Klassen und neue Klassendiskussion

Soziale Klassen in Europa

von Jörg Goldberg
Dezember 2018

Dass sich die sozialen Unterschiede sowohl innerhalb der Mitgliedsländer der Europäischen Union als auch zwischen diesen – vor allem seit der Krise 2008 – weiter akzentuieren kann als Gemeinplatz gelten. Vor allem was die Verteilung von Einkommen und Vermögen angeht gibt es eine Fülle von Daten, die eine wachsende Ungleichverteilung belegen. Allerdings hat die zunehmende Ungleichheit keineswegs dazu geführt, dass die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen gerückt ist. Auch hat sich trotz vieler gemeinsamer Krisenerfahrungen keine europäische Gegenbewegung formiert. Drei französische Forscher des CNRS[1] haben unlängst eine Analyse der Klassenverhältnisse in Europa vorgelegt[2], die auch als Grundlage für politisches Handeln dienen möchte: Über eine Beschreibung der Ungleichheiten hinaus gelte es die Frage zu stellen, „welches die Bedingungen für eine mögliche europäische soziale Bewegung sind.“ (10) Ihrer Ansicht nach sei ein „repli national“, also ein Rückzug auf den nationalen Schutzraum, zwar nachvollziehbar und auf kurze Sicht auch eine mögliche Verteidigungslinie, trage aber den Realitäten des europäischen Kapitalismus nicht Rechnung. Mittel- und langfristig könne der nationale Blickwinkel nicht dazu beitragen, die sozialen Kräfteverhältnisse zu verbessern (210).

Dazu möchten die Autoren beitragen, indem sie ein detailliertes Bild der europäischen Klassenverhältnisse zeichnen. Auf diesem Gebiet ist das Buch innovativ. Da es leider nur auf Französisch verfügbar ist, seien im Folgenden die wichtigsten Resultate der Forscher dargestellt.

Die Konstruktion eines empirisch tauglichen Klassenbegriffs

Wichtig und innovativ ist zunächst, dass versucht wird, die nationalen und die europäischen Dimensionen der sozialen Ungleichheiten bzw. Klassenunterschiede miteinander zu verknüpfen. Die Lebensbedingungen von Angehörigen der Unterschichten z.B. in Deutschland einerseits und in Rumänien andererseits unterscheiden sich erheblich – trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten. Der zweite wichtige Aspekt betrifft die Bestimmung der sozialen Ungleichheiten und damit der Klassenunterschiede: Es geht nicht nur um die erwähnten Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen, sondern auch um die Arbeitsbedingungen, die Lebensstile, die Wohnverhältnisse, den Zugang zu sozialen Diensten und die Freizeitaktivitäten.[3] Die Autoren diskutieren den Klassenbegriff selbst kaum – sie beziehen sich wesentlich auf den Ansatz von Bourdieu, der die Klassenverhältnisse auf die Gesamtheit des ökonomischen und kulturellen Kapitals bezieht.[4] Da das Ziel der Autoren eine – unter dem Gesichtspunkt der Handlungsorientierung – möglichst genaue empirische Darstellung ist, müssen sie sich auch begrifflich auf die verfügbaren Daten stützen, die einer bestimmten Klassifikation folgen. Ihrer Ansicht nach kommt die Klassifikation nach sozio-professionellen Kriterien – also nach Berufen bzw. sozial-professionellen Gruppen – ihrem Ansatz am nächsten. Hierbei stützen sie sich auf die EU-Klassifikation „European Socio-economic Groups“ (ESeG), die 9 große Berufsgruppen und 42 Untergruppen definiert.[5] Da die Autoren sich auf die Beschäftigten konzentrieren, analysieren sie nur 7 Hauptgruppen und 30 Untergruppen von Berufen. Diese Berufsgruppen werden mit vier großen europäischen Untersuchungen kombiniert, die in gewissen Zeitabständen und mit großen Untersuchungsgruppen von Eurostat bzw. Eurofund durchgeführt werden: Dem „Labour Force Survey“, den „European Union Statistics on Income and Living Conditions“, dem „Adult Education Survey“ und dem „European Working Conditions Survey“. Auf der Grundlage der dadurch generierten Daten unterscheiden die Autoren drei große soziale Klassen, die Volksklassen („classes populaires“), die Mittelklassen („classes moyennes“) und die Oberklassen („classes supérieures“). Um die 30 Berufsgruppen den drei großen Klassen zuzuordnen, werden Merkmale wie Einkommen, Schulbildung, hierarchische Position im Arbeitsprozess, Zeitsouveränität und körperliche Belastungen gewählt. Eine zentrale Rolle spielt dabei die „Logik der Domination“ (122), deren Ausgangspunkt die Verfügung über Kapital (ökonomisches und kulturelles) ist. Besonders wichtig für die Zuordnung der jeweiligen Berufsgruppen ist die Stellung in der Hierarchie des Arbeitsprozesses („encadrement“). Dagegen spielt das Beschäftigungsstatut (lohnabhängig/selbständig) keine unmittelbare Rolle, wodurch der Tatsache Rechnung getragen wird, dass sich viele formell Selbständige in ihrer sozialen Lage kaum von einfachen Lohnabhängigen unterscheiden, während hochbezahlte formell Lohnabhängige tatsächlich Angehörige der herrschenden Klasse sind.

