Editorial

März 2019

Die Welt scheint aus den Fugen. In fast allen entwickelten kapitalistischen Ländern – den USA ebenso wie jenen der EU – zeigen sich ausgeprägte Erosionserscheinungen der traditionellen politischen Systeme. Soziale Desintegrationsprozesse spitzen sich zu, vormals stabile Parteien und Parteiensysteme lösen sich auf, autoritär-nationale Demagogie hat Zulauf. Der Kontrollverlust der politischen und ökonomischen „Eliten“ ist mit Händen zu greifen. „Neue Unsicherheit“ greift um sich. Die Krise der politischen Parteien und der Politik stehen im Mittelpunkt dieser Ausgabe.

Frank Deppe sieht mit Marx und Gramsci die Ursachen für den zu konstatierenden Hegemonie- und Kontrollverlust, für die „Krise der Repräsentation“ in der Verdichtung von Krisenerscheinungen und Krisenangst auf ganz unterschiedlichen Gebieten. Spielräume zum Krisenmanagement gäbe es bei einer erneuten Finanzkrise nicht mehr. Viele Probleme – darunter die ökologische Krise, zunehmend aggressiv ausgetragene Konkurrenz im globalisierten Kapitalismus, die mit Migration verbundene Ungleichheit zwischen den Weltregionen und der Zerfall der alten Weltordnung – könnten nur im multilateralen Rahmen behandelt werden. Die ökonomisch herrschende Klasse verfügt aber offensichtlich über kein glaubwürdiges Projekt, um diese Herausforderungen adäquat zu behandeln.

Am Beispiel der italienischen Regierung aus Lega und 5-Sternen untersucht Stefano Azzarà den Zerfall des historischen Blocks, den die populistischen Protagonisten als „Wiederherstellung der Volkssouveränität“ jenseits des rechts-links-Gegensatzes darstellen. Azzarà interpretiert ihn als transpolitischen Mythos. Es handele sich um eine Rebellion der einfachen Leute, mehr noch die Rebellion eines bisher subalternen Teils der herrschenden Klasse gegen politischen Liberalismus, Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus. Klaus Dräger gibt einen Überblick über die sozialen Kräfte in Großbritannien und ihre jeweiligen Motive, die letzten Endes zu einer Mehrheit für den Brexit geführt haben. Ein ungeordneter Austritt aus der EU („No-deal-Brexit“) berge zwar gewisse Risiken, würde die Chancen für einen „Lexit“, einen linken Ausstieg unter einer Labour-Regierung, aber verbessern. Die Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten Frankreichs hat den Zerfall des traditionellen Parteiensystems der V. Republik beschleunigt. Bewegungen wie die der „gelben Westen“, die sich gegen die alten politischen Institutionen wenden, unterstreichen deren Schwäche. Sebastian Chwala zufolge verweisen die aktuellen Prozesse auf strukturelle Defizite der französischen Demokratie: auf die Abgehobenheit der in ‚Grandes Ecoles‘ ausgebildeten französischen Führungsschicht einerseits und die Missachtung der Volksklassen und ihrer ökonomischen Probleme durch die traditionelle Rechte und die Sozialisten gleichermaßen. Die französische Forschergruppe Quantité critique hat das politische Selbstverständnis der „gelben Westen“ untersucht: Etwa die Hälfte der Akteure sieht sich als politisch ungebunden („weder rechts noch links“). Obwohl ein Fünftel der Befragten bei den Präsidentschaftswahlen für rechte Kandidaten gestimmt hatte, spielt Fremdenfeindlichkeit in der Bewegung keine Rolle. Ökologische Aspekte würden durchaus wahrgenommen. Trotz ähnlicher Forderungen herrschte anfangs große Distanz zwischen den „Westen“ und den traditionellen Gewerkschaften. Der Streik- und Aktionstag vom 5. Februar 2019 hat erstmals gezeigt, dass die Differenzen überwindbar sind. Die Umwälzung der Parteienlandschaft Spaniens hat Armando Fernández Steinko zufolge drei Ursachen. Das sind erstens die Folgen der Weltwirtschaftskrise 2008 und die Politik der Begünstigung des Finanzkapitals; zweitens die Korruption, vor allem in der konservativen Volkspartei, aber auch bei den Sozialisten; drittens hätten die Nationalitätenkonflikte in Katalonien zur Vernachlässigung der Interessen der nicht-katalanischen Arbeiterschaft geführt.

