„Imperiale Lebensweise“ – Fortsetzung der Debatte („Luxemburg“)
Die in „Luxemburg“ seit dem Heft 1/2018 geführte Debatte zum Konzept der „imperialen Lebensweise“ wird auch in der aktuellen Nummer (2/2018), die ansonsten den Schwerpunkt „Feminismus“ hat, mit zwei Beiträgen fortgesetzt. Im Heft 1/2018 hatten Ulrich Brand und Markus Wissen ihr Konzept noch einmal unter Berücksichtigung bisheriger Kritiken vorgestellt (vgl. auch Fisahn in Z 115). Vor allem die Nivellierung klassenpolitischer Unterschiede hinter einem mit dem titelgebenden Stichwort bezeichneten Konsummodell des globalen Nordens und die Vernachlässigung der Produktionsseite kapitalistischer Gesellschaften zugunsten des Konsums wurde Brand/Wissen von verschiedenen Seiten vorgeworfen.1 Die Autoren bestreiten in ihrem Beitrag diese „Klassenblindheit“, denn die Wohlstandszuwächse der Lohnabhängigen im Fordismus hätten den Klassengegensatz natürlich nicht aufgehoben. Dennoch spreche das nicht gegen ihr Konzept, denn einer „tendenziellen Verallgemeinerung materiellen Wohlstands“ stehe eine gesellschaftliche Hierarchisierung gegenüber, die einen Konsum zu symbolischen Zwecken hervorbringe. Offensichtlich erodierten gegenwärtig die sozialökologischen Voraussetzungen klassenübergreifender Wohlstandszuwächse im globalen Norden, womit sich die Erosion des Klassenkompromisses beschleunigt fortsetze.
Thomas Sablowski (vgl. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/warum-die-imperiale-lebensweise-die-klassenfrage-ausblenden-muss/) sieht in seiner Kritik an Brand/Wissens Konzeption der imperialen Lebensweise „drei systematische theoretische Probleme, die auch gravierende strategische Implikationen“ hätten. So werde die Analyse konkreter Klassenlagen zugunsten der Vorstellung einer mindestens seit dem Fordismus zu konstatierenden klassenübergreifenden – eben imperialen – Lebensweise aufgegeben. Damit geraten aber empirisch nachweisbare massive Unterschiede der Konsum- und Lebensmöglichkeiten in der Klassengesellschaft aus dem Blick. Wichtiger als solche empirischen Widersprüche sei jedoch, dass die Dynamik von Gesellschaften nur über die Analyse ihrer inneren Klassenverhältnisse erfolgen könne, die aber bei Brand/Wissen aus dem Blick gerieten. Weiter sieht Sablowski eine Subsumtion der Produktionsweise unter den Begriff der Lebensweise, womit der Blick auf den individuellen Konsum als Ansatzpunkt sozialökologischen Handelns gelegt werde und gerade nicht auf die Produktionsweise. Schließlich werde die Frage nach den Ursachen für die ungleiche Entwicklung innerhalb und zwischen den Nationalstaaten unzureichend beantwortet. Sablowski plädiert für einen stärkeren Blick auf die „Produktivitäts- und Profitabilitätsdifferenzen“, wohingegen Brand/Wissen sehr viel stärker vom „ungleichen Tausch“ ausgingen.
Stefanie Hürtgen schließt in Heft 2/2018 an diese Kritik von Sablowski an und stellt die „sozial und regional fragmentierten Wachstumsgesellschaften“ des Nordens in den Mittelpunkt, womit eine relativ homogenisierende Nord-Süd-Gegenüberstellung fragwürdig werde. Die systematische Fragmentierung der Arbeitszusammenhänge führe dazu, dass der „‘globale Süden‘ längst auch im ‚globalen Norden‘ beheimatet“ sei. Auch die kritische Konstruktion eines nationalen „wir“ lenke von einem Produktionsmodell ab, das „quer zu den Ländern systematischen Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe“ hervorbringe.
Eine stärkere Differenzierung des Konzepts der „imperialen Lebensweise“ wird von Ferdinand Muggenthaler im Heft 2/2018 angemahnt. An der Frage, was es heißt, „auf Kosten anderer“ zu leben, versucht er diese notwendige Differenzierung zu skizzieren, die sich nicht nur in kapitalistischen Kategorien ausdrücken lasse. Das ändere jedoch nichts an der Tatsache, dass das mit dem Begriff der „imperialen Lebensweise“ verbundene Konsummodell zwar inzwischen weltweit als erstrebenswerte Form des Wohlstands angesehen werde, aber ohne jeden Zweifel nicht verallgemeinerbar sei.
