Das zu Ende gehende Jahr 2018 ist vertrackt. Der Geburtstag von Karl Marx jährt sich zum 200. Mal – „Marx ist wieder in“ (Andrea Nahles[2]). ‘68 ist fünfzig Jahre her. – Allenthalben avancieren „die ‘68er“ (die es m. E. de facto als homogene Gruppe gar nicht gegeben hat) zu gefragten Zeitzeug_innen, besonders die überwiegend männlichen „Promis“ unter ihnen. Mit ihren nostalgischen Schnurren unterstützen sie die Bemühungen herrschender Ideologieproduzenten, (kultur-)revolutionäre, antiimperialistische, antikapitalistischer Impulse auf ein „Sammelsurium von Selbstverwirklichungsprojekten“ (Klaus Jünschke [3]) zu reduzieren und sich die Deutungshoheit über das „Jahr der Revolte“ zu sichern. (Ich bin gespannt, was den Feuilletons im November zum 100. Jahrestags des Kriegsendes und der Revolution einfällt.) Studierenden, die 2018 unter ökonomisch und auch politisch[4] ungemütlichen Bedingungen ihre aktuellen Kämpfe ausfechten müssen, ist ‘68 fast dreißig Jahre ferner als unserer Generation damals die Befreiung vom Hitlerfaschismus. Ihnen müssen die Stories der APO-Opas wie Münchhausens Erzählungen vorkommen. Wer wissen will, was in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wirklich geschah, warum, mit welchen Folgen und was das alles mit heute zu tun hat, der lese das schmale Bändchen eines Aktivisten und zeitweiligen Mitglieds des Vorstands (1965/66) und der Politischen Kommission (1967/‘68) des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS): Frank Deppe wendet sich in seiner kurzen, hoch konzentrierten und differenzierten Darstellung der damaligen Zeit den ökonomischen und gesellschaftlichen Umbrüchen jener Jahre zu und verbannt dabei bedauerlicherweise seine eigene, durchaus nicht unerwähnenswerte Zeitzeugenschaft in die Anmerkungen.[5]
Deppe analysiert zunächst, wofür „‘68“ als Chiffre fungiert: Jene weltweite Welle vielfältiger, systemkritischer Rebellionen währte von etwa Anfang/Mitte der sechziger bis Anfang/Mitte der siebziger und blieb wirksam bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in den Folgen bis heute: Die ersten spürbaren Erschütterungen des scheinbar unendlichen Nachkriegsbooms in den USA und in Teilen von Westeuropa waren erste Zeichen der „Erosion der alten (Nachkriegs-)Ordnung“, d.h. der bipolaren Blockbildung des Kalten Krieges, der Teilung in die „entwickelte“ (i.e.: ausbeutende) „Erste“ und die „unterentwickelte“ (i. e.: ausgebeutete) „Dritte Welt“. Zugleich zeigte sich die beginnende Erosion von überkommenen, autoritären, patriarchalen, frauen- und lustfeindlichen Strukturen, von Kasten-, Klassen-, „Rassen“- und Bildungsschranken. Die Civil Rights Movements und die Students for a Democratic Society (SDS) in den USA entwickelten neue Aktionsformen (Bus-Boykott, Sit-in, Go-in, Teach-in) und erkämpften erste Erfolge, ebenso wie antiimperialistische Bewegungen in der „Dritten Welt“. Die ermordeten Helden dieser Bewegungen Martin Luther King[6] und Che Guevara[7] – wurden zu Ikonen auch der europäischen Jugendbewegungen. Mit den weltweit publizierten Fotos und Filmen von Verbrechen der US-Truppen und ihrer Verbündeten in Vietnam verlor die Führungsmacht des Westens ihre moralische Legitimation.
