Hamburg am Morgen des 23. Oktobers 1923. Um 2.00 Uhr begannen kommunistische Stoßtrupps mit der Blockierung wichtiger Hauptverkehrsstraßen; um 5.00 Uhr griffen sie 26 Polizeiwachen an, von denen sie bis 7.00 Uhr etwa die Hälfte einnehmen konnten. Der Hamburger Aufstand hatte begonnen. Die bewaffneten Aktionen der Hamburger Kämpfer blieben jedoch insgesamt auf voneinander unabhängige Operationen in den nördlichen und östlichen Stadtteilen Barmbek, Eimsbüttel und Schiffbek beschränkt. Obwohl ein am 20. Oktober begonnener Werftarbeiterstreik bereits auf viele Betriebe übergegriffen hatte und es zudem Arbeitslosendemonstrationen gab, sollte es zu keinem Zeitpunkt gelingen, die Hamburger Arbeiterschaft in die Kämpfe einzubeziehen. Zwar sympathisierten viele Arbeiter und Kleinbürger mit den Kämpfenden, doch standen sie – wie es der damalige Vorsitzende der KPD, Heinrich Brandler, formulierte – „mit den Händen in den Taschen untätig dabei“ oder gingen unbeteiligt an den Kämpfenden vorbei ihrer gewohnten Tätigkeit nach.[2] Der KPD gelang es nicht einmal, ihre eigenen Mitglieder für den Aufstand zu mobilisieren. Von den ca. 18.000 Hamburger Kommunisten nahmen nur etwa 150 aktiv an den zwei Tage währenden Barrikadenkämpfen teil. Diese verfügten über 35 Gewehre und einige Revolver und wurden von ca. 1.000 „Helfern“ unterstützt, die sich am Barrikadenbau beteiligten oder Lebensmittel und Munition herbeischafften. In den erstürmten Polizeirevieren konnten sie etwa 250 weitere Gewehre erbeutet. Der Militärischen Leiter (M-Leiter) der KPD, der lettische Revolutionär und sowjetische Divisionskommandeur Woldemar Rose (in der Literatur auch Piotr Aleksander Skoblewski, Hellmut Wolf, Gorew oder Gorewski), eilte unmittelbar nach Bekanntwerden der Kämpfe nach Hamburg, um den Kämpfenden mitzuteilen, dass sie einen isolierten Kampf führten. Auf seine persönliche Intervention hin wurde dieser in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober gegen 1.00 Uhr abgebrochen. Bereits einen Tag später charakterisierte er den Aufstandsversuch wegen der ausgebliebenen Massenbeteiligung als einen „Putsch“.[3] Während der Kämpfe starben 102 Menschen – 17 Polizisten, 24 Aufständische und 61 Unbeteiligte.[4]
Bis heute gilt der Hamburger Aufstand als das Ereignis des gescheiterten „deutschen Oktobers“ 1923, insbesondere, dass er das Startsignal für die deutsche Revolution habe sein sollen. Ihm gegenüber wird die Tatsache, dass zur gleichen Zeit in Sachsen und Thüringen im Ergebnis einer konsequent ausgeführten Einheitsfrontpolitik kurzzeitig zwei aus linken Sozialdemokraten und Kommunisten gebildete Landesregierungen existierten, eher als Nebenschauplatz abgetan. Dass das so ist, ist das Resultat einer schnell, nämlich bereits Ende 1923 beginnenden Legendenbildung, die eine wichtige Grundlage für die hier beginnende Stalinisierung der KPD bildete: Personifiziert in Brandler, dem vorgeworfen wurde, die Revolution im Oktober 1923 aus Feigheit oder Opportunismus verhindert zu haben, wurden die Gefahren der „Rechtsabweichler“ stigmatisiert. Für Ernst Thälmann, der zumindest einen Großteil der politischen Verantwortung für die Vorgänge in Hamburg trug, bildete sie ein wichtiges Fundament für seinen Aufstieg zum Vorsitzenden der KPD. Indem es gelang, auf ihn die unkritische Bewunderung für die Hamburger Aufständischen zu fokussieren, dem es – trotz des „Verrats der damaligen KPD-Führung“ – gelungen war, einen geordneten Rückzug aus aussichtsloser Situation zu organisieren, wurde er zum Helden glorifiziert und schließlich zum „Führer seiner Klasse“ erhoben.[5] Diesen Paradigmenwechsel hatte Thälmann selbst eingeleitet, als er 1925 – kurz nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der KPD – in der Roten Fahne den Hamburger Aufstand zum bedeutendsten Ereignis des „deutschen Oktobers“ 1923 uminterpretierte, indem er schrieb: „Die Sachsenpolitik endete mit dem kampflosen Rückzug. Die Reichsexekutive, der Einmarsch der weißen Generäle, besiegelte die Niederlage. Ist damit die Geschichte des Oktobers 1923 erschöpft? Nein und abermals nein! Man beging noch später mehrfach den Fehler, in Resolutionen und Artikeln, ja sogar in Reden vor dem bürgerlichen Gericht nur auf Sachsen hinzuweisen, wenn man vom Oktober 1923 sprach. Aber es gab nicht nur Sachsen, sondern es gab auch Hamburg!“[6] Bis dahin hatten die Führer der KPD und der Kommunistischen Internationale (KI) versucht zu klären, ob die in Mitteldeutschland angewendete Einheitsfrontpolitik eine grundsätzlich anzuwendende Strategie der Kommunisten war und wenn ja, welche Fehler bei ihrer Umsetzung begangen worden seien. Für Thälmann hingegen war nunmehr die Einheitsfront der „Sachsenpolitik“ nur noch Symbol der Niederlage ohne weiterzuverfolgende Ansätze. Der Hamburger Aufstand hingegen symbolisierte für ihn die allein Erfolg versprechende Taktik der Machteroberung durch die Kommunisten.