Gerd Wiegel
Marx und die Mainstream-Ökonomie („Wirtschaftsdienst“)
Die Zahl der in den ‚Marxjahren‘ 2017 und 2018 in Deutschland erschienenen Bücher und Artikel über Marx ist kaum überschaubar. Das trifft allerdings ausgerechnet für jenen Bereich nicht zu, der Marx besonders wichtig war: die „ökonomische Scheisse“. Sieht man einmal vom begnadeten Selbstdarsteller Hans-Werner Sinn ab, der sich zu allem äußert, so macht es Mühe, in aktuellen Veröffentlichungen deutscher Mainstream-Ökonomen etwas über Marx zu finden. Eine Ausnahme macht die traditionsreiche Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“, die in ihrer Aprilnummer fragt: „Karl Marx – heute noch aktuell?“1 und in vier Artikeln fünf Ökonomen antworten lässt. Von den Autoren kann allerdings nur einer, der Frankfurter Professor Bertram Schefold, als Marxkenner gelten. Die vier anderen dürften von Marx selbst nicht viel gelesen haben, sie zitieren vor allem Sekundärliteratur. Bezieht man sich auf im engen Sinne ökonomische Fragen, so spielt in allen vier Beiträgen die Lohntheorie eine zentrale Rolle. Marx habe behauptet, so die Professoren Karl Homann und Ingo Pies, „dass der Lohn nicht über das Existenzminimum ansteigen kann.“ (229) Das ist zwar mehr Lassalle als Marx, aber wahrscheinlich haben die Autoren von Lassalles „ehernem Lohngesetz“ und Marx‘ Kritik daran noch nie etwas gehört. Marx habe übersehen, so Homann/Pies, dass – weil der „Produktionsfaktor“ Arbeit im Unterschied zum Kapital nicht „beliebig“ mobil sei – die industrielle Reservearmee verschwinden würde, so dass die Löhne – wegen Vollbeschäftigung – steigen würden. Dass es gerade die Mobilität des Kapitals ist, die es ihm ermöglicht, steigenden Löhnen auszuweichen und die Reservearmee zu internationalisieren (Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer), scheint den Autoren – ebenso wie der Zusammenhang zwischen Migration und Niedriglöhnen – entgangen zu sein. Jürgen Kromphardt variiert die Behauptung von der Fixierung der Löhne am Existenzminimum, wobei er immerhin einräumt, dass dieses ökonomisch und sozial bestimmt sei. Marx sei vor allem Verteilungstheoretiker: „Marx spricht von Ausbeutung, weil den Arbeitern eigentlich das gesamte Produkt zustünde.“ (232) Kennt der Autor Marx‘ „Kritik des Gothaer Programms“ nicht, in der dieser gegen die Formel vom Recht auf den ganzen „Arbeitsertrag“ polemisiert? Kromphardts Erklärung: Marx habe nur den Fall der „unbeschränkten Konkurrenz zwischen den Arbeitern“ (232) vor Augen gehabt, Gewerkschaften habe er nicht kennen können. Offensichtlich ist dem (emeritierten) Professor für Volkswirtschaftslehre die kleine Broschüre „Lohn, Preis und Profit“, ein Vortrag von 1865, entgangen, in der Marx Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Aktionen diskutiert und ausführt, dass sich das Verhältnis zwischen dem Maximum des Profits und dem Minimum des Arbeitslohns auflöst durch „die Frage nach dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden.“ (MEW 16, S. 149) Marx kannte durchaus „Gewerkschaften … als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals.“ (MEW 16, 152) Werner Plumpe, Lehrstuhlinhaber für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Frankfurt/M., befasst sich mit der angeblich von Marx vertretenen „These von der Verelendung der Arbeiterklasse“ (236), wobei er die ausgedehnte Debatte über „absolute Verelendung“ ignoriert.2 Ihm zufolge hat Marx die Tendenz zu steigenden Löhnen und sinkenden Arbeitszeiten nicht kennen können (237). Marx‘ Ausführungen im ersten Band des „Kapital“ über die (erfolgreichen) Kämpfe um den Arbeitstag in England scheinen dem Autor entgangen zu sein. Er liest die Marx unterstellte ‚Verelendungstheorie‘ krisentheoretisch, behauptet, die „Beschränktheit des Konsums“ sei für Marx die „Achillesferse des Kapitalismus“ (237). Die angeblich übersehenen Möglichkeiten zur Verbesserung der Lage der Arbeiter im Kapitalismus mache die Marx’sche Analyse in diesem Punkt obsolet. In krassem Widerspruch dazu steht die Schlussfolgerung von Bertram Schefold: Marx habe „auf Systemveränderung gerichtete Strömungen der Arbeiterbewegung und aggressive Lohnpolitik ermutigt, die viel Schaden angerichtet habe.“ (242) Hier wird Marx, der bei Homann/Pies „als politischer Revolutionär out“ ist, auf einmal wieder zum Totengräber des Kapitalismus, weil die von ihm beeinflusste Arbeiterbewegung übersehe, dass „eine vernünftigere und zurückhaltendere Lohnpolitik im langfristigen Interesse gerade der Arbeiter selbst liegt.“ (242)
Dies scheint der Höhepunkt der Auseinandersetzung der deutschen Mainstream-Ökonomie mit Marx zu sein. Die angeblich größte deutsche Ökonomenvereinigung, der 1873 explizit gegen Marx gegründete „Verein für Socialpolitik“, hielt (zufällig) am Marx-Geburtstag in Trier eine Tagung ab, die, einer Pressemitteilung des Vereins zufolge, „auf den Spuren von Karl Marx“ wandelte. Dies ist wörtlich zu verstehen: Die teilnehmenden Ökonomen nahmen an einer Marx-Stadtführung teil. Die Tagung selbst aber „habe keinen direkten Marxbezug gehabt“, ließ die federführende Trierer Professorin Xenia Matschke wissen.