„Die ‚materiellen Wertestrukturen' der Nachkriegszeit“ weichen den „Möglichkeiten der Erweiterung individueller Freiheitsräume“. Die Rebellion findet ihren Ausdruck in der neuen „Jugendkultur“, (Jazz-, Rock- Beat, Pop-) Musik, einer neuen Ästhetik und einer – durch „die (Antibaby-)Pille“ ermöglichten – neuen Sexualmoral. Die ersten „WGs“ entstehen. Die mit zunehmend unsicheren Berufsperspektiven konfrontierte Jugend artikuliert nicht nur die Notwendigkeit von Bildungsreformen, sie revoltiert zugleich gegen autoritäre Herrschaftsstrukturen weltweit. Die Vehemenz dieser Revolte wird in der Bundesrepublik noch verstärkt: Spätestens nach den Frankfurter Auschwitzprozessen nehmen die Rebellierenden das Verdrängen, Beschweigen und Verleugnen der Naziverbrechen nicht mehr hin. Das „Vertrauen in die Elterngeneration (war) zutiefst enttäuscht und zerstört“ (36).[8]
Zumindest in Europa markiert das Jahr ‘68 tatsächlich den Höhepunkt der Revolten: In der ČSSR mit der Wahl von Alexander Dubček zum 1. Sekretär der KPČ im Januar und dem Prager Frühling; in der Bundesrepublik mit den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, den Springer-Konzern und die Notstandsgesetze; in Frankreich mit dem Pariser Mai, den Studentenprotesten und dem wochenlangen Generalstreik. Zugleich markiert ‘68 aber auch schon den Wendepunkt – mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze unter der ersten Großen Koalition, mit dem Wahlsieg de Gaulles in Frankreich und schließlich mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR. Für viele der Rebellierenden in Prag war „Reform“ das Schlüsselwort, in Frankreich und Deutschland war auch viel von „System überwindenden Reformen“ (André Gorz) die Rede.
Die sozialistische Weltrevolution, die in der Abschlusserklärung des Internationalen Vietnam-Kongresses im Februar ‘68 in Berlin gefeiert wurde, hat nicht stattgefunden. Mit der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings waren zudem „die letzte Chance innerkommunistischer Reformen, d.h. einer Öffnung und Demokratisierung der spätstalinistischen Systeme, verwirkt“ (20) und der Zerfall der kommunistischen Weltbewegung eingeleitet.
Das sozialdemokratische Jahrzehnt
Kaum begonnen – schon zerronnen? Nein, denn der zumindest teilweise durchgesetzte Abbau von Bildungsbarrieren, von „Kasernenhofdisziplin“ und „quasi-feudalen Herrschaftsverhältnissen“ (43) lag – angesichts der durch die Entwicklung der Produktivkräfte „veränderten Struktur der Arbeiterklasse“ – durchaus im Interesse „der Wirtschaft“, ebenso wie die Öffnung der Märkte und damit des politischen Systems „der westlichen Welt“ gen Osten. 1969 startete Bundeskanzler Willy Brandt die „Neue Ost-Politik“ und wollte „Mehr Demokratie wagen!“. Zugleich wirkten die „Studentenunruhen als eine Art Initialzündung für eine Welle von Klassenkämpfen in Westeuropa, die bis in die 1970er Jahre anhielt“ (43). Selbst in der BRD kam es zu einem Anstieg der Streikausfalltage und einer Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades (45). Besonders in Italien und Frankreich entwickelten Ende der sechziger Jahre Arbeiter_innen neue Aktions- und Organisationsformen. Diese führten die – überwiegend von Intellektuellen, Künstler_innen, Studierenden – formulierte „Künstlerkritik“ (Boltanski/Chiapello) an Entfremdung, und „Entmenschlichung der Welt“ mit der „Sozialkritik“ zusammen, verknüpften sie mit der „Sorge vor Arbeitslosigkeit …, Forderungen nach Erhöhung der Löhne …, nach Erweiterung der Mitbestimmung“ und nach „Ausbau sozialstaatlicher Sicherungen“ (46). „Keine Revolution also, vielmehr der Beginn eines „sozialdemokratischen Jahrzehnts“. Dazu gehörten das „strategische Ziel (der ) Schwächung der Kommunisten“ (60), aber auch die „Reform der Bildungs- und Wissenschaftspolitik sowie Reformen der Arbeitsmarktpolitik“ und die „Humanisierung der Arbeit“, Dazu gehörte auch eine „kritische Distanz“ zur rabiaten imperialistischen Politik der USA in Vietnam, Chile und anderswo und – nach dem Sturz der faschistischen Regime – der Aufstieg der sozialdemokratischen Parteien in Griechenland, Portugal, Spanien, mit Verspätung auch in Frankreich. Vorbild war das „sozialdemokratische ‚schwedische Modell’, die am weitesten entwickelte Form eines korporatistischen Regimes, das Privatbesitz und ‚öffentliche Wohlfahrt’ erfolgreich miteinander kombiniert“ hatte (62/63). Mit Ausnahme von Spanien und Frankreich, wo die Sozialisten 1980 die Wahlen gewannen, endete dies Jahrzehnt mit der „Erfahrung von Stagnation und chronischer Massenarbeitslosigkeit seit den späten 1970er Jahren“ (62) sowie mit Wahlsiegen der Konservativen.