In diesem Beitrag soll kurz umrissen werden, was im Zusammenhang mit dem „deutschen Oktober“ 1923 wirklich geschah und worin dessen Bedeutung besteht. Deshalb sollen folgende Fragen beantwortet werden: Gab es 1923 konkrete Planungen für einen bewaffneten kommunistischen Aufstand als Auslöser einer proletarischen Revolution in Deutschland? Und wenn ja, von wem wurden diese Planungen durchgeführt, wie sahen diese aus und hatte ein solcher Aufstand reale Erfolgschancen?[7]
Organisatorische Vorbereitung auf einen Bürgerkrieg
Bereits ab Herbst 1922 hatte die KPD auf Brandlers Initiative hin und unter seiner Leitung begonnen, sich organisatorisch auf einen Bürgerkrieg vorzubereiten: Sie organisierte Kampfkader, schuf Schulen zur Heranbildung militärisch befähigter Parteimitglieder zu „Roten Offizieren“, bildete Partisanengruppen und organisierte einen Nachrichtendienst, „der über Parteiklatsch hinausging, der Gegenspionage, Spitzelentlarvung usw. zur Aufgabe hatte“. Im Februar 1923 bildete die Zentrale der KPD schließlich eine Bürgerkriegskommission aus kampferfahrenen Kommunisten.[8] Der Aufbau des militärischen Apparates und dessen Leitung wurde Karl Retzlaw (Karl Gröhl, Friedberg) übertragen. Die KPD begann mit der vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) verordneten Umstrukturierung nach dem „Fünfer-Gruppen-Prinzip“. Auf diese Weise sollten die Führungskader für die zu bildenden Proletarischen Abwehrorganisationen (PAO) herangebildet werden. In den Presseorganen und auf Versammlungen begann die Propagierung und Diskussion militärtechnischer Fragen.[9] Der illegale Apparat der KPD bestand 1923 grundsätzlich aus drei Abteilungen: dem M-(Militär-)Apparat zur Ausbildung militärischer Kader für die revolutionären Kämpfe, dem N-(Nachrichten-)Apparat zur Sammlung von Informationen über die gegnerischen Organisationen wie Reichswehr, Polizei, Parteien und Wehrverbände, sowie dem Z-(Zersetzungs-)Apparat zur „zersetzenden“ propagandistischen Arbeit in diesen Organisationen. Am 27. Februar 1923 beschloss das Polbüro der KPD den Aufbau eines Ordnerdienstes (OD), der zunächst mit defensiven Aufgaben wie dem Schutz von Veranstaltungen betraut war. Aus diesem wurden ab April 1923 die Proletarischen Abwehrorganisationen gebildet, die zumeist Proletarische Hundertschaften genannt wurden, aus denen dann im Sommer 1924 der Rote Frontkämpferbund hervorgehen sollte.
Ab dem Frühsommer 1923 antizipierten die Funktionäre der KI, der Russischen KP(B) und der KPD einen möglichen Umschlag der latent revolutionären Situation in eine akut revolutionäre. Unter starker Einflussnahme des EKKI und der Führer der RKP(B) forcierte die KPD-Führung deshalb ihre konkreten Aufstandsplanungen, wobei sie sich am einzigen Vorbild orientierte, das sie besaß – dem russischen Oktoberaufstand von 1917. Ebenso wie die russischen Bolschewiki um Wladimir I. Lenin und Lew D. Trotzki sahen auch die deutschen Kommunisten in der russischen Oktoberrevolution von 1917 lediglich den Auftakt zur proletarischen Weltrevolution. Die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in Russland allein, dem „schwächsten Kettenglied“ der kapitalistischen Welt, in dem es zwar leichter war, die Revolution zu beginnen, aber umso schwieriger, sie fortzuführen, hielten Lenin und Genossen für unmöglich. Sie setzten all ihre Hoffnung auf eine Ausweitung der Revolution in Europa, wobei sich ihre Erwartungen vor allem auf das hoch industrialisierte Deutschland mit seiner traditionsreichen, starken Arbeiterbewegung richteten. Doch entgegen aller Hoffnungen waren jegliche Revolutionsversuche in Folge des Ersten Weltkriegs gescheitert.
Die soziale Krise 1923 und der „Cuno-Streik“
1923 befand sich Deutschland im fünften Nachkriegsjahr. Noch lange war es nicht zur Ruhe gekommen, weder wirtschaftlich noch politisch. Der auf die Belange des Krieges eingestellten Wirtschaft war es noch immer nicht gelungen, sich auf die Bedürfnisse einer im Frieden lebenden Gesellschaft einzustellen. Hinzu kam, dass sich die bereits während des Krieges aufgrund der „Kriegsanleihen“ – also der Finanzierung des Krieges über Darlehen – entstandene Inflation, die bereits während des Krieges zu einer Verdoppelung der Preise geführt hatte, auch in der Nachkriegszeit fortsetzte. Zudem drückten die durch die strengen Auflagen des Versailler Vertrages dem Binnenmarkt entzogenen Waren und Finanzen auf die wirtschaftliche Situation und auf die soziale Lage aller Bevölkerungsschichten. In Bezug auf die Reparationszahlungen hatte Deutschland eine so genannte „Blankoverpflichtung“ unterschrieben, deren Höhe späteren Berechnungen vorbehalten bleiben sollte und erst 1930 durch den Young-Plan auf 113,9 Mrd. Reichsmark, zahlbar in 59 Jahresraten (also bis 1988), festgelegt wurde. Schwer und nachhaltig wirkte auf die Psyche breiter Bevölkerungsschichten, dass Deutschland mit dem Versailler Vertrag seine politische, militärische und wirtschaftliche Machtposition in Europa verloren hatte. Seine Kolonien nicht eingerechnet hatte Deutschland 13,5 Prozent seines Reichsgebiets (73.000 qkm) mit 10 Prozent seiner Bevölkerung (6,5 Millionen) verloren. Hinzu kam der Verlust von 75 Prozent seiner Eisenerz- und Zinkförderung, 26 Prozent seiner Roheisenproduktion und 20 Prozent seiner Steinkohleförderung. Psychologisch ebenfalls bedeutend war die Begrenzung der Reichswehr auf 100.000 Mann. Unter diesen Umständen wirkte sich die am 11. Januar 1923 begonnene französisch-belgische Ruhrbesetzung – begründet mit Verzögerungen in den Reparationszahlungen – in Deutschland beschleunigend auf die Entwicklung einer tiefen sozioökonomischen Krise mit Hyperinflation, Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten und Bankrott der Staatsfinanzen aus.
Die Mehrzahl der Arbeiter hungerte, da die Löhne immer tiefer sanken. Unter den Bergarbeitern hatten sich bereits 1922 die Löhne gegenüber 1914 halbiert. In Berlin betrug die Arbeitslosenunterstützung 1923 25 Prozent des Existenzminimums. Im Spätsommer/Herbst 1923 erreichte die Inflation ihren absoluten Höhepunkt, die Geldentwertung nahm eine solch rasante Geschwindigkeit an, dass die Lohnauszahlungen schließlich stündlich erfolgten – sich aber auch die Preise stündlich verdoppelten.[10] Der Mittelstand wurde faktisch enteignet. Die Gewerkschaften büßten ihre Streikkassen ein und wurden damit praktisch handlungsunfähig. Der Staat hatte gigantische Steuerverluste, da die Begleichung der vorjährigen Steuern mit dem aktuellen und damit entwerteten Geld erfolgte. Hinzu kam, dass sich die Kosten des „passiven Widerstandes“ gegen die Ruhrbesetzung, der von der Regierung Cuno ausgerufen wurde, als ein „Fass ohne Boden“ erwies und den Staatsbankrott beschleunigte, dem die Regierung mit ständig neuem Papiergeld entgegenzuwirken suchte. Wert behielten lediglich die Sachwerte, insbesondere Immobilien und Aktien. Grundeigentümer wurden im Zuge der Inflation faktisch vollständig entschuldet und Teile der Großindustrie konnten mit Hilfe günstiger Kredite, die dann für einen Bruchteil zurückgezahlt werden konnten, kleinere Konkurrenten leicht schlucken, was zu einer starken Kapitalkonzentration führte.