Auf den ersten Blick erscheint es fragwürdig, die Zugehörigkeit von Personen zu einer Klasse aus deren beruflicher Stellung abzuleiten. Denn im europäischen Maßstab gibt es durchaus Differenzen hinsichtlich der Qualifikation, der Stellung in der Hierarchie, den Aufgaben usw. eines bestimmten Berufs. Dies berücksichtigen die Autoren, indem sie bei der Klassifikation die jeweiligen Berufe ggf. je nach Land unterschiedlich einordnen (so kann eine Krankenschwester in einem Land zu den intellektuellen Berufen, in einem anderen Land zu den unterstützenden Berufen zählen). Entscheidend ist die Vergleichbarkeit der Stellung in der sozialen Hierarchie (23). Eine weitere Schwierigkeit besteht in der beruflichen Zuordnung der Nichterwerbstätigen, der Arbeitslosen und Rentner. Daher beschränkt sich die vorliegende Analyse auf die Beschäftigten, wodurch gerade die ökonomisch und sozial schwächsten Bevölkerungsgruppen unterrepräsentiert werden. Trotzdem ist es aus praktischen Gründen sinnvoll, bei der Untersuchung der Klassenverhältnisse von der Kategorie der Berufe auszugehen, weil es seit einem Dutzend von Jahren möglich ist, die jeweilige „sozioprofessionelle“ Stellung der Individuen im Lichte großer und wiederholter repräsentativer europäischer Studien über die Beschäftigung und die Arbeits- und Lebensbedingungen zu analysieren. So erhalten wir für jede Berufsgruppe eine Vielzahl von repräsentativen Daten, die Tatbestände wie physische Arbeitsbelastung, Arbeitslosigkeit und Prekarität, Zugang zu Technologien, Wohnverhältnisse, kulturelle Praktiken, Gesundheitsversorgung usw. im Zeitablauf darstellen. Auf dieser Grundlage zeichnen die Autoren ein detailliertes Bild der drei Klassen und der Unterschiede zwischen ihnen sowohl im nationalen wie im europäischen Rahmen.

Tab. 1: Soziale Klassen und Berufsgruppen in Europa (26 Länder)

Tabelle siehe PDF!

Die Volksklassen als fragile Gruppe

Die Volksklassen sind, wie Tabelle 1 zeigt, die quantitativ größte soziale Gruppe in Europa. Sie ist allerdings – je nach Land – sehr unterschiedlich zusammengesetzt.

Tabelle 2: Berufsgruppen der Volksklassen

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Hugrée / Penissat / Spire, a.a.O., S. 56.