Die „Revolutionäre“ hingegen liefen schon Ende ‘68 auseinander und zerfielen in sektiererische „revolutionäre Arbeiterparteien“, eine „Karikatur historischer Vorbilder“ (51). Die großen kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien versuchten den Weg des „Eurokommunismus“: Nach der Erfahrung des faschistischen Putsches in Chile machte der PCI der Democrazia Cristiana 1973 das Angebot eines „‘historischen Kompromisses‘ zwischen den Kräften, die die Mehrheit des italienischen Volkes vereinen und vertreten“, um „auf diesem Weg … gleichzeitig … die Voraussetzungen für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft (zu) schaffen … und die ungehinderte Ausübung … aller Freiheiten (zu) gewährleisten“ (67). Der PCI positionierte sich nun gegen Italiens Austritt aus der NATO, zähmte die Gewerkschaften und trug den Ausbau des staatlichen Exekutivapparats im „Kampf gegen den Terrorismus“ mit. „Diese Politik scheiterte.“ (68) 1978 wurde der offenbar kooperationsbereite DC-Politiker Aldo Moro entführt und ermordet. 1979 /80 erlitten die Gewerkschaften bei FIAT eine schwere Niederlage. Nach dem plötzlichen Tod von Enrico Berlinguer 1984 „war der Verfall des PCI nicht mehr aufzuhalten.“ (69) 1991 folgte seine Selbstauflösung.
Bis 1973 war in einigen westeuropäischen Ländern tatsächlich „eine Konstellation entstanden, in der … eine weitere Umverteilung der Einkommen zugunsten der Lohnabhängigen sowie ein Übergang zur Investitionslenkung …, Nationalisierung von Schlüsselsektoren …, Ausweitung des öffentlichen Sektors,...Demokratisierung... der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft“ (73) möglich schien. Der „Aufschwung der Klassenkämpfe“ seit den späten 1960ern führte zu Reallohnerhöhungen und zur Steigerung der Staatsausgaben, bei gleichzeitigem „Verfall der Produktivität, vor allem im verarbeitenden Gewerbe, also in den Kernsektoren der fordistischen Massenproduktion“ (79) Zugleich stiegen die Ausgaben für Wissenschaft, Bildung, Gesundheit und eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Nach der mit dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods und der Ölkrise von 1973 aufziehenden Weltwirtschaftskrise von 1974/75, die den Übergang vom Fordismus „in eine neue Formation des Kapitalismus“ einleitete (77) und die zyklischen Krisen, damit das „Gespenst der Massenarbeitslosigkeit“[9] zurückkehren ließ, blieb das sozialdemokratische Rezept „Keynesianismus plus kapitalistischer Wohlfahrtsstaat“ (73) wirkungslos. Das Kapital kündigte den bisherigen Klassenkompromiss auf. „Im Verlauf der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurde schließlich der … Paradigmenwechsel vom Keynesianismus zur Neoklassik … eingeleitet, … zum Monetarismus, der der Fiskalpolitik als einzige und wichtigste Aufgabe vorschreibt, die Inflation durch eine Austeritätspolitik niedrig zu halten.“ (85/86) Zugleich ging die Mobilisierungsfähigkeit der Arbeitenden zurück.
