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Politischer Tsunami in Brasilien

Reflexionen zu den Wahlen im Oktober 2018

von Dieter Boris
Dezember 2018

„Bei dieser ‚Wahl der Wahlen’ ging es um mehr

als einen neuen Präsidenten. Es war vielmehr der Höhepunkt
einer Art politischer Selbstfindung für die fünftgrößte Nation der Welt.“
[1]
(Andreas Renschler, Leiter des Lateinamerika-Ausschusses
der Deutschen Wirtschaft, Mitglied des Vorstands der Volkswagen AG)

Es geht in diesem Beitrag nicht um eine detaillierte Beschreibung der abgelaufenen Ereignisse oder die Vermittlung von Grundinformationen; dazu gibt es eine Fülle von Literatur. Vielmehr soll hier wichtigen Zusammenhängen zwischen Wirtschaft, Sozialstruktur/Machtgruppen/sozialen Milieus, politischem System und politischer Kultur dieses Landes in einem zugespitzten, zeitlich besonderen Moment nachgespürt werden, um Erklärungsansätze für die Situation seit der ersten Runde der Wahlen vom 7. Oktober anzubieten. Die Reflexionen werden in thesenartiger und damit verkürzter Form vorgestellt.

1.

Die jetzigen Wahlen (Präsidentschaft, Abgeordnetenkammer, Teile des Senats, Gouverneure, Länderparlamente, Kommunen, Bürgermeister) spielen für Brasilien und den südamerikanischen Subkontinent mehr noch als die vorangegangenen zwei oder drei analogen Wahlen eine herausragende Rolle. Mit seiner flächenmäßigen Größe, der über 210 Millionen zählenden Bevölkerung und einem wirtschaftlichen Gewicht, das fast dem der restlichen Länder Südamerikas zusammengenommen gleichkommt, wird – wie schon der frühere US-Präsident Nixon Anfang der 1970er Jahre formulierte – der Kontinent „sich dorthin bewegen, wohin Brasilien geht“. Aber auch für Brasilien selbst war der Wahlausgang eine Frage der Kontinuität relativer, formeller Demokratie oder der Etablierung eines neuen politischen Systems mit autoritären und sogar faschistoiden Zügen.

2.

Die meisten Vorberichte, Analysen oder Wahlprognosen hatten den Ausgang der Wahlen nicht erahnt. Dass Jair Bolsonaro, Hauptmann der Reserve und Bewunderer der früheren Militärdiktatur (1964-1985) mit seinen faschistoiden Sprüchen (die hier nicht noch einmal wiederholt werden müssen) mit über 46 Prozent beinahe schon im ersten Durchgang die Präsidentschaft erringt, die rechtsbürgerlichen, konservativen Parteien auf wenige Prozentpunkte zusammenschrumpfen sollten, der Kandidat der „Arbeiterpartei“ (PT) Fernando Haddad auf nur 29 Prozent der Stimmen kam und Bolsonaro die Wahl schließlich im zweiten Durchgang deutlich mit 55 Prozent gewann, hat wohl kaum jemand vorausgesagt oder hörbar erwartet.[2]

3.

Dennoch ist die jetzige Konstellation nicht völlig überraschend. Der Niedergang der Linken im Allgemeinen und der PT im Besonderen zeichnete sich spätestens seit 2013 ab. Seit den von niemandem erwarteten Massenprotesten von Millionen überwiegend jüngerer BrasilianerInnen vom Juni/Juli 2013 (zunächst gegen Fahrpreiserhöhungen, dann gegen die Defizite im Bildungs- und Gesundheitssystem sowie in den allgemeinen Infrastrukturen, bei gleichzeitigem Protest gegen die offizielle Politik der Förderung milliardenschwerer Sportarenen für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympiade 2016, der damit verbundenen Vertreibung vieler Favela-Bewohner etc.) hat die von der PT geführte Regierungskoalition die Massenstimmung nicht ausreichend präzise erkannt bzw. kaum darauf reagiert. Die von Dilma Rousseff nur knapp gewonnenen Wahlen im Oktober 2014, ihre juristisch und politisch völlig ungerechtfertigte Amtsenthebung im August 2016, die starken Wahlverluste der PT in den Kommunalwahlen dieses Jahres sowie schließlich die – fadenscheinige und juristisch kaum haltbare – Einkerkerung der charismatischen PT- Führungsfigur „Lula“ (mit guten Chancen für die Präsidentschaftswahlen 2018) waren einzelne Schritte hin zur gegenwärtigen Situation. Die Rechte konnte all dies durchsetzen, ohne auf massive Gegenwehr von Seiten der PT und ihrer Anhänger im weitesten Sinne zu treffen. Die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse hatten sich mittlerweile vollständig verändert – zuungunsten der großen Masse der unteren und mittleren subalternen Klassen. Eine der zentralen Fragen ist, in welchem Ausmaß dieser Faktor – neben anderen Determinanten und Erklärungsfaktoren – ein ausschlaggebendes Gewicht hatte und wie ein solcher Einflussverlust zugunsten von Wortführern der extremen Rechten in so kurzer Zeit möglich war.