Weder Politik noch Wirtschaft erwiesen sich bis zum Herbst 1923 als fähig, die gravierenden gesellschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen. So kam es sowohl zu einem Erstarken nationalistischer Bewegungen bis hin zu Separationsbestrebungen in Bayern und im Rheinland als auch zu vereinzelten, zum Teil umfangreichen Streikaktionen der Arbeiterschaft, in denen es den Kommunisten im Frühjahr 1923 erstmals vereinzelt gelang, die politische Führung zu übernehmen. Das alles versetzte die Kommunisten in erhebliche Erregung und erhöhte ihren Optimismus, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bald grundsätzlich ändern zu können. Deshalb hofften sie, die sozialdemokratischen Arbeiter – wenn es sein musste, auch gegen den Widerstand ihrer Führer – auf ihre Seite ziehen zu können und so die für die Revolution notwendige Mehrheit der Arbeiterschaft zu sammeln.
Bedeutendste Streikaktion im Sommer 1923 war der durch den Arbeitskampf im Berliner Druckgewerbe ausgelöste „Cuno-Streik“, der insbesondere mit der Einbeziehung der Reichsdruckerei eine erhebliche Wirkung entfaltete: Da die Notenpresse des Reiches stillgelegt wurde, machte sich schon bald ein Mangel an Papiergeld bemerkbar. Als sich auch die Arbeiter der Elektrizitätswerke, die Bauarbeiter und die Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe an den Streikaktionen beteiligten, war das öffentliche Leben in Berlin weitgehend lahm gelegt. Am 11. August 1923 rief eine von den Kommunisten dominierte Vollversammlung der revolutionären Betriebsräte von Großberlin zum Generalstreik bis zum Sturz der Regierung Cuno auf. Aufgrund des Verbots der Roten Fahne konnte der Beschluss allerdings nur verspätet auf andere Städte und Regionen übergreifen und erreichte Hamburg, die Lausitz, die Provinz Sachsen sowie die Freistaaten Sachsen und Thüringen – wo die seit drei Wochen andauernden Lohnkämpfe bereits im Abflauen begriffen waren – erst, als die Hauptforderung mit dem Rücktritt der Regierung Cuno am 12. August bereits erfüllt war. Die Streikaktionen in Berlin lösten sich schnell wieder auf, so dass am 14. August die Berliner Betriebsrätevollversammlung den Streik für beendet erklärte. Dabei hatte die KPD-Führung keineswegs das Heft des Handelns in der Hand gehabt, sondern lediglich versucht, ihr Vorgehen an die sich überschlagenden Ereignisse anzupassen. Die Überraschung des Polbüros der KPD über die Entwicklung und vor allem dessen Skepsis hinsichtlich der Erfolgsaussichten, die Furcht, schon jetzt – ungenügend vorbereitet – in entscheidende Kämpfe eintreten zu müssen, hatte Brandler am Tag vor Beginn des Generalstreiks in einem Schreiben an Karl Radek so ausgedrückt: „Bremsen können wir nicht. Ich bin dafür, dass wir heute noch nicht forcieren, sondern warten, ob wirklich eine elementare Streikbewegung zustande kommt. Wir geben die Losung eines befristeten Generalstreiks für 60 Pfennig Goldmark Stundenlohn, Arbeiterregierung, Sachwerterfassung, bewaffnete Hundertschaften heraus. Bringen wir damit die Massen in Bewegung, dann gibt es kein Halt und kein Bremsen mehr, dann müssen wir mit beiden Beinen reinspringen und aus der Bewegung herausholen, was herauszuholen ist. (...) Ich habe keine übertriebene Hoffnung, dass wir mit einem Sieg aus der Bewegung herauskommen. Ich glaube, wenn wir alle Kräfte anspannen, dass wir eine ganz große Niederlage vermeiden können. Ausweichen können wir nicht. Wir haben alle illegalen Vorbereitungen getroffen.”[11] Nach der Beendigung des Cuno-Streiks kam Brandler zu der durchaus treffenden Einschätzung: „Die Bewegung war lediglich eine kraftlose, spontane Rebellion, ausgelöst durch die allgemeine Teuerung, verschärft durch die Zahlungsmittelknappheit. Wir müssen offiziell sagen, dass der Sturz Cunos eine Folge dieser Berliner Bewegung war, obwohl es nicht stimmt. Dass die Berliner Arbeiter nicht zu halten waren, wie Gerhart [Eisler] erklärt, ist nicht ein Zeichen der Kraft, sondern der Schwäche.” Aus Brandlers Worten spricht sein Unbehagen gegenüber der Gefahr, die zu früh kommende Bewegung könnte alle kommunistischen Hoffnungen auf die proletarische Revolution in Deutschland vorzeitig begraben. Deshalb auch seine Erleichterung, dass die KPD noch „relativ unbeschadet aus der ganzen Situation herausgekommen” sei; hätte es doch auch geschehen können, dass sie beispielsweise durch Verbot maßgeblich in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt oder gar zerschlagen worden wäre.[12]
Aufstandsvorbereitung
Erst nach dem Cuno-Streik begann die KPD-Führung mit konkreten Planungen für den bewaffneten Aufstand. Zu dessen Vorbereitung veranschlagte sie eine Zeit von mindestens sechs Monaten. Sie wollte also bis frühestens im Februar 1924 für einen Aufstand bereit sein. Die deutschen Kommunisten sahen auch keine Notwendigkeit, von sich aus die Aufstandsvorbereitungen zu forcieren, hielten sie es doch für unmöglich, dass die sozioökonomischen Probleme Deutschlands – die sie in Luxemburgscher Tradition als „Endkrise“ des Kapitalismus interpretierten – anders als revolutionär zu lösen seien. Einziger Grund für eine Beschleunigung der Vorbereitungen wäre eine weitere katastrophale Verschlechterung der sozialen Lage der deutschen Arbeiterschaft oder ein Losschlagen konterrevolutionär-faschistischer Verbände gewesen. Beide Möglichkeiten wären den kommunistischen Aufstandsvorbereitungen letztlich entgegengekommen, hätte doch sowohl eine Verschlechterung der Lage als auch ein faschistischer Putschversuch sehr wahrscheinlich die Massenbasis der Kommunisten verbreitert und möglicherweise zu spontanen Aktionen der notleidenden Bevölkerung geführt, die dann zu unterstützen und gegebenenfalls zu kanalisieren bzw. zu steuern gewesen wären.
