In diesem zweiten Teil zur Kritik der politischen Konstruktion eines ‘Maschinenfragments’ in Marx’ ‘Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie’ (Teil I: Z 115, S. 118-132) soll zunächst versucht werden, den Gang der Marxschen Argumentation zur kapitalistischen Anwendung der Maschinerie und deren immanenter Widersprüchlichkeit bis zu den Perspektiven einer ‘Befreiung der Arbeit’ anhand knapper Textauszüge zu dokumentieren (I). Dabei wird sich zeigen, dass Marx Überlegungen weit über die Möglichkeiten und Grenzen der kapitalistischen Anwendung der Maschinen und allgemeiner der gesellschaftlichen Produktivkräfte hinausweisen. Hierzu wird eine kurze Skizze zur empirischen und historischen Tragweite dieser Überlegungen umrissen (II). Mit einem Rückblick auf die in den ‘realsozialistischen’ Ländern der 1960/70er Jahre entwickelte Theorie der ‘wissenschaftlich-technischen Revolution’ (III) wird abschließend die These formuliert, dass die heute global entwickelte kapitalistische Zivilisation vor einem Scheideweg steht zwischen dem Übergang zu einer ökologisch-sozialistischen Gesellschaftsformation oder der ökologischen Katastrophe in Verbund mit einem sozialen und politischen Fall in die Barbarei, wie sie sich derzeit weltweit anzudeuten scheint (IV).
„Eine … weltverändernde Praxis braucht eine offen
theoretische Grundlegung, offen gegenüber allen Heraus-
forderungen durch soziale Bewegungen, ökonomische
Mächte, politische Kräfte in der Gesellschaft, offen gegen-
über wissenschaftlichen Ansätzen die das theoretische Feld
der vergangenen Analysen verlassen und neue beackern.“
Elmar Altvater[1]
I. Marx über die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte und die Perspektive einer Befreiung der Arbeit[2]
Maschinerie als fixes Kapital – beherrschende Macht über die lebendige Arbeit
„In den Produktionsprozeß des Kapitals aufgenommen, durchläuft das Arbeitsmittel … verschiedne Metamorphosen, deren letzte die Maschine ist oder vielmehr ein automatisches System der Maschinerie (…), in Bewegung gesetzt durch einen Automaten, bewegende Kraft, die sich selbst bewegt; dieser Automat, bestehend aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen, so daß die Arbeiter selbst nur als bewußte Glieder desselben bestimmt sind. In der Maschine und noch mehr in der Maschine[rie] als einem automatischen System ist das Arbeitsmittel verwandelt seinem Gebrauchswert nach, d.h. seinem stofflichen Dasein nach in eine dem Capital fixe und dem Kapital überhaupt adäquate Existenz und die Form, in der es als unmittelbares Arbeitsmittel in den Produktionsprozeß des Kapitals aufgenommen wurde, in eine durch das Kapital selbst gesetzte und ihm entsprechende Form aufgehoben. Die Maschine erscheint in keiner Beziehung als Arbeitsmittel des einzelnen Arbeiters. Ihre differentia specifica ist keineswegs, wie beim Arbeitsmittel [gemeint ist etwa das einfache Werkzeug – WG], die Tätigkeit des Arbeiters auf das Objekt zu vermitteln, sondern diese Tätigkeit ist vielmehr so gesetzt, dass sie nur noch die Arbeit der Maschine, ihre Aktion auf das Rohmaterial vermittelt – überwacht und sie vor Störungen bewahrt. … Der Produktionsprozeß hat aufgehört, Arbeitsprozeß in dem Sinn zu sein, daß die Arbeit als die ihn beherrschende Einheit über ihn übergriffe. … In der Maschinerie tritt die vergegenständlichte Arbeit der lebendigen Arbeit im Arbeitsprozess selbst als die sie beherrschende Macht gegenüber, die das Kapital als Aneignung der lebendigen Arbeit seiner Form nach ist.“ (592/593, Hervorh. WG)
„Die Entwicklung des Arbeitsmittels zur Maschinerie ist nicht zufällig für das Kapital, sondern ist die historische Umgestaltung des traditionell überkommnen Arbeitsmittels als dem Kapital adäquat umgewandelt. Die Akkumulation des Wissens und des Geschicks, der allgemeinen Produktivkräfte des gesellschaftlichen Hirns, ist so der Arbeit gegenüber absorbiert in dem Kapital und erscheint daher als Eigenschaft des Kapitals,… (594)
„Insofern ferner die Maschinerie sich entwickelt mit der Akkumulation der gesellschaftlichen Wissenschaft, Produktivkraft überhaupt, ist es nicht in dem Arbeiter, sondern im Kapital, daß sich die allgemein gesellschaftliche Arbeit darstellt. …. Das Wissen erscheint in der Maschinerie als fremdes außer ihm [dem Arbeiter – WG]; und die lebendige Arbeit subsumiert unter die selbständig wirkende vergegenständlichte. Der Arbeiter erscheint als überflüssig, soweit nur seine Aktion nicht bedingt ist durch die Bedürfnisse [des Kapitals]. … Der quantitative Umfang, worin, und die Wirksamkeit (Intensivität), worin das Kapital als Capital fixe entwickelt ist, zeigt daher überhaupt den degree an, worin das Kapital als Kapital, als die Macht über die lebendige Arbeit entwickelt ist und sich den Produktionsprozeß überhaupt unterworfen hat.“ (595 – Hervorh. WG)
Technologische Anwendung der Wissenschaft
„Die volle Entwicklung des Kapitals findet also erst statt … sobald … der ganze Produktionsprozeß aber als nicht subsumiert unter die unmittelbare Geschicklichkeit des Arbeiters, sondern als technologische Anwendung der Wissenschaft. Der Produktion wissenschaftlichen Charakter zu geben, daher die Tendenz des Kapitals, und die unmittelbare Arbeit herabgesetzt zu einem bloßen Moment dieses Prozesses.“ (595 – Hervorh. WG)