4.

Natürlich lässt sich ein derart zentrales und komplexes Phänomen nicht auf einen oder wenige Faktoren zurückführen. Zu vermuten ist, dass dabei unterschiedliche Determinanten auf spezifische Weise zusammenwirkten, obwohl diese bezüglich ihres Gewichts und ihrer Zeitdimension weit auseinander liegen. Neben der Unterscheidung zwischen eher externen und eher internen Faktoren scheint die Differenzierung von langfristig-dauerhaften, von zeitlich intermediären und kurzfristigen Faktoren eine gewisse Bedeutung zu haben. Dazu kommen funktionale Unterscheidungen zwischen dem ökonomischen und dem sozialstrukturellen Feld, dem politischen System und dem Feld der politischen Kultur. (Natürlich ist jeder einzelne Faktor für sich genommen komplex und nicht eindeutig von anderen abgrenzbar; aus analytischen Gründen scheint aber eine getrennte Behandlung sinnvoll.)

5.

Zu den dauerhaft-langfristigen Faktoren würde ich im Kontext der Fragestellung nach der Stabilität/den Handlungsbedingungen einer – wie immer auch – „linken“ Regierung in Lateinamerika davon ausgehen, dass die US-Außenpolitik immer und dauerhaft mit Skepsis und entsprechender Handlungsbereitschaft einer progressiven Regierung (die potentiell auch ihre Interessen tangieren könnte) gegenübersteht. Die Wirkmächtigkeit dieses Faktors ist keinesfalls zu unterschätzen, er dürfte aber erst im Zusammenhang mit anderen Faktoren an Gewicht gewinnen.

Das gleiche gilt für die herrschende Klasse des betreffenden Landes, die selbstverständlich über eine solche Regierung nicht glücklich ist, da diese ihre soziale Basis, ihre (ursprünglichen) Programmpunkte und denkbare Konflikte mit dem bestehenden wirtschaftlichen und politischen Establishment ihre Position und gewohnten Privilegien zumindest teilweise bedrohen könnten. Solange die Linksregierung im Kontext einer günstigen Weltmarktkonjunktur (Rohstoffpreise!) und eines dynamischen Binnenmarktes von ca. 2003 bis etwa 2013/14 mit ihren bescheidenen Sozialreformen (z.B. Null-Hunger Programm, Mindestlohnerhöhung, verbesserte Studienbedingungen für bisher diskriminierte Sozialsegmente – z.B. Afro-Brasilianer – und viele andere Dinge mehr ) die Gewinnmargen nicht negativ beeinflusst hatte (den Banken und den meisten Unternehmen in Brasilien ist es in der Regierungszeit der PT und ihrer Koalition hervorragend gegangen, besser als meistens zuvor!), konnte – wenn auch mit Unbehagen – in Kauf genommen werden, dass beispielsweise bislang völlig rechtlose Hausangestellte nun einen Urlaubsanspruch stellen konnten, und auch anderes passierte, was die Exklusivität der mittleren und oberen Mittelschicht einzuschränken drohte.

Ein weiterer dauerhafter Bedingungsfaktor des Regierungsspielraums ist die Abhängigkeit vom Weltmarkt, die trotz eines beträchtlichen Binnenmarktes in der PT-Regierungszeit nicht reduziert, sondern eher verstärkt wurde.