Zur Straffung der Aufstandsvorbereitungen beschloss das Polbüro der KPD am 28. August 1923 die Schaffung eines „mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten“ zentralen Revolutionskomitees (REVKOM). Damit nahm es den Ausbau des bisher nur eher formal existierenden illegalen Apparats in Angriff. An der Spitze des REVKOM stand der Revolutionäre Kriegsrat, dem Heinrich Brandler und August Kleine-Guralski – die die politische Führung des illegalen Apparats durch das Polbüro garantierten – sowie der bereits genannte M-Leiter bei der Zentrale der KPD, Rose-Skoblewski, angehörten. Neben dem Revolutionären Kriegsrat gehörten dem REVKOM noch folgende Mitglieder der Zentrale der KPD an: Iwan Katz, Fritz Heckert, der Anfang Oktober durch Erich Melcher ersetzt wurde, Felix Wolff, Wilhelm Pieck, Hugo Eberlein und Walter Ulbricht.
Aufgewühlt durch die Berichte aus Deutschland beschloss das Politbüro der RKP(B) parallel dazu die Bereitstellung erheblicher finanzieller und militärischer Mittel für die Durchführung der Revolution in Deutschland und benannte zur Ausarbeitung der damit im Zusammenhang stehenden Fragen eine aus den namhaftesten sowjetrussischen Partei- und Staatsführern bestehende Kommission.[13] Auf einer gemeinsamen Beratung mit Vertretern der Zentrale der KPD in Moskau legte das EKKI auf Vorschlag Trotzkis schließlich Anfang Oktober fest, alle Aufstandsplanungen „zur Orientierung“ auf den 9. November 1923 auszurichten – den symbolträchtigen fünften Jahrestag der Ausrufung der ersten deutschen Republik.[14] Damit wurde der Aufstandstermin gegenüber den Planungen der KPD-Führung nach vorn verlegt, womit Anfang Oktober von den ursprünglich vorgesehenen drei bis vier Monaten Vorbereitungszeit noch ganze vier bis fünf Wochen übrig blieben. Dabei ist jedoch zu betonen, dass alle konkreten Maßnahmen zur Vorbereitung des Aufstands in Deutschland von den deutschen Kommunisten selbst getroffen wurden. Deren Einheitsfrontpolitik ermöglichte überhaupt erst ein ernsthaftes Nachdenken über Revolutionsvorbereitungen, die nicht in einem bloßen Putschversuch stecken bleiben sollten. Dass sich die KPD-Führung in den konkreten militärischen Planungen am politischen Urteil und an den Erfahrungen der russischen Parteiführer orientierte und die Unterstützung durch russische Militärexperten gern in Anspruch nahm, ja, einforderte, liegt auf der Hand. Die im August und September von russischer Seite erfolgten Interventionen waren lediglich der Angst geschuldet, die deutschen Kommunisten könnten mit ihrem Beharren auf ihrer langfristigeren Planung eine günstige Situation verpassen. Dementsprechend schlugen sie in Verkennung der Situation, die auch die deutschen Parteiführer als günstig für einen Aufstand deuteten, letztlich nicht realisierbare Sofortmaßnahmen vor.
Die konkreten Aufstandsvorbereitungen wurden nunmehr forciert. Aber noch Ende Oktober 1923 stellte Rose-Skoblewski – noch ohne das Wissen, dass mit den bereits beendeten Hamburger Kämpfen auch der revolutionäre Aufstand bereits beendet war, ohne eigentlich begonnen zu haben – in einem Bericht an die Zentrale der KPD fest: Alle vom Revolutionären Kriegsrat gestellten Aufgaben seien erfüllt, „außer dem wichtigsten – der Bewaffnung“. „Es fehlen noch Waffen für den Anfangskampf“. Mit 11.075 Gewehren, 141 MG, 130 MP, 1.811 Revolvern und 1.131 Handgranaten verfügte die KPD am 21. Oktober 1923 nicht annähernd über den geplanten Bestand an Waffen, der aus eigener militärischer Sicht drei Viertel des Erfolges gesichert haben würde.[15]
Die Situation in Deutschland hatte sich da jedoch bereits in einer von den Kommunisten nicht für möglich gehaltenen Weise verändert. Am 26. September hatte der neue Reichskanzler Gustav Stresemann (Deutsche Volkspartei) den „passiven Widerstand“ gegen die französisch-belgische Ruhrbesetzung beendet und Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) unter Berufung auf Artikel 48 der Verfassung den Ausnahmezustand im Reich verkündet. Am 13. Oktober sanktionierte die Stresemann-Regierung die daran geknüpften Maßnahmen befristet bis zum 31. März 1924, womit die Exekutivgewalt an Reichswehrminister Otto Geßler (Deutsche Demokratische Partei) überging. Schließlich wurden sämtliche kommunistische Terminplanungen über den Haufen geworfen, als im Morgengrauen des 20. Oktober 1923 die Reichswehr begann, mit mehr als 60.000 Soldaten Sachsen zu besetzen. Wenn auch nicht für die politischen Kreise der Weimarer Republik[16], so doch für die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung kam diese größte Aktion des deutschen Heeres nach Ende des Krieges völlig überraschend. War bereits die von Dr. Erich Zeigner im Frühjahr 1923 aus linken Sozialdemokraten gebildete und von den Kommunisten tolerierte Minderheitsregierung in Sachsen der Reichsregierung und insbesondere der Reichswehrführung ein Dorn im Auge, so hatte Zeigner das Fass zum überlaufen gebracht, als er am 12. Oktober nach langwierigen Verhandlungen mit der KPD drei führende Kommunisten in sein Landeskabinett berief.[17] Gleiches tat vier Tage später August Frölich, sozialdemokratischer Ministerpräsident in Thüringen.[18]
Wie sahen nun die kommunistischen Aufstandsplanungen aus? Die Kommunisten wollten ihre Regierungsbeteiligungen in Sachsen und Thüringen dazu nutzen, die bereits zuvor geschaffenen Einheitsfrontorgane (Betriebsräte, Kontrollausschüsse, Proletarische Hundertschaften und Aktionsausschüsse) zu außerparlamentarischen Machtfaktoren auszubauen. Die sozialdemokratisch-kommunistischen Koalitionsregierungen sollten auf diesem Wege zu wirklichen Arbeiterregierungen weiterentwickelt werden, die sich nicht mehr nur auf eine parlamentarische Mehrheit, sondern auch auf eine außerparlamentarische Massenbewegung stützten. Insbesondere sollten die paramilitärischen Kampfverbände – die Proletarischen Hundertschaften – aus den Beständen der Landespolizei bewaffnet und mit Hilfspolizeifunktionen ausgestattet werden. Die Ausrufung eines Generalstreiks in Sachsen und Thüringen sollte die Massen weiter mobilisieren und, über reichsweit durchgeführte regionale und Landeskongresse vorbereitet, sollte schließlich ein Reichsbetriebsrätekongress den bewaffneten Aufstand proklamieren. Der bewaffnete Kampf sollte dann von Sachsen und Thüringen aus auf alle anderen Teile Deutschlands, insbesondere auf die wirtschaftlichen und politischen Zentren, übergreifen und schließlich in Berlin entschieden werden. Den Nordbezirken kam dabei die Aufgabe zu, Kämpfe mit dem Ziel zu beginnen, Teile der Reichswehr zu binden. Hamburg spielte in dieser Gesamtplanung also lediglich eine Nebenrolle: Ein dort durchgeführter Aufstand war maximal vorgesehen als Ablenkungsmanöver, keinesfalls sollte er das Signal für den allgemeinen Aufstand sein.