„Es ist einerseits direkt aus der Wissenschaft entspringende Analyse und Anwendung mechanischer und chemischer Gesetze, welche die Maschine befähigt, dieselbe Arbeit zu verrichten, die früher der Arbeiter verrichtete. Die Entwicklung der Maschinerie auf diesem Weg tritt jedoch erst ein, sobald die große Industrie schon höhre Stufe erreicht hat und die sämtlichen Wissenschaften in den Dienst des Kapitals gefangengenommen sind… Die Erfindung wird dann ein Geschäft und die Anwendung der Wissenschaft auf die unmittelbare Produktion selbst ein für sie bestimmender und sie sollizitierender Gesichtspunkt.“ (599f. – Hervorh. WG)
„Der Austausch von lebendiger Arbeit gegen vergegenständlichte, d.h. das Setzen der gesellschaftlichen Arbeit in der Form des Gegensatzes von Kapital und Lohnarbeit – ist die letzte Entwicklung des Wertverhältnisses und der auf dem Wert beruhenden Produktion. Ihre Voraussetzung ist und bleibt − die Masse unmittelbarer Arbeitszeit, das Quantum angewandter Arbeit als der entscheidende Faktor der Produktion des Reichtums. In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und … − deren powerful effectiveness - selbst wieder in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.“ (600 – Hervorh. WG)
„Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Indus trie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft.“ (602)
Wissenschaft als allgemeine Produktivkraft – Das Kapital
arbeitet an eigner Auflösung
„In demselben Maße, wie die Arbeitszeit − das bloße Quantum Arbeit – durch das Kapital als einziges wertbestimmendes Element gesetzt wird, in demselben Maße verschwindet die unmittelbare Arbeit und ihre Quantität als das bestimmende Prinzip der Produktion − der Schöpfung von Gebrauchswerten und wird sowohl quantitativ zu einer geringern Proportion herabgesetzt wie qualitativ als ein zwar unentbehrliches, aber subalternes Moment gegen die allgemeine wissenschaftliche Arbeit, technologische Anwendung der Naturwissenschaften nach der einen Seite, wie [gegen die] aus der gesellschaftlichen Gliederung in der Gesamtproduktion hervorgehende allgemeine Produktivkraft − die als Naturgabe der gesellschaftlichen Arbeit (obgleich historisches Produkt) erscheint. Das Kapital arbeitet so an seiner eignen Auflösung als die Produktion beherrschende Form.“ (596 – Hervorh. WG)
Wächter und Regulator des Produktionsprozesses – Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums als Grundpfeiler des Reichtums
„Der wirkliche Reichtum manifestiert sich … – und dies enthüllt die große Industrie – im ungeheuren Mißverhältnis zwischen der angewandten Arbeitszeit und ihrem Produkt wie ebenso im qualitativen Mißverhältnis zwischen der auf eine reine Abstraktion reduzierten Arbeit und der Gewalt des Produktionsprozesses, den sie bewacht. Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozeß eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält. (….) Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.“ (601 – Hervorh. WG)
General Intellect und die Grenzen des Wertgesetzes
„Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, …“ (601 – Hervorh. WG)
„Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.“ (601)
„Nach der einen Seite hin ruft es [das Kapital-WG] also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten. Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Kapital nur als Mittel und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.“ (602 – Hervorh. WG)
„Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind.“ (602 – Hervorh. WG)
Tendenzieller Fall der Profitrate[3] – Krise – Übergang zu einer höheren Produktionsweise
„Die Rate des Profits hängt also – denselben Mehrwert, dieselbe Surplusarbeit im Verhältnis zur notwendigen Arbeit vorausgesetzt – ab von dem Verhältnis des Teils des Kapitals, der gegen lebendige Arbeit ausgetauscht wird, zu dem Teil, der in der Form von Rohmaterial und Produktionsmittel existiert. Je geringer also die gegen lebendige Arbeit ausgetauschte Portion wird, um so geringer wird die Rate des Profits. In demselben Verhältnis also, worin in dem Produktionsprozeß das Kapital als Kapital größten Raum einnimmt in Proportion zu der unmittelbaren Arbeit, je mehr also der relative Surpluswert wächst – die wertschaffende Kraft des Kapitals –, um so mehr fällt die Rate des Profits. (639)
„Die Abnahme des Profits ist vom historischen Standpunkt aus das wichtigste Gesetz. Es ist ein Gesetz, das trotz seiner Einfachheit bisher nie begriffen und noch weniger bewußt ausgesprochen worden ist.[4] … so zeigt sich, daß die schon vorhandne materielle, schon herausgearbeitete, in der Form von capital fixe existierende Produktivkraft, wie die scientific power, wie die Bevölkerung etc., kurz, alle Bedingungen des Reichtums, daß die größten Bedingungen für die Reproduktion des Reichtums, i.e. die reiche Entwicklung des sozialen Individuums – daß die durch das Kapital selbst in seiner historischen Entwicklung herbeigeführte Entwicklung der Produktivkräfte, auf einem gewissen Punkt angelangt, die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen.“ (641)
„Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für [die] Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. Auf diesem Punkt angelangt, tritt das Kapital, d.h. Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei und wird als Fessel notwendig abgestreift. Die letzte Knechtsgestalt, die die menschliche Tätigkeit annimmt, die der Lohnarbeit auf der einen, des Kapitals auf der andren Seite, wird damit abgehäutet, und diese Abhäutung selbst ist das Resultat der dem Kapital entsprechenden Produktionsweise; …“ (641f.)