Ein anderer Faktor mit Langzeitwirkung ist in scheinbar „selbstverständlichen“ und politisch relevanten Alltagsverhaltensweisen zu sehen, die zur „politischen“ oder „Alltagskultur“ des Landes gehören. Klientelismus, Korruptionsanfälligkeit und stark personalisierende Sichtweisen sind in Brasilien – ebenso wie in den meisten anderen lateinamerikanischen Gesellschaften – stark verbreitet. Dass in Brasilien „Machismo“ und rassistische Einstellungen stärker als z.B. in Uruguay oder Costa Rica verbreitet sind, hängt mit der tief eingeprägten Ungleichheitserfahrung und -akzeptanz in einem Land zusammen, das als letztes in Lateinamerikas offiziell die Sklaverei abgeschafft hat (1888); in den ersten Regierungsjahren Lulas kursierten häufig Nachrichten darüber, wie in abgelegenen ländlichen Gebieten Verhältnisse von de-facto-Sklaverei entdeckt und bekämpft wurden.

Diese dauerhaften Faktoren sind mehr oder minder „unterschwellig“, „hintergründig“ vorhanden. Sie werden erst dann politisch, wenn sie untereinander verknüpft und/oder mit anderen (intermediären und kurzfristigen) Faktoren zur gleichen Zeit verbunden werden können. Für diese in bestimmten Konstellationen aktualisierten (vielleicht sogar potenzierten) Dauer-Faktoren spielen intermediäre Momente eine bedeutende Rolle.

6.

Als intermediäre Faktoren werden hier solche verstanden, die zum einen (normalerweise) über eine mittlere Zeitdauer wirksam sind (sein können) und die zum anderen nicht als solche (isoliert) eine bestimmte Richtung der Politik vorgeben. Sie sind durch spezifische soziale und ökonomische Kontexte geprägt, die ihre Rolle in diesen politischen Prozessen mehr oder minder deutlich bestimmen.

Als wichtige intermediäre Faktoren sollen hier die Medien und ihre Ausrichtung/Wirksamkeit sowie die unterschiedlichen Generationen kurz betrachtet werden.

Die Medien spielen in Lateinamerika eine besondere Rolle in der Politik, weil sie – im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern – zu 90 Prozent (oder mehr) in der Hand von Privaten liegen. Oft sind sie „Anhängsel“ (oder eine Art „Presseabteilung“) von großen Wirtschaftsimperien oder Konzerngruppen, die sie für Werbung, Ablenkung und politische Einflussnahme nutzen. Gerade in Ländern, in denen es keine Tradition konservativer Massenparteien gibt, haben sie häufig die Funktion von quasi „Ersatzparteien“ übernommen, besonders in Perioden einer parteipolitischen Linksentwicklung. Aus diesem Grund fanden in manchen Ländern, die von Linksregierungen geführt wurden, nach langen und heftigen Debatten Medienreformen statt, durch die die Allmacht privater Medien etwas relativiert wurde (so z.B. in Argentinien, Venezuela und Ekuador).[3] Besonders in Ländern, in denen große Organisationen mit Massenanhang/-mitgliedschaft (wie z.B. Genossenschaften, Mitgliederparteien, Gewerkschaften etc.) über keine Tradition verfügen und kaum eine Rolle spielen, sind die allgegenwärtigen Medien für die Meinungsbildung und für die Herausbildung von Einstellungen von überragender Bedeutung. (Was nicht heißt, dass sie allmächtig sind, sonst wären Wahlerfolge linker Parteien – nach entsprechender Mobilisierung sozialer Bewegungen – unmöglich gewesen.).

Während der 14jährigen Regierungszeit der PT (2003- 2016) gab es – trotz verschiedener Vorstöße in diese Richtung aus linken PT-Kreisen – weder ein neues, den gerade in Brasilien hoch konzentrierten Mediensektor wenigstens ansatzweise entflechtendes und pluralisierendes Gesetz, noch einen ernsthaften Versuch, die Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) aufzuarbeiten, wie dies z.B. in Argentinien, aber auch Chile, Uruguay etc. der Fall war. Das rächt sich jetzt in mehrfacher Hinsicht. Die Medien sind spätestens seit 2013 die maßgeblichen Einpeitscher einer hasserfüllten Anti-PT-Stimmung und für die Amtsenthebung D. Rousseffs sowie für die Verhaftung/Verurteilung Lulas. Für alle Bestandteile des gegenwärtigen Desasters in Brasilien wird der PT die Hauptschuld zugewiesen (Wirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit, Regierungskorruption, Deformation des politischen Systems, Anstieg der alltäglichen Gewalt und Kriminalität etc.), obwohl andere soziale Kräfte und deren Repräsentanten, die ihre Positionen zuletzt noch gestärkt hatten, wesentlich mehr Verantwortung für die gegenwärtigen Zustände in Brasilien tragen.