Die Ereignisse im Oktober 1923
Die gegnerischen Kräfte handelten jedoch schneller und die Reichswehrführung übernahm nur zu gerne die Aufgabe, für die Reichsregierung die Reichsexekution gegen die widerspenstigen Landesregierungen durchzuführen. Bereits am Tag des Regierungseintritts der Kommunisten in Sachsen verbot der Befehlshaber der Reichswehrtruppen in Sachsen, Generalleutnant Alfred Müller, die Proletarischen Hundertschaften und alle ähnlichen Verbände und vier Tage später teilte er der Landesregierung mit, er habe mit sofortiger Wirkung die sächsische Landespolizei direkt der Reichswehr unterstellt. Am Tage der Reichswehrbesetzung ließ er Zeigner wissen, er sei von der Reichsregierung beauftragt, in Sachsen mit den ihm „zur Verfügung stehenden und zur Verstärkung der zur Verfügung gestellten Machtmitteln verfassungsmäßige und geordnete Verhältnisse wieder herzustellen und aufrechtzuerhalten“.[19]
Am 20. Oktober beschloss die Zentrale der KPD auf einer eiligst einberufenen Sitzung, dass die nächstmögliche Gelegenheit für die Proklamation des Widerstandes gegen die Reichswehrbesetzung genutzt werden müsse. Der unter den gegebenen Umständen glücklich zu nennende Zufall wollte es, dass für den folgenden Tag in Chemnitz eine schon seit mehreren Tagen von der Landesregierung anberaumte Arbeiterkonferenz stattfinden sollte, auf der die Minister Georg Graupe (SPD), Fritz Heckert und Paul Böttcher mit den Delegierten verschiedener Arbeiterorganisationen die wirtschaftliche und soziale Situation in Sachsen beraten wollten. Die Zentrale beschloss, die Stimmung auf der Konferenz zu sondieren und im Falle eines günstigen Ergebnisses die Ausrufung eines Generalstreiks gegen die Reichswehrbesetzung zu beantragen, der dann das Signal für den Beginn des Aufstandes sein sollte. Die KPD hatte nun plötzlich nur noch knapp 24 Stunden Zeit zur Vorbereitung eines Aufstands. Doch die Chemnitzer Konferenz – deren Teilnehmer in keiner Weise auf die Ambitionen der KPD-Führung eingestellt waren – endete mit einem „Begräbnis dritter Klasse“, wie es August Thalheimer später formulierte.[20] Die anwesenden Sozialdemokraten waren nicht bereit, Brandlers Forderung eines Generalstreiks zu folgen. Und Brandler war nicht bereit, einen Alleingang ohne die Sozialdemokraten zu riskieren.
In Sachsen blieb es während der Reichswehrbesetzung weitgehend ruhig, lediglich in einzelnen Städten gab es Widerstandsaktionen, die spontan ausbrachen und vor allem durch das zum Teil brutale Vorgehen einzelner Reichswehreinheiten oder auch nur einzelner Reichswehrangehöriger provoziert wurden. Am 30. Oktober legte Zeigner, dessen Regierung jeglichen Einfluss auf das Geschehen und sämtliche exekutive Gewalt an die Reichswehr verloren hatte, schließlich auf massiven Druck von Reichskanzler Stresemann sein Amt nieder.
Doch was war nun mit Hamburg, dem einzigen Ort in Deutschland, in dem Kommunisten aktiv zur Waffe griffen? Der deutsch-amerikanische Historiker Werner T. Angress kam 1963 zu dem Schluss, dass „die genaueren Umstände, unter denen es zum Hamburger Aufstand kam, wahrscheinlich niemals völlig geklärt werden können“.[21] Alle bis heute bekannten Varianten basieren entweder auf den Erinnerungen direkt oder indirekt Beteiligter, die nur eingeschränkt oder gar nicht in übergreifende Pläne eingeweiht waren, oder auf späteren offiziellen Verlautbarungen der KPD, die in jedem Falle politisch motiviert waren. Ihnen allen ist die Auffassung gemeinsam, dass der bewaffnete Aufstand in Hamburg das Signal für den Beginn des Bürgerkrieges, der Auslöser für die Revolution in Deutschland sein sollte. Die aktiv an den Kämpfen in Hamburg Beteiligten waren sicher subjektiv davon überzeugt, dass dem Hamburger Aufstand diese wichtige Aufgabe im Rahmen eines umfassenderen Planes zukam, sonst wäre ihr opferreicher Einsatz während der Kämpfe wohl kaum erklärbar. Doch die historische Bedeutung des Hamburger Aufstands misst sich weder nach der Anzahl der Toten oder der später Angeklagten, noch nach dem, was die Beteiligten über ihre eigene Rolle zu wissen glaubten. Dass diese entsprechend vehement ihre Auffassungen auch späterhin vertraten, ist nur allzu verständlich – ändert aber nichts daran, dass sie falsch ist. Keiner der damals verantwortlich beteiligten Hauptakteure, die es wissen mussten, weder Hugo Urbahns oder Ernst Thälmann (die beiden politischen Führer der Hamburger Kommunisten), noch Albert Schreiner (militärischer Leiter des Bezirks Wasserkante) oder Hermann Remmele (Mitglied des Polbüros der KPD und von diesem als Kurier mit dem Aufstandsbefehl nach Hamburg entsandt), hat eine stichhaltige Version dazu hinterlassen, wie es in Hamburg zum Beginn eines isolierten Aufstandes kommen konnte.