Die Frage ist, was diese Gruppen verbindet, die nach ihrer hierarchischen Stellung in der Gesellschaft und nach einigen anderen sozialen Indikatoren zu den Volksklassen gehören. Hervorgehoben wird zunächst die Tatsache, dass die Angehörigen der Volksklassen im Zuge der Europäisierung und Globalisierung der Wirtschaft gezwungen sind, mehr und mehr in Konkurrenz zueinander zu treten – wozu sowohl Produktionsverlagerungen, internationale Arbeitsteilung wie Migration gehören. Ihr hervorstechendes Merkmal ist die Fragilität der sozialen Lage. Der völlige soziale Absturz, die Verarmung und der Zerfall der familiären und sozialen Beziehungen sind eine ständige Gefahr.

Zu den gemeinsamen Zügen zählen vor allem ihre besondere Verletzlichkeit gegenüber Krisen und wirtschaftlichen Konjunkturen und die Position auf den unteren Stufen der sozialen Hierarchie. Zu den Volksklassen zählen überdurchschnittlich viele (außereuropäische) Migranten, ein – entgegen den herrschenden Vorurteilen – sehr altes Phänomen. Nationale Statistiken zeigen, dass die Angehörigen der Volksklassen sich in viel höherem Maße als die Ober- und Mittelklassen auch familiär mit Migranten verbinden: „Im Unterschied zu den Oberklassen, die sich so gerne ihrer transnationalen Beweglichkeit und ihrer Toleranz rühmen, sind die Volksklassen viel multinationaler (‚métissées’) und vermischter als alle anderen sozialen Gruppen.“ (59) Die angeblich tief verankerte Xenophobie der Volksklassen ist, ebenso wie die angebliche Offenheit der Oberklassen, also zu relativieren. Zu den gemeinsamen Merkmalen zählen weiter unstabile Beschäftigungsverhältnisse, hohe körperliche Belastungen bei der Arbeit, niedrige und unstabile Einkommenssituationen, Verzicht auf Urlaubsreisen (die Hälfte der europäischen Volksklassen können sich keine Urlaubswoche leisten) und bestimmte Leistungen der Gesundheitsversorgung. Der durchweg untergeordneten Position der Volksklassen im Arbeitsprozess entspricht eine geringe gewerkschaftliche und politische Aktivität: Nur 9 Prozent der befragten Mitglieder der Volksklassen erwähnen gewerkschaftliche oder politische Aktivitäten, gegenüber 15 bzw. 13 Prozent der Befragten aus den Ober- und Mittelklassen (71). Aus den politischen Vertretungen auf nationaler und mehr noch auf europäischer Ebene sind Angehörige der Volksklassen praktisch völlig verschwunden. Arbeiter und kleine Angestellte gibt es in den nationalen Parlamenten nur noch vereinzelt, im Europaparlament sitzt kein Arbeiter, nur noch zwei Prozent der EU-Deputierten sind Angestellte. Dies hängt stark mit dem Zugang zu bestimmten kulturellen Ressourcen zusammen, den vor allem die Oberklassen monopolisiert haben. Indikator ist die Sprachbeherrschung: 67 Prozent der Angehörigen der Oberklassen sprechen fließend Englisch, gegenüber 28 Prozent in den Volksklassen (146). Längere Auslandsreisen, Bildungs- und Arbeitsaufenthalte im Ausland sind das Privileg der Ober- und Mittelklassen.

Ob diese gemeinsamen Merkmale tatsächlich, wie die Autoren unterstellen, den Weg zu gemeinsamen sozialen Aktivitäten eröffnen, liegt allerdings nicht auf der Hand. Denn die Gemeinsamkeiten bestehen vor allem in der Gemeinsamkeit von Exklusion, Prekarisierung, Unterordnung und Abhängigkeit, also Momenten, die in hohem Maße Konkurrenz konstituieren.