Das faktische Bündnis zwischen rechten Strömungen/Parteien, einer in eine bestimmte Richtung politisierten Justiz, einer Polizei und eines Militärs, das immer häufiger indirekt oder direkt in die Politik eingreift und der überaus starken Lobby der Großgrundbesitzer sowie evangelikaler Gruppierungen, die den konservativen Grundtrend verstärken, hat im Zusammenwirken die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse in diesem Land – vor allem in den letzten fünf Jahren – deutlich verändert. Die evangelikalen Gruppen sind in Brasilien während der letzten 30-40 Jahre schnell gewachsen, es wird geschätzt, dass sich mittlerweile ein Drittel oder mehr der Bevölkerung diesen Glaubensrichtungen zuordnet. Ihren „Tempeln“ sind häufig soziale Einrichtungen angeschlossen, die praktische Hilfe für Alleinerziehende, für Schulkinder, bei Krankheiten etc. leisten. Weder die PT noch die katholische Kirche sind offenbar in den Favelas so präsent wie die evangelikalen Kirchen. Gerade für Frauen aus Armenvierteln, für die große Zahl prekär Beschäftigter und für bildungsmäßig Benachteiligte stellen die auf häusliche Disziplin, Alkoholverbot und individuelle Anstrengung abstellenden Lehren ein attraktives Angebot dar. Da die meisten evangelikalen „Kirchen“ dazu aufgerufen haben, für Bolsonaro zu stimmen, dürfte aus diesen Sektoren ein bedeutender Teil der Unterschichten-WählerInnen stammen. (E.Febbro in: rebelion.org .v. 18.10.2018).[4]

Zwar haben die dominanten Medien Bolsonaro zuletzt nicht direkt unterstützt, sondern die in der ersten Runde der Wahlen kläglich gescheiterten Kandidaten der konservativ-neoliberalen Parteien PSDB und MDB; sie haben aber den Boden für die zunehmende Polarisierung und Erscheinungen eines „schleichenden Putsches“ bereitet. Daher war es für manche Beobachter wenig glaubwürdig, als das „Flaggschiff“ der konservativen Presse „O Globo“ vor der zweiten Runde der Wahlen von einer Entscheidung zwischen „Zivilisation und Barbarei“ sprach. Demgegenüber wird eingewandt, das der bisherige Diskurs der konservativen Medien, die Brasilianer müssten sich zwischen „Links- und Rechtsextremismus“ entscheiden, sehr gefährlich gewesen sei, da er „der orientierungslosen Mitte der Gesellschaft eine Rechtfertigung liefert, im Zweifelsfall für den ultrarechten Jair Bolsonaro zu stimmen“, gewissermaßen als das „kleinere Übel“ gegenüber der vollständig dämonisierten PT (vgl. SZ v. 9. Okt. 2018).[5]

Generationen sind bekanntlich keineswegs nur biologisch fassbare Einheiten, sondern ganz wesentlich auch soziale Kategorien, die auf ähnliche Erfahrungen und Sozialisationsbedingungen in bestimmten Phasen der geschichtlichen Entwicklung verweisen. Diese sind zusätzlich klassenmäßig und milieuspezifisch geprägt, so dass sich nur in einem recht allgemeinen Sinne von zeit- und periodentypischen Erfahrungen und daraus ableitbaren Verhaltensorientierungen bestimmter Alterskohorten sprechen lässt. Trotz dieser Einschränkungen kann man wahrscheinlich von einer unterschiedlichen Aufnahmebereitschaft von bestimmten politischen oder sozio-kulturellen Diskursen bei jeweiligen Altersgruppen ausgehen. Es fällt z.B. auf, dass bei den Präsidentschaftswahlen im November 2015 in Argentinien, die der konservativ-neoliberale Kandidat Macri vor dem peronistischen Bewerber Scioli gewann, neben vielen anderen Faktoren der Umstand wichtig war, dass der erstgenannte bei den Erst- und Jungwählern und -wählerinnen einen klaren, vielleicht ausschlaggebenden Vorteil hatte und damit möglicherweise den knappen Ausgang der Wahlen entschied.