Was aber von ‘68 überdauerte, war eine zumindest teilweise Befreiung von anachronistischen Restriktionen des Alltagslebens, die zugleich „dem Kapitalismus die Möglichkeit (bietet), sich auf neue Kontrollformen zu stützen“ (70). Und es blieben die „neuen sozialen Bewegungen“: „Alternativ-, Ökologie-, Frauen- und Friedensbewegungen, die den ‚Abschied vom Proletariat‘ beziehungsweise das ‚Ende der Arbeiterbewegung‘ proklamierten und sich gleichzeitig von Sozialwissenschaftlern als die neuen Subjekte der Emanzipation feiern ließen.“ (70)
Deppe beschreibt auch, wie die bloß erträumte Revolution ihre Kinder fraß (87-96) und in den „bürgerlichen Kosmos“ re-integrierte: Der frühere ‚antirevisionistische’ Juso Gerhard Schröder und der ehemalige ‚Straßenkämpfer’ Joschka Fischer bildeten 1998 eine rot-grüne Koalition, beteiligten sich 1999 in Jugoslawien als erste deutsche Bundesregierung an einem NATO-Krieg und setzten 2003 bis 2005 „mit der Agenda 2010 … die radikalsten neoliberalen ‚Reformen’ in der neueren deutschen Geschichte durch“ (87). Heute sind die Herren Unternehmensberater. Der Revolutionsliebhaber Daniel Cohn-Bendit ist ein guter Freund von Emmanuel Macron und wirbt seit Jahren für militärische Interventionen weltweit. Wie Jürgen Habermas und der Historiker Norbert Frei interpretieren sie ‘68 als „Teil einer westlichen Kulturrevolution …, die unter den Begriffen Emanzipation, Partizipation und Transparenz – für die Konstruktion eines ‚modernen Deutschland’ für den Bruch mit der postfaschistischen Bundesrepublik einen wichtigen Beitrag geleistet habe.“ (89) Das ist sicher richtig, aber nur die halbe Wahrheit: Der Aufstand gegen Konventionen war zugleich ein Aufstand gegen den Kapitalismus. Beides voneinander zu trennen, hieß schon damals, sich von der realen Arbeiterbewegung zu entfernen. 1971 war Joschka Fischer zu Opel ans Band gegangen, um die Arbeiter aufzufordern, mit ihm Revolution zu machen. Als diese keine Lust dazu hatten[10], kündigte er nach einem halben Jahr. Er wurde bekanntlich später Mitglied der Grünen, Bundestagsabgeordneter, Umweltminister in Hessen, Außenminister.
Der Historiker und Ex-KBW-Funktionär Gerd Koenen hat die Zeit zwischen 67 und 77 als eine „Periode adoleszenten Irreseins charakterisiert“; er überwand schließlich seine „Realitätsstörungen“ und gehört heute – wie einige französische Ex-Maoisten – zu den eifrigen Warnern vor dem „kommunistischen Gift“ (91). Obwohl die von Brandt eingeführten Berufsverbote vielen den Weg in Berufskarrieren versperrten, konnten durch den Ausbau des Bildungssystems in den 1970ern relativ viele „68er“ eine Hochschulkarriere machen. Etliche kamen auch im Medien-, Kultur- oder Politikbetrieb unter. Nicht alle, aber die meisten von ihnen „schworen dem Marxismus ab“ (92). Sie „sehen sich nicht als Renegaten, sondern fühlen sich als der progressive Flügel des Herrschenden Blocks in dem führenden kapitalistischen Staat Europas.“ (94)
Die rechte Revanche für ‘68