„In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice gegeben wird, to be gone and to give room to a higher state of social production“. (642 – Hervorh. WG)
Materielle Voraussetzungen für eine klassenlose Gesellschaft
„Aber innerhalb der bürgerlichen, auf dem Tauschwert beruhenden Gesellschaft erzeugen sich sowohl Verkehrs- als Produktionsverhältnisse, die ebenso viel Minen sind, um sie zu sprengen. (Eine Masse gegensätzlicher Formen der gesellschaftlichen Einheit, deren gegensätzlicher Charakter jedoch nie durch stille Metamorphose zu sprengen ist. Andrerseits, wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.)“ (93)
„Das Kapital wendet die Maschine … nur an, soweit sie den Arbeiter befähigt, einen größeren Teil seiner Zeit für das Kapital zu arbeiten, … Durch diesen Prozeß wird in der Tat das Quantum zur Produktion eines gewissen Gegenstandes nötige Arbeit auf ein Minimum reduziert, aber nur damit ein Maximum von Arbeit in dem Maximum solcher Gegenstände verwertet werde. Die erste Seite ist wichtig, weil das Kapital hier − ganz unabsichtlich − die menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert … Dies wird der emanzipierten Arbeit zugute kommen und ist die Bedingung ihrer Emanzipation.“ (598)
„Die Maschinerie verliert ihren Gebrauchswert nicht, sobald sie aufhörte, Kapital zu sein. Daraus, daß die Maschinerie die entsprechendste Form des Gebrauchswerts des Capital fixe, folgt keineswegs, daß die Subsumtion unter das gesellschaftliche Verhältnis des Kapitals das entsprechendste und beste gesellschaftliche Produktionsverhältnis für die Anwendung der Maschinerie.“ (596)
Arbeit als Bedürfnis – Freie Arbeit, als verdammtester Ernst und intensivste Anstrengung[5]
„Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A. Smith die Arbeit. Die ‘Ruhe’ erscheint als der adäquate Zustand, als identisch mit ‘Freiheit’ und ‘Glück’. Daß das Individuum ‘in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit’ auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat und von Aufhebung der Ruhe, scheint A. Smith ganz fernzuliegen. Allerdings erscheint das Maß der Arbeit selbst äußerlich gegeben, durch den zu erreichenden Zweck und die Hindernisse, die zu seiner Erreichung durch die Arbeit zu überwinden. Daß aber diese Überwindung von Hindernissen an sich Betätigung der Freiheit – und daß ferner die äußren Zwecke den Schein bloß äußrer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden – also als Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts, daher reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit, ahnt A. Smith ebensowenig. Allerdings hat er recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als ‘Freiheit und Glück’. (512 – Hervorh. WG)
„Allerdings hat er (Smith-WG) recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als „Freiheit und Glück“. Es gilt doppelt: von dieser gegensätzlichen Arbeit und, was damit zusammenhängt, der Arbeit, die sich noch nicht die Bedingungen, subjektive und objektive, geschaffen hat (oder auch gegen den Hirten- etc. Zustand, der sie verloren hat), damit die Arbeit travail attractif, Selbstverwirklichung des Individuums sei, was keineswegs meint, daß sie bloßer Spaß sei, bloßes amusement, wie Fourier es sehr grisettenmäßig naiv auffaßt. Wirklich freie Arbeiten, z.B. Komponieren, ist grade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung.“ (512 – Hervorh. WG)
Freie Entwicklung der Individualitäten – Disposable time als Maß des Reichtums
„Die freie Entwicklung der Individualitäten und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht.“ (601 – Hervorh. WG)
„ … der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums.“ (604 – Hervorh. WG)
„Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit.… Die freie Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt, … in dessen Kopf das akkumulierte Wissen der Gesellschaft existiert.“ (607 – Hervorh. WG)
An diesen Textauszügen aus den ‘Grundrissen’ sollte die grundlegende Bedeutung der Marxschen Reflexionen über die historischen Perspektiven des dialektischen Verhältnisses von Produktivkraftentwicklung und Entwicklung der Produktionsverhältnisse bis an die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise und über sie hinaus klar geworden sein. Und es dürfte auf der Hand liegen, dass die widersprüchlichen Aspekte, die Marx insbesondere an der Entwicklungstendenz der Produktivkräfte[6] im Kapitalismus hervorhebt, in unserer Gegenwart – mehr noch als zu Zeiten Rosdolskis[7] – von eindrucksvoller Aktualität sind.