Zwar liegen zu den letzten Brasilien-Wahlen bezüglich der alterspezifischen Stimmabgabe noch keine genauen Analysen vor (jedenfalls mir nicht), aber es gibt Hinweise darauf, dass Bolsonaro mit seinen radikalen und energischen Anti-Establishment Diskursen besonders junge WählerInnen ansprechen konnte (trotz allem Rassismus, seiner Frauenfeindlichkeit, Homophobie etc.) (Breno Costa 2018). Das gleiche gilt für die gewählten Abgeordneten von Bolsonaros Partei (PSL, Partido Social Liberal). „Die Jugend ist ein hervorstechendes Merkmal der Bolsonaro Abgeordnetenbank. Das durchschnittliche Alter der gewählten Abgeordneten liegt bei 45 Jahren“, deutlich unter dem bisherigen Durchschnitt des gesamten Parlaments (Breno Costa 2018). Die nun die politische Bühne betretende Generation der 20-bis 40jährigen scheint auch ein anderes Verhältnis zur Militärdiktatur von 1964 - 1985 zu haben. Die angeblich „positiven“ Seiten dieser Periode (Stabilität, Sicherheit, Ruhe und Ordnung, hohes Wirtschaftswachstum, Ausbau von Infrastrukturen, Steigerung des außenpolitischen Gewichts des Landes etc.) werden oft als wieder anzustrebende Ziele genannt. Die negativen Seiten der Militärdiktatur (Menschenrechtsverletzungen, Tote, Folter, Willkürherrschaft, Steigerung der ohnehin extremen Ungleichheit im Lande, Verfolgung von Kirchenangehörigen, Gewerkschaftern, brutale Zurückdrängung von Indigenen etc.) werden verdrängt/vergessen, oder werden als relativ positiv auch für eine aktuelle politische Orientierung angesehen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass erhebliche Teile der älteren Generation die Zeit der Militärdiktatur als ganz oder überwiegend positiv in Erinnerung haben. Die Kontinuität des führenden Personals aus dieser Zeit (in Militär, Polizei, Verwaltung) war und ist noch sehr hoch; kein einziger Hauptverantwortlicher für die Verbrechen der Diktatur (Folter, Mord etc.) wurde je verfolgt oder angeklagt. Mit der (teilweise berechtigten) Kritik am politischen System der neuen Republik (vor allem seit ca. 2012/13) wurde das Erinnerungsbild an die Zeit der Militärdiktatur immer positiver und als „wünschenswerter Zustand“ bei „einem substantiellen Teil der Bevölkerung“ (R. Zibechi) ins Bewusstsein gebracht. Dies war ein schrittweiser, gradueller Prozess. Bolsonaro ist erstmals in Brasilien wie im Ausland bekannt geworden, als er bei der namentlichen Abstimmung zur Amtsenthebung von D. Rousseff seine Ja-Stimme öffentlich einem berüchtigten Militäroberst aus der Diktaturzeit widmete, der Dilma gefoltert hatte. Mittlerweile hat der Präsident des Obersten Bundesgerichts (Supremo Tribunal Federal – entspricht etwa dem Bundesverfassungsgericht), José Antonio Dias Toffoli geäußert, dass man nicht mehr von einer „Militärdiktatur“, sondern von der „Bewegung von 1964“ sprechen sollte![6]

Zusammengefasst: Bei der Beantwortung der Ausgangsfrage, wie das möglich ist, was augenblicklich in Brasilien passiert, ist die Untersuchung von unterschiedlichen Generationen und dem Problem des „kollektiven Erinnerns bzw. Vergessens“ eines, das genauer in Augenschein genommen werden muss, als dies gemeinhin geschieht. Es scheint sich hier um einen „intermediären Faktor“ zu handeln, der lange Zeit nur latent wirksam war und der unter bestimmten Umständen verstärkt und in aktualisierter Form in den Vordergrund tritt.

7.