Der heute herrschende Konsens aber ruft, wie Deppe ausführt, „die rechte Revanche für ‘68“ hervor. Protagonisten waren und sind Konservative und Reaktionäre. Zuerst – Helmut Kohl (CDU) mit der „geistig-moralischen Wende“ von 1982, heute Alexander Dobrindt (CSU) mit dem Ruf nach der „konservativen Revolution“ und Jörg Meuthen (AfD) mit dem Ausfall gegen das „moralisch verkommene, links-grün versiffte ‘68er Deutschland“. Die von den konservativen Eliten schon immer bevorzugten Werte – Patriotismus, Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Vaterlandsliebe usw. werden wieder entdeckt (98). Von der AfD, Pegida und der „Jungen Freiheit“ konstruierte Verschwörungstheorien sehen in der Bundesrepublik „die Achtundsechziger und ihre linken Adepten an den Schalthebeln“ der Republik, an deren Spitze … Angela Merkel mit eine ‚sozialdemokratisierten’ Christdemokratie stehe, die ‚Deutschland abschaffen’“ (Deutschland-Kurier, 31.1.2018, zit n. Deppe, 104/105) wolle. Wie die letzten Wahlen, aktuelle Wahlprognosen sowie die Zunahme rechter Demonstrationen und Straftaten belegen, erzielt diese Ideologie durchaus Mobilisierungseffekte, vor allem bei jenen, die sich im Beruf oder in ihrer Biographie nicht anerkannt fühlen, die Angst vor dem sozialen Abstieg, Armut und Krisen haben. Zugleich betreibt die AfD eine „Kampagne … gegen die Linke, gegen Kommunismus, Sozialismus, Sozialdemokratie, Grüne und liberale Kosmopoliten“. „Adressat ist dabei weniger das Prekariat als die Oberschicht der Facharbeiter, die um ihren relativen Wohlstand fürchten. Leistungen des Wohlfahrtsstaates sollen nur für ‚Deutsche’ gelten; Betriebsräte sollen als ‚deutsche Patrioten’ … für ihre Belegschaften wirken.“ (109) – Wie jüngste Untersuchungen zeigen, kommt diese Propaganda durchaus an.[11] Deppe verweist auf Schnittmengen zwischen rechter und linker Parlamentarismuskritik, Verachtung des Parteiensystems und Verherrlichung des spontanen Aktionismus.
Deppe zufolge gibt es „Denker in der globalen Linken, die ‘68 als epochalen Wendepunkt betrachten“, als das Jahr der Geburt einer neuen „Idee des Kommunismus“: Toni Negri, Alain Badiou, auch Slavoj Žižek. Das „Glück, Kommunist zu sein“ (Hardt/Negri)besteht für Badiou und Žižek darin, „eine neue Welt zu schaffen, in der es keine kapitalistische Ausbeutung und Unterwerfung unter den Staat geben wird“. Ein riesiges, weltweites Wanderproletariat „bildet die virtuelle Avantgarde der gigantischen Masse..., deren Leben in der Welt, wie sie heute ist, nichts zählt“. Dazu gehören auch „Intellektuelle, die für das neue Denken bereit sind und bereit sind, das Interesse am Staat …, so wie er ist, zu reduzieren.“ (Badiou, zit n. Deppe, 115) Es gilt demnach, das ‚Empire’ zu bekämpfen, das sich als eine globale ‚Kontrollgesellschaft’ realisiert, getragen von ‚Netzwerken der Produktion’, ein ‚Netz der Inklusion, um ... möglichst alle Machtbeziehungen innerhalb der neuen Weltordnung einzufassen’.“ (Hardt/Negri, zit. n. Deppe 116) Die Multitude muss demnach zu sich selbst kommen – und das parasitäre Empire stürzen. Linke (Klassen-)Politik im Nationalstaat gilt damit als obsolet, reformistisch, nationalistisch oder rassistisch. Aber, wendet Deppe ein, es existiert „kein globales – auch kein europäisches – Wohlfahrtsregime“ (120) Und „die Forderung nach der Öffnung der Grenzen … ist angesichts der Flüchtlingskrisen, des Aufschwungs rechtspopulistischer und nationalistischer Bewegungen von rechts … geradezu ‚obszön, sofern sie daran glaubt, dass die Flüchtlinge in Europa die radikale Linke wiederbeleben könnten.’“ (Žižek, zit. n. Deppe 121)
Dieser „Verzicht auf Klassenanalyse und – davon abgeleitet – auf Klassenpolitik (121) hat fatale Folgen. „Die Fragen nach den konkreten Kräfteverhältnissen der Klassen, der Rolle des Staates sowie nach den Perspektiven progressiver Antworten auf soziale Krisen, ökologische Herausforderungen, auf Kriege und die vielen neuen ‚autoritären Regime’ in der Welt bleiben unbeantwortet“. (122)
