahme von Publikationen mit einem linken, von der klassischen Partei- und Verbandsgeschichtsschreibung unabhängigen Hintergrund“. Stärkere Beachtung findet, so ihre Beobachtung, die Frage nach den Trägern der Revolution. Handlungsleitende Werte und Standards der Individuen in ihrem Alltag sind das Thema des Beitrags von Dieter Kramer, für die er die Begriffe Milieu, Klasse und Schicht in ihrer unterschiedlichen Bedeutung nutzbar macht. Veränderbare Kulturprozesse, die Gemeinschaftsbildungen prägen, werden von Kramer in der Auseinandersetzung mit aktuellen Texten von Eribon, Reckwitz u.a. gegen simplifizierende Sichtweisen der Bewusstseinsprägung stark gemacht.
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„Kleine Rubriken“: Kommentare, Zuschriften, Zeitschriftenschau, Berichte und Buchbesprechungen bieten eine Fülle von Überlegungen zu ideologischen und politischen Aspekten aktueller Bewegungen wie der laufenden theoretischen und Geschichts-Diskussion in der marxistischen Linken.
Vorschau: Z 119 (September 2019) wird u.a. Beiträge zur DDR im Herbst 1989, zur Marx-Engels-Forschung (Interpretation des „Kapital“), zu Ökosozialismus und zur Entwicklung in Venezuela bieten. Das Thema politische und soziale Bewegungen in der BRD wird uns weiter beschäftigen.