Die kurzfristigen Bestimmungsfaktoren der aktuellen Situation sind vielfältig und in ihrem Einzelgewicht schwer bestimmbar. In aller Kürze sollen sie aufgezählt und in ihrem Zusammenwirken umrissen werden.

a) Die 2013/14 eingetretene schwere Rezession, die erst 2018 durch eine leichte Belebung abgelöst wurde, hat eine Verstärkung der Ungleichheit, eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit, der Armutsquote und der Informalisierung der Beschäftigung mit sich gebracht; die Regierung Temer, der Nachfolger von Rousseff, hat die ohnehin geringen sozialpolitischen Kompensationen wieder gekürzt. Vor allem aber auch ein neoliberales Austeritäts- und Deregulierungsprogramm begonnen, z.B. bezüglich der Arbeitsgesetze, das die Krisenlasten für die Masse der Bevölkerung noch einmal verstärkt hat.

b) Die Aufdeckung des bislang größten Korruptionsskandals in der Geschichte Brasiliens und vielleicht Lateinamerikas (viele lateinamerikanische Regierungen sind involviert) spielt eine besondere Rolle für die Herausbildung und Zuspitzung der Anti-PT-Stimmung. Die Untersuchung der Dimensionen (über 800 Mio. US Dollar) und der Verzweigungen dieses Skandals (Odebrecht, Petrobras, „Lava Jato“ sind Stichworte dieser Mega-Korruption) ist noch im vollen Gange.

c) Die Deformation des politischen Systems und der Parteien sowie der politischen Positionsträger ist im Rahmen des Amtsenthebungsverfahren noch einmal deutlich geworden; 200 bis 300 Abgeordnete, Senatoren, hohe Funktionsträger sind augenblicklich in Strafverfahren verstrickt oder schon verurteilt; in einem politischen System, in dem Parteien, Programme und die Interessenvertretung von Wählern keine Rolle gegenüber Geldeinnahmen (aller Art), Postenschacher und Machtausdehnung spielen und in dem manche Abgeordnete fast ein Dutzend Mal ihre „Parteien“ gewechselt oder neu gegründet haben, verwundert es nicht, dass das Vertrauen der Bevölkerung in „die Parteien“ (es konkurrierten bei der Wahl weit über dreissig!) aktuell bei etwa 10 Prozent liegt, während „das Militär“ oder „die Kirche“ in der Glaubwürdigkeit bzw. der positiven Beurteilung bei der Bevölkerung bei 50 bis 60 Prozent liegen (Flemes 2018, Manz 2018).

d) Die Zunahme der alltäglichen Gewalt in den Straßen und Favelas, der Überfälle auf Banken, Einbrüche etc. hat zu einer zunehmenden Militarisierung geführt – z.B. in Rio de Janeiro, wo eine Militärverwaltung die zivile Regierung abgelöst hat (vgl. NachDenkSeiten v. 1. März 2018). Dies hat mit den Verarmungsprozessen, dem Machtzuwachs der Drogenkartelle sowie mit der Vertreibung von Bevölkerungsteilen aus Favelas und armen Stadtvierteln im Kontext der Vorbereitung auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympiade 2016 zu tun. Die offensichtliche Kluft zwischen öffentlicher Verschwendung/ Korruption und Mega-Events für die Wohlhabenden und der krassen Missachtung der ärmeren Bevölkerungsteile bis in die Mittelschichten hinein hat zu einer Ernüchterung gegenüber dieser Politik von „Brot und Spielen“ geführt, die auch die PT betrieben hatte. Man hört, dass die Begeisterung für Fußball und andere Sport-Großereignisse spürbar abgenommen und eine gewisse Ernüchterung um sich gegriffen habe. Es scheint daher einiges dafür zu sprechen, dass zumindest Teile der Unterklasse aus den Favelas und Armenvierteln dem Sicherheitsdiskurs Bolsonaros eher vertraut haben als den sich als falsch und heuchlerisch herausstellenden und/oder nur langfristig wirkenden Versprechungen der PT. Sie sind die von der gestiegenen Gewaltkriminalität mit Abstand am meisten betroffene Bevölkerungsgruppe (J. Elbaum in: rebelion.org v. 18.10. 2018).