Negris „zentrale These, dass mit ‘68 eine Epoche des Widerstands eröffnet wurde, die bis heute anhält und sich auf den Kommunismus zubewegt, mutet angesichts des Zyklus der neoliberalen Hegemonie, aber auch des Scheiterns (bzw. der Integration) nicht nur der Arbeiterbewegung, sondern auch der ‚neuen sozialen Bewegungen’ als geradezu abenteuerlich an.“ (124) Dass Negri sich zunächst auf die globalisierungskritischen Bewegungen und den „arabischen Frühling“ berufen konnte, verlieh ihm, so Deppe, eine gewisse Plausibilität. Mit deren Scheitern ist er ad absurdum geführt. Ebenso wie ‘68 gilt auch hier: Intellektuelle Kritik an der herrschenden Ordnung hat nur dann eine Realisationschance, „wenn sie sich mit den Interessen und Aktionen von proletarischen und subproletarischen Massen verbindet...“ (125). Schließlich bleibt als „uneingelöstes Erbe“ von ‘68 die „Verbindung von ‚Künstler’- und ‚Sozialkritik’“ (127). Nur wenn es gelingt, die rebellierenden Intellektuellen und die Lohnabhängigen miteinander zu verbinden, haben die Ideen der Intellektuellen eine Realisierungschance. ‘68 ist dies zumindest zeitweise gelungen. Die Gegenrevolution war – so Deppe – nicht die Antwort auf die Künstlerkritik, sondern auf die Zuspitzung der ökonomischen Krise, die zunehmende Macht des ‚sozialistischen Lagers’ und der antiimperialistischen Befreiungsbewegungen. Die Krise und politische und ökonomische Gewalt[12] zwangen die Rebellierenden in die Knie. Die steigende Staatsverschuldung führte zur Aufgabe sozialdemokratischer Reformprojekte. Antigewerkschaftliche und antisoziale Kampagnen der Neoliberalen fielen auf fruchtbaren Boden. Die Sozialdemokratie passte sich an, expropriierte und verstörte ihre Wähler_innen nachhaltig und verlor inzwischen in nahezu allen europäischen Ländern massiv an Bedeutung. Das Scheitern des PCI, dem es nicht gelang, die nach ‘68 an ihn herangetragenen Forderungen „der Jungen“ mit den Interessen der sich strukturell verändernden Arbeiterklasse zu vereinen, zeigt, dass er die „strategische Herausforderung ‚Künstlerkritik’ und ‚Sozialkritik’ in einer Perspektive der Transformation kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse zu bündeln, nicht bewältigt“ hat (132). Überall aber, wo daran – theoretisch und praktisch – heute gearbeitet wird, wirkt das Erbe von ‘68 weiter.
Wenn aber etwas bleibt von der Literaturflut über ‘68, dann sicher diese komprimierte, zugleich differenzierte und gut belegte Darstellung.[13] „Das progressive Erbe von ‚68 wirkt dort weiter, wo in den vergangenen 50 Jahren immer wieder im Widerstand gegen die barbarischen Tendenzen in der kapitalistischen Weltordnung, gegen den ‚autoritären Kapitalismus‘ und die neoliberale Politik … theoretisch und praktisch gearbeitet wird.“ (132) Anzumerken bleibt, dass viele Forderungen der „Künstlerkritik“ bis heute uneingelöst sind und dass die ‚neuen sozialen Bewegungen’ ein unverzichtbarer Akteur in der globalen Linken bleiben.
[1] Frank Deppe, ‘68: Zeiten des Übergangs. Das Ende des „Golden Age“, Revolten & Reformbewegungen, Klassenkämpfe & Eurokommunismus, VSA Verlag, Hamburg 2018, 144 S, 12,80 Euro.
[2] Laut Handelsblatt, am 05.05.2018 in Trier. Nicht ganz drei Monate später hat sie die Historische Kommission der SPD aufgelöst.