Den Veränderungen im Parteiensystem der Bundesrepublik und der Rolle sozialer und politischer Protestbewegungen sind mehrere Beiträge gewidmet. Horst Kahrs sieht noch keine „Erosion des Parteiensystems“, eher eine „bemerkenswerte Stabilität“. Man könne aber tektonische Verschiebungen innerhalb des Systems feststellen, vor allem im Verhältnis zwischen Parteien und Wählern. Gründe für ein sich abzeichnendes „autoritäres Jahrhundert“, wie es sich im gegenwärtigen Aufstieg der Rechten ausdrückt, werden im zweiten Teils des Beitrags diskutiert. Die sozialen und politischen Desintegrationsprozesse drücken sich auch in einer deutlichen Zunahme sozialer und politischer Konflikte und Bewegungen aus. In ihnen artikuliert sich zunehmendes Unbehagen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. André Leisewitz, Jürgen Reusch, Gerd Wiegel und Michael Zander versuchen eine vorläufige Bestandsaufnahme dieser sozialen und politischen Protestbewegungen im zurückliegenden Jahrzehnt. Dies betrifft auch rechte Mobilisierungen. Zwischen betrieblich-gewerkschaftlichen Kämpfen und demokratischen, außerparlamentarischen Bewegungen bestehen nach wie vor wenig Gemeinsamkeiten – eine Ursache dafür, dass diese Bewegungen bisher noch nicht zu einem wirksamen Druckfaktor auf der Ebene der Politik werden konnten. In einem ergänzenden Dossier wird die Berliner #unteilbar-Demonstration vom Oktober 2018 genauerbetrachtet. Mit knapp einer Viertelmillion Teilnehmenden war sie eine der größten linken Mobilisierungen seit vielen Jahren. Corinna Genschel und Anna Spangenberg, zwei Aktivistinnen des Bündnisses, berichten im Gespräch mit der Redaktion darüber, wie es gelang, unterschiedliche soziale und emanzipatorische Kämpfe unter dem Label „unteilbar“ zusammenzuführen und eine Entgegensetzung von Anerkennungs- und Klassenpolitik zu vermeiden. Klaus Dörre fragt nach den Chancen, den Protest als neue Massenbewegung zu verstetigen. Einen wichtigen Ansatzpunkt sieht er in der gelungenen Verbindung von Menschenrechts- und sozialen Forderungen. Jürgen Reusch zeigt anhand der Redebeiträge der #unteilbar-Demo die Heterogenität der dort vertretenen Positionen, aber auch die Ansätze für einen möglichen Konsens zu Schritten für eine solidarische gesellschaftliche Umgestaltung.

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Marx-Engels-Forschung: Der Begriff der Nachhaltigkeit kommt bei Marx noch nicht vor, wohl aber der diesbezügliche Denkansatz, wie Konrad Lotter nachweist. Er ist Teil von Marx‘ Überlegungen zur Ökologie, die er als Stoffwechsel der Natur fasste.

Arbeitskraft – Lohntheorie – Gewerkschaftspolitik: Stephan Krüger zeigt, dass die Mehrwertrate in Deutschland zwischen 1950 und 1980 fast kontinuierlich gesunken ist. Das änderte sich erst, als sich seit Mitte der 1970er Jahre der Druck auf Löhne und Gehälter nachhaltig verstärkte. Helmut Knolle untersucht den Zusammenhang zwischen den Lohntheorien von Ricardo und Marx. Marx habe den demografischen Aspekt bei Ricardo nicht übernommen, u.a. aus Ablehnung der inhumanen malthusianischen Argumentation. Robert Sadowsky bewertet den Tarifabschluss der IG Metall zu neuen Arbeitszeitregelungen als großen gewerkschaftlichen Erfolg. Erste Erfahrungen mit dessen betrieblicher Umsetzung verwiesen auf den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitverkürzung und drohender Leistungsverdichtung. Das Thema Leistungspolitik müsse nun verstärkt auf die betriebspolitische gewerkschaftliche Agenda.

Weitere Beiträge: Jan Rehmann stellt die von W. F. Haug herausgegebene neue Ausgabe von Antonio Labriolas Werk „Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung“ vor und würdigt dessen – in der Geschichte des Marxismus nach Ansicht des Herausgebers verkannte – Bedeutung für die Entwicklung einer „Philosophie der Praxis“.

Sebastian Zehetmair setzt unsere Artikelfolge zur deutschen Novemberrevolution 1918/19 mit einer Analyse der Revolution in Bayern fort. Für ihn ist die Räterepublik von 1919 mehr als eine rein „Münchener“, aber doch deutlich weniger als eine gesamt-„bayerische“ Räterepublik. Ihre soziale Basis sei zu schwach gewesen, um die Revolution gegen die innere Spaltung durch die MSPD und nach außen die Freikorps zu verteidigen. Die blutige Rache der Reaktion beendete auf Jahrzehnte linke Perspektiven in Deutschlands Süden.

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Manfred Neuhaus erinnert einführend in der Kommentarrubrik an unsere verstorbene Autorin Annelies Laschitza als große Luxemburg-Kennerin und Editorin. In Z 115 erschien einer ihrer letzten Beiträge über „Rosa Luxemburg und die welthistorische Bedeutung von Revolutionen“. Kommentiert wird die Aufstellung der Linken zu den anstehenden Europawahlen (Peter Wahl), die skandalösen Steuerentlastungen für Großkonzerne in der EU (Jörg Goldberg) und die potentiell destabilisierenden Folgen der US-amerikanischen Aufkündigung des INF-Vertrages (Lühr Henken/Werner Ruf). Wir verweisen auf die Tagungsberichte und Beiträge zur Zeitschriftenschau und zu aktuellen Debatten sowie zahlreiche Buchbesprechungen.

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Z 118 (Juni 2019) wird u.a. Hegemonieverschiebungen in der Weltwirtschaft thematisieren.