Letztlich kann vom Scheitern eines vorbereiteten Aufstands im Oktober 1923 keine Rede sein. Es gab keinen Aufstand, es existierten noch nicht einmal wirklich realisierte Vorbereitungen dazu. Die KPD scheiterte – abgesehen von der Frage, ob ein bewaffneter Aufstand 1923 in Deutschland überhaupt durchführbar war – konkret auch an der Unmöglichkeit, den Aufstand willkürlich zu beschleunigen. Das resultierte jedoch nur bedingt aus der eigenen Schwäche, sondern offenbarte lediglich die Fehlinterpretation der Gesamtsituation. Der Kapitalismus war nicht in die von den Kommunisten angenommene „Endkrise“ eingetreten. 1923 waren in Deutschland zu keiner Zeit die Bedingungen für eine erfolgreiche proletarische Revolution gegeben – weder die objektiven, noch die subjektiven. Und so gab es, bei allen gegebenen Problemen, 1923 niemals eine reale Chance, die unvollendete Novemberrevolution von 1918 wieder aufzunehmen und zum Sieg zu führen. Im Sommer 1923, als die KPD möglicherweise die Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft hinter sich hatte und sie die teils machtvollen Streiks vielleicht zu entscheidenden Kämpfen hätte ausweiten können, gab es noch keinerlei konkrete Planungen und Vorbereitungen. Im Herbst, als mit den Vorbereitungen zumindest begonnen worden war, aber zugleich die „Stabilisierungspolitik“ Stresemanns zu greifen begann, war die Arbeiterschaft nicht mehr zu Kampfhandlungen bereit. Letztlich zerbrach die Aufstandsplanung der KPD daran, dass die Mehrheit der Arbeiterschaft nicht bereit war, für eine vage Hoffnung auf ein besseres Morgen das Heute – und sei es noch so unvollkommen – aufs Spiel zu setzen. [22] Die Massen mochten mit den Auffassungen und der Politik der KPD sympathisieren, und dass sie es in dieser Zeit verstärkt taten, beweisen nicht zuletzt die damaligen Wahlergebnisse und zahlreichen Arbeitskämpfe. Das reichte aber noch lange nicht aus, um deren angestammte Passivität in Aktivität zu verwandeln und sie zum Wagnis eines bewaffneten Aufstands zu motivieren. Schließlich beruhigten die Beendigung des „passiven Widerstands“ und der Hyperinflation die sozialen Unruhen, wurden doch dadurch die Hoffnungen auf eine rasche und unmittelbare Besserung der sozialen Lage für einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung genährt.
Die unter den sich mit diesem Thema beschäftigenden Historikern intensiv diskutierte Frage, ob der Aufstandsplan des „deutschen Oktobers“ eher ein russisches als ein deutsches Projekt war, ist vor dem Hintergrund des beiden Organisationen gemeinsamen Programms letztlich nur von sekundärer Bedeutung.[23] Der Autor geht davon aus, dass alle konkreten Maßnahmen zur Vorbereitung des Aufstands vor Ort von den deutschen Kommunisten selbst getroffen wurden. Der Hauptunterschied in den Auffassungen zwischen der russischen und der deutschen Parteiführung lag in Folgendem: Ohne die Gewinnung der qualitativen Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse war für die KPD-Führung um Brandler die Orientierung auf einen Aufstand undenkbar. Nicht so für die Russen, auch wenn sie das im Nachhinein anders darzustellen versuchten. Für sie – denen es im Oktober 1917 aus einer Minderheitenposition heraus gelungen war, einen erfolgreichen Aufstand durchzuführen – war die Revolution nur noch eine Frage der Organisation und der Bereitstellung der finanziellen und materiellen inklusive militärischen Mittel.[24] Wobei nicht einmal im Ansatz geklärt war, wie diese hätte so schnell wie nötig realisiert werden können. Die von der sowjetrussischen Partei- und Staatsführung beschlossenen militärischen und finanziellen Vorbereitungen hatten begonnen, enorme Ausmaße anzunehmen. Doch von den vielen von russischer Seite ins Auge gefassten Maßnahmen waren in den entscheidenden Tagen des Oktobers 1923 nur wenige wirklich realisiert: Von den von Brandler in Moskau angeforderten 25 Militärspezialisten waren Ende Oktober nur sieben in Deutschland angekommen.[25] Die als politische Berater nach Deutschland entsandten Radek und Pjatakow trafen erst in Sachsen ein, als die Sache bereits entschieden war: Brandler hatte auf der Chemnitzer Konferenz den Aufstand bereits abgesagt, und Radek und Pjatakov blieb nichts weiter übrig, als ihm nachträglich Recht zu geben. Auch die bereitgestellten Geldmittel blieben letztlich auf dem Papier stehen. Oder nehmen wir die versprochenen Lebensmittellieferungen für die sächsische Bevölkerung. Nachdem das Politbüro des ZK der RKP(b) bereits am 18. August 1923 beschlossen hatte, 1 Million Goldmark als Hilfe für die deutschen Arbeiter zur Verfügung zu stellen[26], hatte es am 13. September dem Volkskommissariat für Außenhandel „die Verpflichtung übertragen, auf schnellstem Wege zehn Millionen Pud Getreide (Weizen und Roggen) nach Deutschland zu schaffen.“[27] Doch nicht einmal die avisierten Getreidelieferungen für die sächsische Bevölkerung – unabhängig davon, ob die Getreidelieferungen von russischer Seite her als reine Spende gedacht oder zum Verkauf bestimmt waren, und ob sie überhaupt einen aktiven Beitrag für den Aufstand dargestellt hätten – klappten reibungslos und konnten letztlich erst erfolgen, als der „deutsche Oktober“ bereits beendet war, so dass das Politbüro des ZK der RKP(b) seine entsprechenden Beschlüsse am 1. November 1923 revidierte.[28] Auch für die russischen Funktionäre erwies sich die immer weiter nach vorn verlegte Terminplanung für die deutsche Revolution letztlich als zu kurz, um ihre Beschlüsse und Vorhaben in die Tat umsetzen zu können; letztendlich blieben fast alle von ihnen gefassten Beschlüsse nur auf dem Papier und nur weniges wurde in die Realität umgesetzt.
Fazit: Nicht die russischen Funktionäre in Moskau, sondern die deutschen Kommunisten waren die Hauptakteure des „deutschen Oktobers“. Aber ihnen wurde durch das schnelle und energische Eingreifen von Reichsregierung und Reichswehrführung das Heft des Handelns frühzeitig aus der Hand genommen, so dass sie gar nicht in Aktion treten konnten. Und auch der aus Russland entsandte militärische Leiter Rose-Skoblewski war nicht derjenige, der die Entscheidungen traf. Der illegale Parteiapparat war zwar eine parallel zu den legalen Parteiorganen agierende Struktur, die Verantwortung aber war klar festgelegt: Die letzte, nämlich politische Entscheidung lag beim Polbüro der KPD, nicht bei der militärischen Führung. Revolutionärer Kriegsrat und REVKOM waren ausführende Organe des Polbüros der KPD. Beleg dafür ist nicht zuletzt die Beschwerde Roses, dass er weder am Beschluss der Zentrale, den möglichen Aufstandsbeginn auf den 21. Oktober 1923 zu legen, beteiligt gewesen, noch umgehend davon informiert worden sei.[29]
Der „deutsche Oktober“ war durchaus eine historische Realität, doch gab es keine einzelnen Aktionen, die diesen Namen auch nur annähernd verdienten. Was ihn zum historischen Ereignis macht, sind seine Vorbereitung und die in ihn gesetzten Hoffnungen eines Teils der deutschen und internationalen Arbeiterschaft, insbesondere aber die Nachhaltigkeit seiner Nachbereitung, in der sich die Auffassung unter den Kommunisten manifestierte, alle Bedingungen seien im Herbst 1923 reif für die Revolution gewesen und nur die mangelnden Fähigkeiten der Parteiführung um Brandler und der Verrat der linken Sozialdemokraten hätten sie verhindert.
Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass es am 9. November 1923 doch noch zu einem Putschversuch kam – jedoch nicht durch die Kommunisten, sondern durch die extreme Rechte: Adolf Hitler und Erich Ludendorff unternahmen ihren so genannten Bürgerbräu-Putsch und Marsch auf die Feldherrenhalle in München. Der Griff der Nazis zur Macht scheiterte jedoch kläglich.
Abschließend bleibt zum „deutschen Oktober“ das Folgende festzustellen: Die KPD war 1923 noch keineswegs die monolithische und „moskauhörige“ Partei, zu der sie in den folgenden Jahren wurde. Ihre „Sache“, „das war noch keine erstarrte Revolutionsphraseologie oder die rhetorische Bemäntelung von Karrierismus, sondern eine echte Revolutionserwartung“.[30] Doch das sollte sich sukzessive in den dem „deutschen Oktober“ folgenden Auseinandersetzungen um die Gründe für dessen Scheitern und die damit einhergehenden Schuldzuweisungen schnell ändern. Und da mit dem Ausbleiben der deutschen Revolution die Hoffnungen auf einen schnellen Fortgang der Weltrevolution zerstoben, standen insbesondere auch die russischen Kommunisten vor der Frage der Neuorientierung ihrer Politik. Diese internationale Dimension der Ereignisse trat nach dem Ableben Lenins in den Kämpfen um seine Nachfolge dramatisch zu Tage. Neben anderen Faktoren verhalf vor allem das Ausbleiben der Weltrevolution Stalin dazu, sich mit Kamenews, Sinowjews und Bucharins Hilfe gegen Trotzki durchzusetzen. Sein Konzept des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande“ setzte sich gegen das der „permanenten Revolution“ Trotzkis durch. Die KI, und mit ihr die KPD, mutierte in der Folge vom Organisator der nicht stattfindenden Weltrevolution zum Werkzeug sowjetischer Außenpolitik. Und so urteilte der Trotzki- und Stalin-Biograph Isaac Deutscher: „Der Zusammenbruch des deutschen Kommunismus im Jahr 1923 war der entscheidende Wendepunkt. Jetzt kristallisierten sich die Ideen, die wir als Stalinismus verstehen müssen.“[31]
[1] Teil I erschien unter dem Titel „Die KPD 1919 bis 1924. Zwischen Offensivtheorie und Einheitsfronttaktik“ in Z 115 (September 2018), S. 77-93.
[2] Heinrich Brandler, Berlin, an Clara Zetkin u. Edwin Hoernle, Moskau, 27.10.1923, in: Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO/BArch), I 2/3/203.
[3] Der militärische Leiter bei der Z[entrale] der KPD, Berlin, 26. Oktober 1923, in: SAPMO/BArch, I 6/10/78.
[4] Die in Bezug auf den Hamburger Aufstand genannten Zahlen differieren sowohl in den zeitgenössischen Berichten als auch in den historischen Darstellungen. Die hier angegebenen Zahlen erscheinen dem Autor nach Vergleich der ihm bekannten Angaben als die wahrscheinlichsten. – Erste und unmittelbare kommunistische Quellen zum Hamburger Aufstand sind: Der militärische Leiter bei der Z[entrale] der KPD, 26.10.1923, a. a. O.; ders., Bericht Nr. 3 über die militärorganisatorische Arbeit in Deutschland vom 28. Juli bis 27. Oktober 1923, Berlin, den 27. Oktober 1923, in: SAPMO/BArch, I 6/10/78;[Heinrich] Brandler, Berlin, den 27. Oktober 1923, An die Deutsche Delegation, zu Hd. d. Gen[ossen] Klara [Zetkin] und [Edwin] Hoernle, Moskau, in: ebd., I 2/3/203; N. N. [Ruth Fischer], Berlin, 6. November 1923, an N. N. [Grigori Sinowjew], in: ebd., I 2/3/380; R[uth] Fischer, Berlin, 17. November, an G[rigori] Sinowjew, Moskau; in: ebd., I 2/3/208.Etwas spätere und nicht uneingeschränkt glaubwürdige Darstellungen der Hamburger Kämpfe geben zwei 1924 verfasste und veröffentlichte Berichte: Hans Kippenberger, Der Aufstand in Hamburg, in (A. Neuberg) Hans Kippenberger, M. N. Tuchatschewski, Ho Chi Minh, Der bewaffnete Aufstand. Versuch einer theoretischen Darstellung [1928], eingel. v. Erich Wollenberg, Frankfurt am Main 1971, S. 66-94, und Larissa Reissner, Hamburg auf den Barrikaden. Erlebtes und Erhörtes aus dem Hamburger Aufstand 1923, in: dies., Oktober. Ausgewählte Schriften, hsrg. u. eingel. v. Karl Radek, Berlin 1925 u. 1927 [Königstein/Ts. 1979], S. 411-497. – Jüngste Publikation über den Hamburger Aufstand ist: Joachim Paschen, „Wenn Hamburg brennt, brennt die Welt“. Der kommunistische Griff nach der Macht im Oktober 1923, Frankfurt am Main 2010.
[5] Vgl. hierzu u. a.: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 8 Bde., hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1966; Willi Bredel und Michael Tschesno-Hell, Ernst Thälmann. Sohn seiner Klasse. Literarisches Szenarium, Berlin 1954, u. dies., Ernst Thälmann. Führer seiner Klasse. Literarisches Szenarium, Berlin 1955 (beide bilden die literarische Grundlage für den gleichnamigen zweiteiligen Spielfilm der DEFA 1954 und 1955 (Regie: Kurt Maetzig).
[6] Ernst Thälmann, Die Lehren des Hamburger Aufstandes, in: Die Rote Fahne v. 23.10.1925, zit. n. ders., Reden und Aufsätze zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. 1, Berlin 1955, S. 254-264 (257).
[7] Der Autor promovierte 2004 zum Thema „Die KPD und der ‚Deutsche Oktober‘ 1923 – ein Beitrag zur politischen Soziologie“, publiziert als: Die KPD und der „Deutsche Oktober“ 1923, Rostock 2005. Dieser Arbeit folgende Passagen sind im vorliegenden Text nicht extra gekennzeichnet. – Siehe zum Thema insbesondere weiter die beiden Dokumentenbände: Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, hrsg. v. Bernhard H. Bayerlein, Leonid G. Babičenko, Fridrich I. Firsov u. Aleksandr Ju. Vatlin, Berlin 2003; Deutschland, Russland, Komintern. Bd. 2: Dokumente (1918–1943). Nach der Archivrevolution: Neuerschlossene Quellen zu der Geschichte der KPD und den deutsch-russischen Beziehungen, hrsg. v. Hermann Weber, Jakov Drabkin, Bernhard H. Bayerlein u. Gleb J. Albert, Berlin 2015.
[8] So Brandler rückblickend in seinem Diskussionsbeitrag auf dem V. Kongress der KI am 23.06.1924, in: Protokoll. Fünfter Kongress der Kommunistischen Internationale. (17. Juni bis 8. Juli 1924), 2 Bde., Hamburg o. J. (1925), S. 222.