Die Illusion von der Gesellschaft der Mittelklassen

Ob die Bezeichnung „Mittelklassen“ („classes moyennes“) für die quantitativ zweitgrößte Bevölkerungsklasse sinnvoll ist, sei dahingestellt. Die Autoren weisen selbst auf die ideologische Konnotation dieses Begriffs hin. Tatsächlich verstehen sie darunter etwas anderes als jene, die den Begriff zu politischen Zwecken benutzen.

Tabelle 3: Wichtige Komponenten der europäischen Mittelklassen*

Tabelle siehe PDF!

Die gemeinsamen Züge (und Abgrenzungsmerkmale gegenüber den Angehörigen der in Tab. 2 aufgeführten Berufsgruppen der „Volksklassen“) dieser auf den ersten Blick ziemlich disparaten Beschäftigtengruppen bestehen in der Tatsache, dass ihre Angehörigen einerseits weisungsgebunden arbeiten, andererseits aber anderen Beschäftigten Weisungen erteilen können bzw. diesen z. B. als Angehörige öffentlicher Dienste in einer gewissen Machtposition gegenüber treten. Exemplarisch dafür mag die Position der Unteroffiziere sein, die tatsächlich als Berufsgruppe (0,5 Prozent der Angehörigen der Mittelklasse) gesondert aufgeführt werden. Stark überrepräsentiert sind Angehörige des öffentlichen Dienstes, die weniger der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die relative Stabilität und Geregeltheit der Arbeitsverhältnisse. In ihren kulturellen Praktiken nähern sich die Mitglieder der Mittelklassen eher den Oberklassen an, außerdem zählen sich subjektiv viel mehr Menschen dazu, als es der sozialen Realität entspricht (dies ist in den osteuropäischen Ländern teilweise noch anders). Obwohl ihre Angehörigen durch die Krisen der letzten Zeit und auch durch den sozialen Wandel im Kontext der Digitalisierung tatsächlich weniger stark betroffen sind als die Volksklassen, fühlen sich diese subjektiv stärker berührt als jene – was in der Rede vom „Verschwinden der Mittelklassen“ seinen Ausdruck findet. Die Reaktionen darauf sind in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. In einigen Ländern haben sich vor allem jüngere Altersgruppen stark mobilisiert, in anderen haben rechtsextreme und fremdenfeindliche Parteien profitiert: „In den verschiedenen Regionen des Kontinents haben die europäischen Mittelklassen also nicht auf die gleiche Weise auf die Verschlechterung ihrer Position auf dem Arbeitsmarkt reagiert.“ (118) Das spricht nicht gegen die von den Autoren durchgeführte Abgrenzung – die Abweichung von der meist auf Einkommensgrenzen[6] basierenden Praxis, die Ergänzung um Aspekte wie Arbeitsbedingungen und kulturelles Kapital, die Fokussierung auf den Platz in der Organisation der Arbeit erscheint schlüssig. Allerdings ist auch bei dieser Kategorie nicht offensichtlich, wie das nationale Kampffeld um die europäische Dimension erweitert werden kann.

Die multiple Dominanz der Oberklassen

Um es vorweg zu sagen: Die Abgrenzung und Beschreibung der Oberklassen („classes supérieures“) gehört zu den stärksten Teilen des Buches. Gleich eingangs machen die Autoren deutlich, dass der Zugang allein über die Verteilung von Einkommen und Reichtum („ein Prozent gegen 99“) für eine Klassenanalyse, welche ja immer auch politische Prozesse im Auge haben sollte, nur begrenzt sinnvoll ist: „Die Superreichen, die in ihren Händen den größten Teil der Reichtümer des Planeten konzentrieren, beherrschen die Welt nicht ohne Verbündete. Die kleine oberste Spitze der Pyramide zu isolieren läuft darauf hinaus, die Rolle jener Teile der Oberklassen zu verschleiern, die an die Interessen dieser internationalisierten Kaste gebunden sind.“ (121/122) Daher verwenden die Autoren einen weiten Begriff, in welchem es um ökonomische Macht, um die Herrschaft im Staat und um die Macht von Expertenwissen geht. Gemeinsame Elemente sind das Geschlecht (überwiegend männlich), die Fähigkeit zur Regelsetzung in den Arbeitsprozessen und der Besitz von Spezialwissen und (internationalen) Diplomen sowie die größere Autonomie bei der eigenen Arbeit.