II. Soziale Aspekte des technischen Wandels im Übergang zum neoliberalen Digitalkapitalismus
Zugleich zeigen sie aber auch, dass sie für die Arbeiterkämpfe in Italien oder anderswo während der 1960/70er Jahre nur von begrenztem politisch-strategischen Wert sein konnten. Das änderte sich freilich in den darauffolgenden Jahrzehnten, schon wegen der fortschreitenden Automation der Produktion im Verbund mit Computertechnologie und Internet zum High-Tech- oder Digitalkapitalismus der jüngsten Epoche, in denen sich wesentliche Merkmale der von Marx analytisch-prognostisch festgestellten Tendenzen als real erwiesen hatten. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung erlebten die naturwissenschaftlich-technischen und die sozialen Arbeitswissenschaften einen bemerkenswerten Aufschwung – und in ihrem Gefolge auch die vorwiegend betriebswirtschaftlich ausgerichteten Organisations- und Managementwissenschaften – wie seit dem Taylorismus und seiner globalen Durchsetzung während der 1920/30er Jahre (Fordismus) nicht mehr. Die aus jener fordistischen Epoche überkommenen Formen der industriellen Arbeit (Fließband) und der Arbeitsteilung, die Qualifikation der Arbeitskräfte, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit (von Fertigung und Forschung), wie die traditionellen hierarchischen Leitungsstrukturen und damit auch die überkommene soziale Gliederung des betrieblichen wie des gesellschaftlichen ‘Arbeitskörpers’ erwiesen sich mehr und mehr als überholt. Sie wurden zunächst durch betriebliche Experimente (Vorbild Volvo) und staatlich unterstütze Forschungsprogramme[8] in Frage gestellt, und seit etwa den 1980er Jahren auch in den meisten fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern vielfach auch überwunden.
Seither haben sich allerdings keine neuen stabilen Formen der Arbeit in der Industrie, wie in großen Bereichen des Dienstleistungssektors (Vertrieb, Handel, Marketing, schließlich auch Finanzsektor) durchsetzen können. Vielmehr ist nahezu der gesamte Bereich der Fertigungs-, Forschungs- und Leitungsarbeit auf allen Sektoren einer permanenten Veränderung ausgesetzt, die das aus der fordistischen Epoche herrührende Modell des ‘Normalarbeitsverhältnisses’ zu untergraben droht und teilweise außer Kraft gesetzt hat. Prekäre Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, dazu noch ein tendenziell wachsender Niedriglohnbereich haben sich in vielen Sektoren – je nach Konjunktur als Ergänzung oder aber auch als ‘neue Normalität’ – weitgehend durchgesetzt. All dies geschah und geschieht auf dem Hintergrund stets drohender konjunktureller, vor allem aber technologischer Arbeitslosigkeit, die einen ständigen Druck auf die Beschäftigten und die Gewerkschaften wie auf das Prinzip der Solidarität überhaupt ausübte.
Schien es anfänglich noch, als könnten die Gewerkschaften dieser Gefahr durch eine aktive Politik der Arbeitszeitverkürzung (35-Stunden-Woche) entgegentreten, so erwies sich dies spätestens Ende der 1980er Jahre als allzu ‘kurzer Traum der Solidarität’. Die fortschreitende Differenzierung von Arbeitsformen und Arbeitskräften unterhöhlte mehr und mehr die tradierte Form der gewerkschaftlichen Solidarität. Durch Schlagworte aus der zeitgenössischen Managementliteratur wie Individualisierung und Subjektivierung der Arbeit bei gleichzeitigem Teambuilding usw. schien wenigstens für einen Teil der Beschäftigten des Kapitals oder eine neuen Schicht von Scheinselbständigen (Ich-AGs u.ä.) eine bestimmte Art von ‘Befreiung der Arbeit’ selbst oder gerade unter den gegebenen Bedingungen des sich als neoliberal ‘neu’ formierenden Kapitalismus möglich; diese Illusion, die selbst bei Teilen hochqualifizierter, aber prekär Beschäftigter verbreitet war, verflüchtigte sich allmählich erst in der Folge der großen Weltwirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007/08ff. Als empirisches Fazit bleibt festzuhalten, dass im Lauf der wissenschaftlich-technischen Entwicklung unter post-fordistisch neoliberalen Arbeits- und Lebensbedingungen der tradierte Begriff der Arbeiterklasse, wie er für den industriell geprägten Kapitalismus bis in die 1960er Jahre hinein noch gültig sein mochte, seither immer problematischer wurde. Ob und inwieweit es gelingen kann, die objektiv immer heterogener werdenden Fraktionen der ‘Lohnarbeiter des Kapitals’ und subjektiv differenzierten Milieus der ‘neuen Arbeitnehmer’ in gemeinsamen gewerkschaftlichen und politischen Organisationen zusammenzufassen bleibt ungewiss.
Mit dieser zugegebener Weise grob vereinfachenden Skizze soll lediglich angedeutet werden, dass Marx’ Überlegungen zum Zusammenhang von kapitalistischer Produktivkraftentfaltung und einer potentiellen ‘Befreiung der Arbeit’ an utopischer Kraft zwar eingebüßt aber noch immer nicht gänzlich verloren hat. Als ‘konkrete Utopie’ kann sie jedoch für den Übergang in eine postkapitalistische, ökologisch-sozialistische Zukunftsgesellschaft nur in Verbindung mit einem kritischen und selbstkritischen Bezug zur gesellschaftlichen Realität wirksam werden.