[9] Vgl. H. Brandler, Berlin, 16.02.1923, an E. Hoernle, in: SAPMO/BArch, I 2/3/203.
[10] Entsprach bei Kriegsbeginn im Sommer 1914 die Papiermark noch dem Wert der Goldmark, so lag der Kurs bei Kriegsende lediglich noch bei 1:4. Am 15. November 1923 wurde die Papiermark im Wert von 1.000.000.000.000 RM für eine Goldmark umgetauscht (relativ zum US-Dollar: 4,2 Billionen). Der Tauschwert der Goldmark lag am 15.11.1923 gegenüber dem Dollar identisch zum Vorkriegswert bei 4,20 RM. –Siehe hierzu u. a.: https://de.wikipedia.org/ wiki/Deutsche_Inflation_ 1914_bis_1923 u. Henry Werner, Geschichte des Geldes, Berlin 2015, S. 146-152.
[11] H. Brandler an K. Radek, Berlin, 10.08.1923, in: SAPMO/BArch, I 2/3/208.
[12] Vgl. Sitzung des Polbüro der KPD v. 14.08.1923, in: SAPMO/BArch, I 2/3/3.
[13] Beschluss des Politbüros des ZK der RKP(B) „Über die internationale Lage“ vom 22. August 1923. Abschrift aus dem Protokoll Nr. 27 der Sitzung des Politbüros des ZK vom 22.VIII.1923 „Über die internationale Lage“, in: „Die Revolution in Deutschland wird auf den 9. November festgelegt.“, Istočnik, Moskau, Nr. 5/1995, Dok. Nr. 4. – Mitglieder der Kommission waren: Grigorij J. Sinowjew (Leiter), Feliks E. Dzierzynski, Lew B. Kamenew, Grigorij L. Pjatakow, Karl B. Radek, Grigorij J. Sokolnikow, Jossif W. Stalin, Lew D. Trotzki und Georgij W. Tschitscherin.
[14] Neben den konkreten Aufstandsvorbereitungen sollten bei den Verhandlungen in Moskau, an denen von deutscher Seite vor allem Brandler und Fischer teilnahmen, auch die innerparteilichen Streitigkeiten beendet werden, was allerdings erneut nicht gelang. – Stenogr. Protokoll der Sitzung der Zentrale der KPD und der Delegation der Berliner Bezirksleitung mit den russischen Mitgliedern des EK der KI vom 2. Okt. 1923, 4. Okt. 1923 [und] 5. Okt. 1923, in: SAPMO/BArch, I 6/10/78.
[15] Vgl. Der militärische Leiter, Bericht Nr. 3 v. 27.10.1923, a. a. O.
[16] Zu den Auseinandersetzungen innerhalb des Großkapitals um die Stabilisierungspolitik, die hier nicht behandelt werden können, vgl. z.B. Kurt Gossweiler, Großbanken, Industriemonopole und Staat, Berlin 1971, S. 208ff.
[17] Paul Böttcher, Politischer Leiter der KPD Westsachsens und Vorsitzender der kommunistischen Landtagsfraktion, wurde Finanzminister, der Gewerkschaftspolitiker Fritz Heckert Wirtschaftsminister und der Vorsitzende der KPD, Heinrich Brandler, Leiter der Staatskanzlei.
[18] Karl Korsch, Professor an der Jenaer Universität, wurde Justizminister, der Weimarer Kreisschulrat Albin Tenner Wirtschaftsminister sowie der Weimarer Studienrat Dr. Theodor Neubauer Staatsrat.
[19] Alfred Müller, Generalleutnant, an Erich Zeigner, Ministerpräsident, 20. Oktober 1923, in: Walter Fabian, Klassenkampf um Sachsen. Ein Stück Geschichte 1918-1930, [Löbau 1930] Berlin 1972 (Nachdruck), S. 172.
[20] August Thalheimer, 1923: Eine verpasste Revolution? Die deutsche Oktoberlegende und die wirkliche Geschichte von 1923, Berlin 1931, S. 26.
[21] Werner T. Angress, „Stillborn Revolution“, Princeton University 1963 (dt.: Die Kampfzeit der KPD. 1921-1923, Düsseldorf 1973).
[22] Die Frage, ob die KPD im Sommer 1923 ihre große Chance verpasst habe, weil das der einzige Zeitpunkt gewesen sei, wo die Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse ihr und nicht der SPD folgte – so die These von Arthur Rosenberg – oder der vor allem von Winkler geäußerte Zweifel an dieser Auffassung scheint dem Autor letztlich bedeutungslos. Mochte auch die Mehrheit der deutschen Arbeiter in der Politik der KPD ihre Interessen stärker berücksichtigt gesehen haben, so hieß das noch lange nicht, dass sie bereit gewesen wäre, sich aktiv an der Umsetzung dieser Politik zu beteiligen. Vgl. hierzu: Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, [1935], hrsg. u. eingel. von Kurt Kersten, Frankfurt a. M. 1988, S. 401; Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Bonn 1983, S. 205.
[23] Siehe hierzu v. a.: Otto Wenzel, Die Kommunistische Partei Deutschlands im Jahre 1923, Diss., Berlin 1955 (publiziert als: 1923. Die gescheiterte Deutsche Oktoberrevolution. M. e. Einl. v. Manfred Wilke, Münster, Hamburg, Berlin, Wien, London 2003).
[24] Lediglich Stalin äußerte Anfang August 1923 in einem Brief an Sinowjew und Bucharin seine Skepsis gegenüber den revolutionären Möglichkeiten in Deutschland. (Vgl. J. W. Stalin an G. Sinowjew u. N. Bucharin, Moskau, 07.08.1923, in: Deutschland, Russland, Komintern 2, Dok. 84, S. 290-293.) Was ihn aber nicht hinderte, Anfang Oktober 1923 die „kommende Revolution in Deutschland“ als „das wichtigste Ereignis unserer Tage“ zu begrüßen. (s. Die Rote Fahne v. 10.10.1923)
[25] Vgl. Deutschland, Russland, Komintern 2, S. 318 f., Fußnote 132.
[26] Beschluss des ZK der RKP(b) v. 18.08.1923, in: ebd., S. 300.
[27] Beschluss des ZK der RKP(b), o. D. (vermutlich 13.09.1923), in: Deutscher Oktober 1923, S. 140 f.; 1 Pud = 40 russische Pfund = 16,38 kg. D. h. der Beschluss umfasst ca. 4.100 t Getreide.
[28] Deutschland, Russland, Komintern 2, S. 320.
[29] Das belegen zumindest die beiden Berichte des M-Leiters vom Oktober 1923, a. a. O.
[30] Mario Kessler, Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961), Köln Weimar Wien 2013, S. 68.
[31] Isaac Deutscher, Stalin. Eine politische Biographie, Berlin 1990 [1967], S. 504.