Im privaten Bereich ist der Besitz von Immobilien und – wieder zunehmend seit den 1980er Jahren – die Verfügung über Hauspersonal und andere häusliche Hilfskräfte (was zu allem Überfluss steuerlich subventioniert wird) ein gemeinsames Merkmal. Natürlich kommen dazu die hohen Einkommen, wobei es in diesem Bereich allerdings große Unterschiede innerhalb der Oberklassen gibt: Liegt das mittlere jährliche Haushalts-Bruttoeinkommen einer Führungskraft („Cadre Supérieur“ – Manager) bei 72.300 Euro[7] (alle Angehörigen der Oberklasse: 63.700), so erreichen die Unternehmer nur 48.500. Allerdings erlauben es die vorliegenden EU-Untersuchungen nicht, die Einkommen der Spitzenverdiener zu isolieren. Anzunehmen ist eine zunehmende Streuung der Einkommen: Untersuchungen aus Großbritannien zeigen, dass die reichsten ein Prozent der Oberklassen 1970 das Dreifache des Medians hatten, heute dagegen das Fünffache (134).

Tabelle 4: Berufsgruppen der Oberklassen

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Hugrée / Penissat / Spire, a.a.O., S. 125

Ganz wichtig erscheint der Zugang zum kulturellen Kapital. Die Angehörigen der Oberklassen haben eine Lebensweise herausgebildet, die sie von den anderen Klassen abhebt und auf deren Grundlage sie gesellschaftliches Ansehen (symbolisches Kapital) erwerben. Sie können viel in den Erwerb von Wissen und Bildung investieren, d.h. die Verfügung über ökonomisches und kulturelles Kapital hängen zusammen. Mehr als drei Viertel der Angehörigen der Oberklassen verfügen über Hochschulabschlüsse, gegenüber 41 Prozent in den Mittelklassen und 9 Prozent in den Volksklassen. Wichtiger aber ist das, was die Autoren „schulische Überinvestition“ nennen, was sich oft über Generationen vererbt. Es werden besondere Hochschulen bzw. Bildungseinrichtungen besucht, wie die „Grands Ecoles“ in Frankreich oder bestimmte Universitäten in Großbritannien. Wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist auch das Auslandsstudium. Die Angehörigen der Oberklassen verfügen über „ressources cosmopolites“, die im Rahmen von Urlaubsreisen oder Bildungs- und Arbeitsaufenthalten erworben werden. Trotzdem sind die Oberklassen in ihrer Zusammensetzung weniger international als z.B. die Volksklassen (145), d.h. die vorgeblich größere Toleranz und Offenheit gegenüber der Welt ist weitgehend schöner Schein, zurückzuführen auf touristische und berufliche Reisetätigkeit und, wie oben gezeigt, die größere Sprachkompetenz. Erwähnt wurde bereits die Tatsache, dass die Oberklassen große Teile der politischen Vertretungen gekapert haben (149) und in den Spitzen der Verwaltung überrepräsentiert sind: So stammen in Deutschland drei Viertel der Spitzenfunktionäre der Bundesverwaltungen aus den Oberklassen, vor allem Söhne und Töchter aus den Familien von Spitzenbeamten und Führungskräften. „In diesen Ländern gibt es große Chancen, die Zugehörigkeit zum Staatsadel (‚noblesse d’Etat‘, Bourdieu) zu vererben.“ (152) Politisch sind bestimmte kulturelle Praktiken, die Mehrsprachigkeit und die Unterstützung des europäischen Projekts gemeinsames Merkmal. Die Oberklassen können sich zu einem erheblichen Teil familiär reproduzieren, weil das entscheidende ökonomische und kulturelle Kapital, ebenso wie Verbindungen und Verhaltensweisen, vererbbar sind. Hervorzuheben ist, dass die Angehörigen der Oberklassen auch in den Krisenländern des europäischen Südens selbst von der Krise kaum etwas gespürt haben: So haben die Spitzenbeamten in Griechenland, aber auch in Irland oder Italien, als einzige Gruppe keine Einkommenseinbußen hinnehmen müssen (153).