III. Anmerkung zur Theorie der wissenschaftlich-technischen Revolution[9]
Letzteres gilt insbesondere, wenn man die Lehren aus jenem großen sozial-politischen Experiment ziehen will, das mit der russischen Oktoberrevolution 1917 begann und sich Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre als gescheitert erwiesen hat. Vieles spricht dafür, dass dieses Scheitern in letzter Instanz an der Unfähigkeit des sich selbst als ‘realsozialistisch’ bezeichnenden Weltsystems gelegen hat, die ‘wissenschaftlich-technische Revolution’ (WTR) zu ‘meistern’ – wie man es in der Sprache der damaligen Protagonisten ausdrückte. Dabei war die Theorie der WTR seit den 1960er Jahren vor allem in den realsozialistischen Ländern entwickelt worden; nicht zuletzt, um den Anspruch der Überlegenheit des ‘realen Sozialismus’ gegenüber dem ‘imperialistischen’ Kapitalismus, der sich aus der Euphorie über die spektakulären Erfolge der sowjetischen Raumfahrt (Sputnik) zu ergeben schien, auch theoretisch zu begründen. Insofern handelte es sich auch bei der Theorie der WTR nicht zuletzt um eine politische Konstruktion. „Der Begriff machte in den 1960er Jahren rasch Karriere, nach seiner Verwendung im KPdSU-Programm von 1961 besonders in den Dokumenten und Publikationen der internationalen kommunistischen Bewegung. Es erschien eine kaum zu übersehende Flut von entsprechenden Studien.“[10] Die Mischung aus politisch-strategischer Intention[11] und wissenschaftlicher Form macht schließlich den eigentümlich ideologischen Charakter vieler Mainstream-Texte zur WTR aus.
Neben den „unbestreitbar ideologischen Züge(n)“ hatte das WTR-Konzept allerdings auch einen „bedeutenden kognitiven Gehalt.“[12] Zum einen – das betraf vor allem die Frage nach dem wissenschafts-revolutionären Charakter des Prozesses – stützte es sich auf gründliche Untersuchungen des britischen Wissenschaftshistorikers Bernal, denen auch der Terminus „wissenschaftlich-technische Revolution“ entnommen worden war.[13] Zum anderen konnte sich das Konzept – zumindest in seinen wissenschaftlich anspruchsvolleren Versionen – nicht nur auf umfangreiche empirische Forschungen stützen, sondern auch auf Marx’ Überlegungen zur technischen Entwicklung der kapitalistischen Produktions- und Betriebsweise und deren für den Kapitalismus spezifischen sozial-ökonomischen Grenzen, wie sie in den oben zitierten Passagen aus den ‘Grundrisse’ dokumentiert sind. Es ist kein Zufall, dass der maßgebende Autor und Herausgeber der international meist diskutierten Studie zu den „Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse“[14], Radovan Richta, ein ausgewiesener Kenner und der Übersetzer der ‘Grundrisse’ ins Tschechische war.[15]
Die besondere Komplexität der WTR-Theorie– auch gegenüber dem Marxschen Ausgangspunkt in den ‘Grundrissen’ – bestand nun darin, dass die empirisch konstatierte (dritte oder vierte) Revolutionierung der Produktivkräfte spätestens zu Beginn der 1960er Jahre unter den Bedingungen eines möglichst friedlichen ‘Wettstreits’ zweier miteinander unvereinbarer Gesellschaftssysteme einsetzte, und voraussichtlich noch eine längere Periode möglichst friedlicher Koexistenz anhalten würde. Dabei stand die Überlegenheit der sozialistischen Produktionsverhältnisse für die meisten Theoretiker der WTR von vornherein fest, selbst dann, wenn der real existierende Kapitalismus sich auf einzelnen Gebieten der Produktivkraftentfaltung – angeblich vorübergehend - rascher entwickle als der real existierende Sozialismus.
„Wie zeigen sich real die Grenzen des Kapitalismus in der wissenschaftlich-technischen Revolution, wenn diese durchaus voranschreitet? Wie zeigen sich die überlegenen Möglichkeiten des Sozialismus zur Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Revolution?“[16], fragt einer der später selbstkritischen Autoren, und verweist in seiner damaligen Antwort auf zwei seiner Auffassung nach grundlegende Momente: 1. Die „Unterdrückung der Persönlichkeit des Werktätigen als entscheidende Grenze des Kapitalismus in der wissenschaftlich-technischen Revolution“ und 2. Die „Konkurrenz und Anarchie als Schranken der wissenschaftlich-technischen Revolution“.[17] In dieser Abstraktheit wird man dem Autor vom marxistischen Standpunkt aus kaum widersprechen. Ob sich aber die „überlegenen Möglichkeiten des Sozialismus“ gegenüber dem Kapitalismus gerade auf diesen beiden Feldern im ‘Wettstreit’ beider Systeme auch tatsächlich durchsetzen würden oder sich durchgesetzt haben, muss im historischen Rückblickeindeutig als widerlegt gelten.