e) Die PT als maßgebliche Regierungspartei hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt und ihre einstige Basisnähe in bedeutendem Maße verloren; die Einbindung in die Regierung und die entsprechenden Posten sowie die Anpassung an die dominanten Züge der politischen Kultur des Landes (Korruption, Klientelismus etc.) hat ihre Fähigkeit zu einer selbstkritischen Analyse offenbar stark eingeschränkt und eine grundsätzliche Korrektur des Kurses unmöglich gemacht. Die unrealistische (und nur für kurze Zeit scheinbar mögliche) Politik der „Klassenversöhnung“[7], der Weltmarktorientierung im ökonomischen Bereich, der Förderung der privaten Bildungsinstitutionen und vieles andere mehr, womit sie sich von ihrem ursprünglichen Versprechen des Kampfes gegen Neoliberalismus und die Polarisierungstendenz des Kapitalismus immer weiter entfernt hat, haben die Glaubwürdigkeit der PT untergraben. Ihr Schwanken zwischen neoliberaler Austeritätspolitik und staatlicher Nachfrageförderung in der Schlussphase der Ära Rousseff – diametral entgegen ihren gerade gegebenen Wahlversprechen – hat die Enttäuschung der bisherigen PT-Anhänger so sehr gesteigert, dass die Proteste gegen die willkürliche und juristisch nicht zu rechtfertigende Amtsenthebung ziemlich schwach blieben und nicht massenwirksam wurden. Das gleiche gilt für die Zeit nach Lulas Gang ins Gefängnis.

Diese und vielleicht noch weitere kurzfristige Verursachungsfaktoren – im Verein mit den erwähnten intermediären und langfristigen Faktoren, die sich jetzt noch stärker entfalten konnten – haben zur gegenwärtigen desolaten Situation in Brasilien geführt. Es sieht so aus, als ob der Hass auf die PT, die mit Establishment/Korruption etc. identifiziert wird, zum Teil aus Enttäuschung und den nicht erfüllten Erwartungen resultiert. Dies wird von erheblichen Teilen der Bevölkerung offenbar als gravierender und tadelnswerter angesehen als das Handeln des wahren Establishments und der wirklichen ökonomischen, politischen und medialen Machthaber, denen sich mit Bolsonaro eine möglicherweise nicht besonders geschätzte, aber doch real mögliche Alternative bietet.

Der in den alltäglichen Auseinandersetzungen (z.B. auch: enorme Zunahme von Gewalt) zu spürende Hass auf die PT (und „ihr sog. System“!) scheint bei einem wichtigen, zu Wechseln bereiten Wählersegment stärker zu sein als die Furcht vor Bolsonaro und dem, was mit ihm kommt.

Nach dem 7. Oktober schossen jedenfalls die Börsenkurse in die Höhe.

8.

Der Blick in die Zukunft verweist auf die Vergangenheit. Der in der Stichwahl am 28. Oktober mit 55 Prozent der Stimmen gewählte Bolsonaro konnte sich souverän gegen die zuletzt aufgekommenen Protestbewegungen gegen seine Kandidatur (z.B. die hauptsächlich von Frauen getragene Bewegung: „Ele não! (Der nicht!) behaupten. Trotz seiner Versicherung, „Freiheit und Verfassung“ zu respektieren, scheint sich die nahe Zukunft für Brasilien zu verdunkeln. Der Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und die weitere, verstärkte ökonomische Nutzung des Amazonasurwalds sind nach vielen Ankündigungen sehr wahrscheinlich. – Neben einem pensionierten General, Hamilton Mourão, der zum Vizepräsidenten gewählt wurde, sollen weitere sechs oder sieben Militärs in dem fast um die Hälfte zu verkleinernden Kabinett angehören.[8] Der Richter Sergio Moro, der die Ermittlungen in dem Riesenkorruptionsskandal leitet und der schon zahlreiche Spitzenmanager und hochrangige Politiker (zuletzt auch „Lula“) ins Gefängnis gebracht hat, soll zum Justizminister ernannt werden. Ein „Chicago-Boy“, Paulo Guedes[9], der bereits im Chile der Pinochet-Diktatur „als Dozent an der Universität von Chile die reine Lehre vom Markt“ verkündete (FAZ v. 30. Okt. 2018), dann in Brasilien eine bedeutende Investmentbank gründete und damit zu erheblichem Reichtum gelangte, soll „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen werden. Abstand vom „Staatsdirigismus“, Privatisierungs- und Liberalisierungsprogramme für möglichst viele Arbeits- und Lebensbereiche gehören ebenso zu seiner Agenda wie eine entsprechende Sanierung des Rentensystems (Privatisierung und Kürzungen, zumindest teilweise). Dass soziale Bewegungen (wie die der Landlosen oder der Obdachlosen etc.) zukünftig als „terroristisch“ illegalisiert werden sollen, die Schutzgebiete für die Indigenen aufgehoben werden müssten, der Erwerb und der Gebrauch von Feuerwaffen erleichtert und das Strafmündigkeitsalter auf 16 Jahre herabgesetzt werden soll, sind weitere Mosaiksteine im Horrorgemälde, auf das sich Brasilien und die Welt wohl in naher Zukunft einzustellen hat.