[3] junge Welt 10.08.2018.
[4] Dies belegt ein Bericht über Polizeieinsätze an hessischen, baden-württembergischen und Ber-liner Hochschulen im neuen deutschland vom 18. Juli 2018.
[5] Man würde gern mehr erfahren über die konkreten Gründe für die intensive Beschäftigung des Autors mit Louis-Auguste Blanqui, vgl. S. 25/26, Anm. 5, oder über den „stilistischen Übergang zum sogenannten Free Jazz“, vgl. S. 39, Anm. 14.
[6] Ermordet am 4. April ‘68 in Memphis/Tennessee.
[7] Ermordet am 9. Oktober 1967 in La Higuera/Bolivien.
[8] Schon 1959 hatte der Berliner SDSler Reinhard Strecker mit der Wanderausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ und einer Strafanzeige gegen Nazirichter (1960) die BRD erschüttert. „Wie muffig das Klima war, zeigen die unmittelbaren Reaktionen, die der Wanderausstellung folgten. Vor dem Hintergrund der binären Ost-West-Matrix wurden Streckers Enthüllungen als kommunistische Propaganda gescholten. Verschiedene Universitäten verboten die Präsentation des Materials in ihren Räumen. Die SPD distanzierte sich von der Aktion des SDS. Strecker und seine Kollegen wurden gar aus der Partei geworfen.“ (Der Tagesspiegel, 14.05.2015) 1963 hatte der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit dem Auschwitzprozess die Republik aufgefordert, „Gerichtstag (zu) halten über uns selbst“. Er hatte den Prozess gegen große Widerstände in der Justiz durchsetzen müssen. Sein Eindruck: „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich Feindesland.“
[9] In der BRD waren es 1975 zum ersten Mal mehr als eine Million Arbeitslose, in der zyklischen Krise 1981 zwei Millionen, 2004/5 fünf Millionen (83).
[10] Gerhard Seyfried, Wo soll das alles enden. Kleiner Leitfaden durch die Geschichte der undogmatischen Linken, Berlin 1978
[11] Vgl. Interview mit Klaus Dörre im Deutschlandfunk vom 12. 05. 2018; https://www. deutschlandfunkkultur.de/soziologe-klaus-doerre-ueber-die-zukunft-der-gewerkschaften.990.de.html?dram: article_id=417757
[12] Wie etwa bei der Niederschlagung des vom März 84 bis zum März 85 durchgehaltenen Miners Strike durch die Regierung Margret Thatchers.
[13] Zu ergänzen sind Hinweise auf einige persönliche Erinnerungen. Deppe sprach beispielsweise bei einer Veranstaltung des DGB in Michelstadt über seine Auseinandersetzung mit seinem Nazi-Vater (https://www.echo-online.de/lokales/odenwaldkreis/michelstadt/ein-weggefahrte-stellt-fest-die-68er-bewegung-war-gut-und-notig_19057046). Lesenswert sind der jüngst von Jan Rhein sorgfältig ins Deutsche übersetzte, autobiographische Roman „Paris, Mai ‘68“ (Berlin 2018) von Anne Wiazemsky; Heinrich Bölls Interviews, Berichte und Tagebuchaufzeichnungen, von René Böll ediert unter dem Titel: „Der Panzer zielte auf Kafka“ (Köln 2018); ein hinreißend formulierter Essay von Karl Heinz Götze über seine Studienzeit in Marburg („Ein weites, dunkles Feld. Zauber. Wie ich zum ersten Mal Wolfgang Abendroth begegnet bin“; https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-weites-dunkles-feld); schließlich weitere Zeitzeug_innenberichte aus diesem „exzentrischen Zentrum der Studentenbewegung“ (Götze), in dem auch Deppe sich damals bewegt hat, aufgezeichnet im Rahmen der im Marburger Rathaus bis Mitte Mai 2018 präsentierten Ausstellung „Klasse Kampf. ‘68 erinnern“ (als Videos im Internet abrufbar unter: https://www.marburg.de/portal/seiten/klasse-kampf-’68-erinnern-900001769-23001).html.)