(Zu 1) Stärker empirisch orientierte Autoren waren – bei prinzipieller Übereinstimmung mit den allgemeinen Voraussetzungen der WTR-Theorie –hinsichtlich der Realentwicklung beider Systeme vorsichtiger. Die sowjetischen Autoren Tjulpanow und Scheinis stellten hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung, der Qualifikation der Arbeitskraft und des dazu erforderlichen Bildungssystems in den entwickelten kapitalistischen Ländern „erhebliche Veränderungen“ fest, um „den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution und des Systemwettbewerbs [zu] entsprechen.“ Immerhin hätten in dieser Situation „demokratische Kräfte“ in jenen Ländern dafür gekämpft, die finanziellen Mittel nicht nur für beruflich-fachliche Qualifikationen, sondern auch für humanistische und demokratische Ziele, einzusetzen und gezeigt, dass die „Brechung des Bildungsmonopols“ realisierbar sei.[18]
(Zu 2) Für das Autorenkollektiv des Richta-Reports[19] stand einerseits außer Zweifel, dass die Regulierung der sozialistischen Produktion und des Fortschritts der WTR durch wissenschaftlich fundierte und demokratisch legitimierte Planung gegenüber der ‘Anarchie des kapitalistischen Marktes’ oder der Monopolmacht kapitalistischer Großkonzerne im Interesse der Werktätigen bzw. der Gesamtgesellschaft prinzipiell überlegen sei. Andererseits aber zeige die empirische Beobachtung, dass diese Überlegenheit sich bisher (d.h. in den 1960er Jahren) zwar auf einigen (z.B. in der Weltraumfahrt), keineswegs aber auf allen Gebieten der Produktivkraftentwicklung und des gesellschaftlichen Lebens der Menschen im Sozialismus nachweisen ließe – manchmal zeigten sich sogar Defizite im Vergleich zu den fortgeschrittenen Ländern des Kapitals. Die Ursachen hierfür seien komplexer Natur. Zum einen seien sie sozial-historisch bedingt, etwa aufgrund unterentwickelter Industrialisierung aus vorsozialistischer Zeit oder infolge der Zerstörung der industriellen Basis während des 2. Weltkriegs u.ä., was den Übergang zu einer über die traditionelle Industriegesellschaft hinaus weisende wissenschaftlich-technische Revolution in den betroffenen Ländern objektiv behindere. Zum anderen zeige sich aber in der nun beginnenden Epoche wissenschaftlich-technischer Revolutionierung der Produktivkräfte, dass die bisherigen Methoden der politischen Planung und Leitung der Volkswirtschaften wie der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung – die in der vorangegangenen Epoche nachholender Industrialisierung sich als durchaus erfolgreich erwiesen hätten – nunmehr tendenziell zu einem Hemmschuh für das rasche Voranschreiten und der vollständigen Realisierung der WTR im Sozialismus zu werden drohten.[20] Dies wirke sich nicht nur im Wettstreit mit den kapitalistischen Ländern negativ aus, sondern auch auf den längerfristig – bis etwa zum Ende des 20. Jh. – geplanten Übergang zum Kommunismus.[21]
Mitten im ‘Prager Frühlings’ richteten Richta und Kollektiv in diesem Sinne einen dramatischen Appell „Für ein neues Modell des Sozialismus“ nicht nur an die tschechoslowakische Gesellschaft, sondern an alle (real)sozialistischen Kräfte in der Welt.
„Die Entfaltung eines funktionierenden sozialistischen Systems ist nicht auf Grund einer bloßen Negation der kapitalistischen Formen - der bürgerlichen Machtinstitutionen und des Privateigentums an den Produktionsmitteln - möglich. Der Sozialismus in seiner spezifischen Gestalt kann nicht als eine Gesellschaft existieren, in der statt der gestürzten Bourgeoisie Bürokraten herrschen, der Staat an Stelle der Kapitalisten die Industrialisierung verwirklicht und das Land in eine einzige große, zentral geleitete Fabrik verwandelt; wo soziale Gerechtigkeit und Sicherheit für alle dadurch ‘gewährleistet’ werden soll, daß fast alle Menschen der Möglichkeit beraubt sind, ihre Fähigkeiten und schöpferischen Impulse zu entfalten.“ Es gelte daher vor allem, neue „demokratische Entscheidungsorgane“ zu konstituieren, „die ein höheres Maß an Freiheit gewährleisten“ um die Dynamik der Produktivkräfte, die ständig wachsenden Möglichkeiten für die schöpferische Selbstverwirklichung des Menschen und die Entfaltung seiner Kräfte zu bieten ….“[22]
„Die Alternative, um die es heute geht, besteht nicht in der ‘Ersetzung’ des Sozialismus durch die Demokratie und auch nicht darin, auf administrativem Weg, von außen her, den Sozialismus durch Demokratie zu ‘ergänzen’, wie es die Verfechter des alten Modells verstehen. Die Alternative lautet vielmehr: Entfaltung der für den Sozialismus spezifischen demokratischen Dimension, oder Zusammenbruch der sozialistischen Projekte …“[23]
Dass es sich bei diesem Appell weniger um ein wissenschaftliches als um ein politisches Manifest handelte, liegt auf der Hand. Im historischen Rückblick aber stellt sich die – naturgemäß nicht mit Sicherheit zu beantwortende, aber angesichts möglicher zukünftiger historischer Konstellationen kaum abweisbare – Frage: Ob die Entwicklung des ‘realsozialistischen Weltsystems’ einen anderen, ggf. erfolgreicheren Verlauf genommen hätte, wenn der tschechoslowakische Versuch eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ nicht im August 1968 durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts gewaltsam beendet worden wäre?[24]
IV. Am Scheideweg der Zivilisation?
Der Richta-Report war ursprünglich unter dem Titel ‘Zivilisation am Scheideweg’ erschienen. Die ‘realsozialistischen’ Länder hatten sich offenkundig für einen Weg entschieden, der in den eigenen Untergang führte. Oberflächlich betrachtet, weil sie im ökonomischen und technologischen Wettbewerb mit dem Kapitalismus – entgegen aller Propaganda – letztlich hoffnungslos unterlegen waren. Bei näherer Betrachtung wird man die Gründe dafür aber eher in den von Richta und Kollektiv analysierten strukturellen Mängeln des bestehenden bürokratisch-administrativen Systems und seiner Unfähigkeit, demokratische und humane Alternativen zu entwickeln, zu suchen haben. Die heutige, von der Macht des digitalen Kapitalismus dominierte Weltordnung steht zwar nicht vor der gleichen, wohl aber – wenigstens in ihren Konsequenzen – ähnlichen, möglicherweise noch weiterreichenden Alternative. Nicht bloß diese sozial-historisch und politisch bestimmte Weltordnung steht nämlich in Frage, sondern – angesichts drohender ökologischer Katastrophen und potentiell irrationaler Entscheidungen politischer Funktionsträger – das Überleben der Menschheit selbst.