Obwohl die europäischen Oberklassen – anders als die Mittel- und Volksklassen – relativ einheitliche Merkmale aufweisen (Konzentration von ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital), gibt es gleichwohl bedeutsame Unterschiede: Dabei geht es um die Verteilung der Herrschaft in Europa. Das Herz des europäischen Kapitalismus, die Vorstände der europäischen Multis, „rekrutieren sich an erster Stelle in Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich, manchmal in den skandinavischen Ländern, selten in den Ländern des Südens und niemals in Zentral- und Osteuropa.“ (170). Die Autoren bezeichnen insbesondere die Oberklassen Zentral- und Osteuropas als „beherrschte Herrscher“ („dominants dominés“), die einerseits in ihrer Entwicklung und der Entfaltung ihrer Machtpositionen von den Oberklassen des Westens und des Nordens abhängen, sich aber anderseits an diesen orientieren, wenn es um Abgrenzung von den Mittel- und Volksklassen ihrer Länder geht (187).

Zusammenfassung

Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, alle im Buch vorgestellten empirischen Details zu behandeln. Wer die vorgelegten nüchternen Zahlen verfolgt, der kann Versuche, von einer auch nur ansatzweise einheitlichen Lebensweise (sei sie „imperial“ oder anderweitig bestimmt) zu sprechen, nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen. Die Unterschiede zwischen den Klassen sind sowohl innerhalb der einzelnen Länder und Ländergruppen, mehr noch zwischen den 26 europäischen Ländern gewaltig. Die Angehörigen der west- und nordeuropäischen Oberklassen leben in einer vollständig anderen Welt als die Volksklassen Süd- und Osteuropas.

Abschließend sind vom Standpunkt des Rezensenten zwei Elemente hervorzuheben:

Die vorgelegte soziale Klassenanalyse ist nicht nur detailliert, sondern für die Diskussion über Veränderungsstrategien geradezu unabdingbar. Den Autoren gelingt es, die Unabdingbarkeit des Klassenbegriffs für die Entwicklung von politischen und sozialen Handlungsstrategien zu zeigen, d.h. zumindest die Brücke sichtbar zu machen, über die man von der ökonomischen Analyse zur Handlungsorientierung gehen muss.