Literatur

Boris, Dieter (2014): Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika , Köln

Brum, Eliane (2018): Lulas Brasilien oder: Die Illusion der Versöhnung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik H.9, S.53-63

Costa, Breno (2018): Quién es quién en el ejército de Jair Messias Bolsonaro, Octubre 2018, Nueva Sociedad Newsletter, S.1-8

Flemes, Daniel (2018): Wahl in Brasilien: Rechtspopulismus auf dem Vormarsch, Giga Focus Lateinamerika, September 2018

Manz, Thomas (2018): Erneuerung der Politik oder Erosion der Demokratie? Brasilien vor den Wahlen, Internationale Politikanalyse Friedrich Ebert Stiftung

Zibechi, Raúl (2018): Raíces de un fenómeno socio-político. Una huracán llamado Bolsonaro, in rebelion.org. v. 13. 102018

[1] FAZ v. 31.10.2018, Der Autor warnt vor erschreckten Reaktionen auf den Wahlausgang. Als hervorragender Kenner Brasiliens beruhigt er: „Rechtssicherheit ist vorhanden, die Institutionen sind gefestigt.“

[2] Siehe z.B. das Supplement Heft des „Sozialismus“ (10/ 2018) mit Schwerpunkt: „Linke in Lateinamerika“ oder recht optimistische Kommentare wie den vom 28.8.2018 unter der Überschrift: „Causa Lula kann die Linke vereinen“ (Kommentare und Analysen). Dagegen waren die Analysen von Flemes 2018 (Giga-Focus Lateinamerika) sowie von Manz 2018 (FES Brasilien) wesentlich näher an der aktuellen Realität der Kräfteverhältnisse und der Massenstimmung in Brasilien.

[3] Siehe hierzu beispielsweise Boris (2014): 110ff.

[4] Diese drei Lobbygruppen (die „drei B“ in Brasilien genannt: buey, Rind, d.h. Agrarlobby, biblia, d.h Evangelikale, und balas, Kugeln, d.h. Polizei, Militär und Waffenlobby) haben mit knapp über 300 von 513 Sitzen in der neuen Abgeordnetenkammer nun erstmals eine deutliche Mehrheit (vgl. Breno Costa 2018).

[5] Bolsonaro kann auf die Hauptkanäle (TV und Rundfunk) der stärksten evangelikalen Vereinigung um Emir Macedo zurückgreifen. Dieser ist Gründer und geistliches Oberhaupt der „Universalen Kirche des Königreich Gottes“, die über beträchtliche Ressourcen im ganzen Land, über tausend „Tempel“ und zahlreiche Immobilien, Grundstücke etc. verfügt und darüber hinaus das zweitstärkste Fernseholigopol, „Rekord TV“, besitzt. Macedo hat Bolsonaro deutlich gefördert und favorisiert. Ansonsten stützt Bolsonaro sich auf soziale Netzwerke (aller Art) und kann sich leisten an allgemeinen Fernsehdiskussionen der Kandidaten und Pressekonferenzen nicht teilzunehmen.

[6] Man stelle sich analog vor, dass Herr Vosskuhle als Präsident des Bundesverfassungsgerichts erklärt, man solle nicht mehr von der NS-Diktatur, sondern der „Bewegung von 1933“ sprechen.

[7] Siehe Brum (2018): 53ff.

[8] Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass seit 2013/14 eine Gruppe ranghoher Militärs sich regelmäßig traf und ihre Rückkehr in die Politik „minutiös“ plante; dabei stießen sie auf ihren Ex-Kollegen Bolsonaro, der lange Zeit als eher unbedeutende Figur eingeschätzt wurde. Vgl. M. Schenk: Rechtsextremer Bolsonaro – Zögling des Militärs in Brasilien, in: amerika 21 v. 27. 10. 2018

[9] Vgl. dazu die Porträts in: German foreign policy v. 30.10. 2018 und FAZ v. 30. 10. 2018