Marx hat im ‘Kapital’ darauf verwiesen, dass die eigentümliche, auf grenzenloses Wachstum ausgerichtete kapitalistische Akkumulationsweise „Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ nur entwickelt, „in dem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“[25] Auch wenn Marx dabei in erster Linie an die Landwirtschaft und die extraktiven Industrien gedacht hatte, hat diese Einsicht für die heute ungleich weiter entwickelte Form der kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsweise noch weitaus dramatischere Folgen.[26]
Zugespitzt formuliert steht die Menschheit nunmehr ‘bei Strafe des Untergangs’ vor dem ‘Scheideweg’ zwischen der Transformation des Kapitalismus in eine ökologisch-sozialistische Gesellschaft oder einem ‘weiter so’[27], das unvermeidlich in eine natürliche und gesellschaftliche Katastrophe führt. Will man der letzteren entgehen, muss „der Kapitalismus, so wie wir ihn kennen … geändert werden.“[28]
Noch vor wenigen Jahren schienen sich viele Publizisten, Politiker, aber auch Philosophen und Wissenschaftler sicher, dass der globalisierte Finanzkapitalismus nach der großen Krise der Jahre 2008ff. an ein Ende geraten sei und daher die Epoche einer mit „Postkapitalismus“ etwas unklar bezeichneten neuen Gesellschaftsform auf der historisch-politischen Agenda stehe.[29] Diese Vision der absehbaren Zukunft wird heute nur noch selten geteilt. Möglicherweise hatte die Stunde des Kapitalismus in der ersten Hälfte des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert geschlagen, aber – alles in allem – hatten zu Wenige den Glockenschlag gehört und noch weniger sind „hingegangen“ – wie es in einem alten Anarcho-Spruch hieß. Der Zeitpunkt oder das Zeitfenster für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen ist offenbar stets begrenzt; ist der richtige Zeitpunkt, der Kairos oder wie man heute im Börsenjargon sagt, the window of opportunity, verpasst, wird man sich auf eine Periode des Rückschlags und der Defensive einrichten müssen – ohne jedoch notwendigerweise das Ziel aufgeben zu müssen. Allerdings, die aktuell wieder steigende Erwartung einer erneuten weltwirtschaftlichen Großkrise könnte trügerisch sein, vor allem wenn man auf einen ‘automatischen’ Anstieg sozial und politisch progressiven Widerstands setzt. Es könnte auch anders kommen, lautet die Lehre der jüngst vergangenen Jahre – und gleichzeitig drängt die Zeit.
[1] E. Altvater, Engels neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die ‘Dialektik der Natur’ und die Kritik von Akkumulation und Wachstum, Hamburg 2015, 153.
[2] Alle Zitate – wenn nicht anders angegeben – nach MEW Bd. 42.
[3] Diese Überlegungen – nicht mehr zum ‚Maschinenfragment’ (i.e. Sinne) gehörend -sind Marx’ erste Versuche, das ‘Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate’ zu begründen und zu formulieren. Vgl. dazu Fn. 46.
[4] Allerdings hatten schon A. Smith, D. Ricardo u.a. ähnliche Überlegungen angestellt, an die Marx kritisch anschließen konnte. Vgl. schon in den Grundrissen MEW 42, 644ff.
[5] Auch dies außerhalb des „Maschinenfragments“.
[6] Und nicht nur des „Maschinenwesens“, wie es die Konstrukteure eines „Maschinenfragments“ suggerieren.
[7] Siehe hierzu Teil I dieses Textes in Z 115, S. 130.
[8] Wie z.B. das HdA-Programm der sozial-liberalen Regierung während der 1970er Jahre, mit dem ein ‘anthropozentrischer’ gegen einen bloß ‘technokratischen’ Forschungs- und Entwicklungsansatz in den Arbeitswissenschaften gefördert werden sollte.
[9] Es kann im Rahmen dieser Überlegungen nicht darum gehen, die Umrisse oder auch bloß den Kern der WTR-Theorie näher zu analysieren. Zur einführenden Übersicht vgl. A. Leisewitz, Wissenschaftlich-technische Revolution, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, Hamburg 1990, 925-930, und die dort dokumentierte Literatur. Hier geht es lediglich um die Frage, wie und mit welchen Resultaten sich Marx’ Überlegungen zu den Grenzen der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung in Theorien mit marxistischem Anspruch ‘niedergeschlagen’ haben.
[10] Ebd., 927.
[11] Noch 1984 formulierte ein ansonsten keineswegs unkritischer Natur- und Technikphilosoph dies so: „Es ist von grundlegender strategischer Bedeutung, wenn auf dem XXV. Parteitag der KPdSU festgestellt wird, ‘daß die wissenschaftlich-technische Revolution nur unter den Bedingungen des Sozialismus den richtigen, den Interessen von Mensch und Gesellschaft entsprechenden Verlauf nimmt’ und daß ‘nur auf der Grundlage der beschleunigten Entwicklung von Wissenschaft und Technik die Endaufgabe der sozialen Revolution gelöst, die kommunistische Gesellschaftsordnung errichtet werden kann.“ H. Hörz, in: ders./ D. Seidel, Humanität und Effektivität, zit. nach 1. OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 15.05.2015/15.05.2016, S. 43.