Andererseits müssen die Autoren immer wieder hervorheben, dass es innerhalb Europas gewaltige Unterschiede auch und gerade innerhalb der Klassen gibt. So sind die Volksklassen der Länder des europäischen Südens und Ostens (wo sie zumeist die Bevölkerungsmehrheit bilden) nicht nur quantitativ größer als jene West- und Nordeuropas, sie weisen auch andere Merkmale auf als diese. „In Europa kann die gleiche soziale Stellung (d.h. Klassenzugehörigkeit, JG) je nach Land ganz unterschiedliche Realitäten beinhalten.“ (157) Das gilt nicht nur für die Tatsache, dass z.B. in Rumänien und Bulgarien das Gewicht der kleinen Bauern und Landarbeiter in den Volksklassen überwiegt, die es in Großbritannien oder Schweden kaum noch gibt. Konsequenterweise ergänzen die Autoren ihre klassenpolitische Lesart durch eine nationale Lesart, wobei sie Süd- und Osteuropa von West- und Nordeuropa unterscheiden. Theoretisch könne man sogar von 78 „Länder-Sozialklassen“ sprechen (26 Länder/3 Klassen); die Autoren unterscheiden auf dieser Grundlage sechs Ländergruppen-Sozialklassen (S. 228/229), von der „Gruppe 1“ (Oberklassen Nord- und Westeuropas) bis zur „Gruppe 6“ (Volksklassen Osteuropas und einiger Länder Südeuropas). Zusammenfassend stellen sie fest: „So stehen die Volksklassen, die Mittelklassen und die Oberklassen der Länder Nord- und Westeuropas fast systematisch in einem Gegensatz zu den entsprechenden Klassen Osteuropas, Portugals und Griechenlands, und zwar sowohl was die ökonomischen und kulturelle Ressourcen betrifft als auch die Arbeitsbedingungen.“ (229) Insbesondere bei den Volksklassen macht sich das bemerkbar: Ist für jene Nord- und Westeuropas die Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse, die durch Sozialsysteme nur teilweise abgefedert werden, das Hauptmerkmal, so leben diejenigen Ost- und Südeuropas überwiegend im Elend, welches angesichts inexistenter oder maroder Sozialsysteme kaum gemildert wird. Dieser Unterschied ist für die Betroffenen natürlich lebenswichtig und auch politisch brisant, wenn sie durch die Bewegungen des Kapitals und durch Migration unmittelbar in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Vor diesem Hintergrund erscheint es schwierig, z.B. die Kleinbauern Rumäniens mit den prekären Facharbeitern Schwedens in gemeinsame Kämpfe zu führen. Dass dies, wie die Autoren betonen, angesichts der ökonomischen Integration (Konzernherrschaft, Migration) notwendig wäre, steht außer Zweifel. Allerdings fehlen dafür bislang die Voraussetzungen. Die diesbezügliche Forderung der Autoren erscheint bescheiden, aber realistisch: „Über strategische Debatten zur grundsätzliche Haltung zur EU hinaus ist es angesichts des Fehlens einer Klasse in Aktion umso wichtiger, Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie die Aktion der Klassen auf europäischer Ebene aussehen könnte.“ (211) Dazu ist ein empirisch gestützter, realistischer Blick auf die Klassenstrukturen unabdingbar. Wie es angesichts der großen nationalen Unterschiede gelingen kann, eine politische und gewerkschaftliche Linke aufzubauen, die „ähnlich handlungsfähig wie die kapitalistischen Unternehmen“ ist (211), bleibt zu diskutieren.

[1] Das „Centre National de la recherche scientifique“ untersteht dem französischen Forschungsministerium und befasst sich mit Grundlagenforschung.

[2] Cédric Hugrée, Etienne Penissat et Alexis Spire, Les Classes Sociales en Europe. Tableau des nouvelles inégalités sur le vieux continent, Agone, Marseille 2017.

[3] Vgl. den Aufsatz von Ralf Krämer in diesem Heft, der einige dieser Aspekte ebenfalls berührt, letzten Endes aber die Einkommensverhältnisse im Mittelpunkt der Klassenbestimmung belässt.

[4] Pierre Bourdieu, La Distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979 (deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987).

[5] Die zweistellige Klassifikation ESeG wurde auf der Grundlage des „International Standard Classification of Occupation“ (ISCO) der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entwickelt. Die in der Klassifikation verwendeten Berufsbezeichnungen gibt es, nach Auskunft des in Deutschland damit befassten „GESIS-Leibnitz-Institute for the Social Sciences“, bislang nicht. Die in den Tabellen und im Text genannten deutschen Übersetzungen stammen vom Autor dieses Artikels, ebenso wie die übersetzten Zitate aus dem Buch.

[6] Die EU siedelt die Mittelschichten, gemessen am Einkommen, über den unteren 20 Prozent („die Armen“) und unter den obersten 20 Prozent („die Reichen“) an, d.h. 60 Prozent der Bevölkerung werden zu den Mittelschichten gezählt (S. 88).

[7] Die Einkommen sind in Kaufkraftparitäten-Euro für 2014 angegeben (S. 133).

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