[12] H. Laitko, Wissenschaftlich-technische Revolution: Akzente des Konzepts in Wissenschaft und Ideologie der DDR, in: Utopie Kreativ, H. 73/74, Nov.-Dez. 1996, 35.
[13] J. D. Bernal, Die soziale Funktion der Wissenschaft, Köln 1986 (orig. London 1939); ders. Die Wissenschaft in der Geschichte, Darmstadt 1961 (orig. 2. Aufl. London 1957). „Die Revolution [gemeint ist die ‘zweite Revolution der Wissenschaft’ im 20. Jahrhundert – WG] sollte vielleicht richtiger die erste wissenschaftlich-technische Revolution genannt werden.“ Bernal, 1961, 903.
[14] ‘Richta-Report, Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse, hg. R. Richta und Kollektiv, Frankfurt/M. 1971. Die der dt. Ausgabe zugrunde liegende 2. Aufl. des Originals war in deutscher Sprache 1968 in Prag unter dem Titel ‘Zivilisation am Scheideweg’ erschienen.
[15] Vgl. S. Bollinger, Der „Richta-Report“ – Vergessene marxistische Alternativen in Zeiten der Produktivkraftrevolution, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 76 (2005), 75–90, hier: 79.
[16] A.a.O., 264.
[17] A.a.O., 264-267, 268-276.
[18] S. I. Tjulpanow/V. L. Scheinis, Aktuelle Probleme der politischen Ökonomie des heutigen Kapitalismus, Frankfurt/M. 1975, 50-56, 74-82, hier 80f.
[19] Die tschechoslowakische Arbeitsgruppe unter Leitung des Philosophen Radovan Richta setzte sich aus mehr als 40 „Fachleuten aus Philosophie, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, politische Wissenschaften, Historiographie, Medizin, Theorie der Architektur und des Lebensmilieus, sowie technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen“ zusammen. Im Folgenden wird das offizielle Gutachten der Gruppe als ‘Richta-Report’ zitiert, ein späterer Konferenzband zu diesem Report als ‘Richta und Kollektiv’, beide Texte sind 1971 bzw. 1972 auf Deutsch im Frankfurter makol-Verlag erschienen.
[20] Auf einer internationalen Konferenz zum Richta-Report in Marienbad im April 1968 beklagten mehrere Autoren, „daß das Funktionssystem der Wirtschaft zur Zeit die größten Probleme bei der Realisierung des technischen Fortschritts in der Tschechoslowakei“ aufwerfe. Das „hauptsächliche Hindernis“ sei „das veraltete, administrativ-direktiv-zentralistische System der wirtschaftlichen Leitung.“ R. Richta und Kollektiv, Technischer Fortschritt und industrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. 1972, S. 36f.
[21] Ein sozialer Prozess, der im Allgemeinen als evolutionärer Vorgang, als schrittweises und friedliches, jedenfalls weitgehend bruchloses ‘Hinüberwachsen’ interpretiert wurde. Vgl. Autorenkollektiv, Wissenschaftlicher Kommunismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, Berlin 1974, 531. Richta und Kollektiv sprachen dagegen von einem auch unter sozialistischen Voraussetzungen zwar friedlichen aber qualitativen und in diesem Sinne ‘revolutionären’ Übergang.
[22] Richta und Kollektiv, a.a.O., 219f., vgl. auch Richta-Report, a.a.O., 116-120. Zu vorsichtigeren, aber in der Sache vergleichbaren Vorschlägen war man in der DDR schon 1963 mit dem – später gescheiterten – Versuch der Einführung eines Neuen Ökonomischen Systems gekommen. Vgl. H. Laitko, Wissenschaftlich-technische Revolution: Akzente des Konzepts in Wissenschaft und Ideologie der DDR, in: Utopie Kreativ, H. 73/74, Nov.-Dez. 1996, 33-50, hier: 34.
[23] Richta und Kollektiv, a.a.O., 221 (Hervorh. WG).
[24] Eine zumindest strukturell vergleichbare, wenngleich weniger weitreichende Frage stellt auch H. Laitko, a.a.O., in Bezug auf das Scheitern des schon Jahre zuvor geplanten ‘Neuen Ökonomischen Systems’ in der DDR.
[25] MEW 23, 530.
[26] Die Emissionen von Produktion und Konsumtion haben die Sphären des Planeten verändert, insbesondere die Atmosphäre. Die Folgen sind dramatisch, wie wir wissen. Ein Klimakollaps ist, wenn dem Modell kapitalistischer Akkumulation gefolgt wird, nicht auszuschließen.“ E. Altvater, Engels neu entdecken, a.a.O., 64.
[27] Vgl. D. Klein, Das Morgen tanzt im Heute. Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus, Hamburg 2013, 34-54.
[28] E. Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, Münster 2005 und ders., Engels neu entdecken, a.a.O., (zit.) 156. Vgl. dazu auch das diesem Text vorangestellte Motto desselben Autors.
[29] Vgl. W. Goldschmidt, „Eine Art ‘Commonismus’“? – Varianten des „Postkapitalismus“, in: Z 107 (Dez. 2016), 83-97.