Jörg Goldberg
Marx in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“
Spezielle Beiträge zum Jubiläum Marx 200 finden sich 2018 in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie nicht. Es gibt jedoch drei Beiträge mit Marx-Bezug, von denen ich auf zwei eingehe.
Zuerst zu Danga Vileisis und Frieder Otto Wolf zur Neuausgabe der „Deutschen Ideologie“ von Marx und Engels.1 Die unter dem Begriff „Deutsche Ideologie“ zusammengefassten Manuskripte wurden von Marx und Engels 1845-47 zwar für eine größere Veröffentlichung geplant, blieben aber mangels Verleger unfertig. Erstmals vollständig publiziert wurden sie 1931 in der MEGA, ihrerseits die Basis für MEW Band 3. Gelesen wurde praktisch nur das systematische „Feuerbachkapitel“, nicht die folgenden Polemiken, obwohl auf sie vier Fünftel des Gesamtumfangs entfallen, wovon wiederum die Kritik an Max Stirner den weitaus größten Platz einnimmt. Die überfällige MEGA-Neuedition (I/5) erschien 2017 und ist den Autoren zufolge geeignet, die „politische Instrumentalisierung“ (des Feuerbachkapitels) zu beenden, weil dieses nicht mehr als „geschlossenes Werk“ zur Begründung des „HistoMat Stalins“ zu „kanonisieren“ sei. Tatsächlich waren in der alten MEGA mehrere Textstellen bewusst umpositioniert worden (der vermeintlich besseren Lesbarkeit zuliebe) und einige Handschriften unabsichtlich nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung angeordnet. Der gedankliche Entwicklungsprozess von Marx und Engels war dadurch nicht korrekt nachvollziehbar, was aber für die Beurteilung der Abkehr von der Feuerbach’schen Philosophie, den geistigen „Umbruch“, unabdingbar ist. Damit haben Vileisis/Wolf sicher Recht. Andererseits wurde in der alten Edition ja kein einziger Text gestrichen oder hinzugefügt, die Gedanken selber sind alle da. Wäre es dann, so frage ich, nicht angebracht, Inhalte zu benennen, die in der alten Edition verfälscht wurden?
Das Hauptinteresse der beiden Autoren gilt, und das macht ihren Artikel interessant, ohnehin der Stirnerkritik. Diese Polemik ist für sie nicht so sehr als Ort der beiden Exkurse bedeutsam, die Marx und Engels von dort aus- und in jenes Feuerbachkapitel eingegliedert haben. Für sie ist wichtiger, dass sie einen bisher kaum beachteten Textteil enthält, worin der theoretische „Bruch“ mit den Junghegelianern möglicherweise „eher“ bezeugt ist als in „abgebrochenen Vorarbeiten“ nach Art des Feuerbachkapitels. Gemeint ist ein kurzer Abschnitt, betitelt „Moral, Verkehr, Exploitationstheorie“ (MEGA, 465-471; unverändert in MEW, 393-399), worin Stirner als „Nützlichkeitstheoretiker“ des englischen Utilitarismus kritisiert wird, wozu Marx und Engels die französischen Materialisten und Bentham zählen. Die Pointe ist, dass es dieselben materialistischen Utilitaristen sind, die Marx ein Jahr zuvor in der „Heiligen Familie“ noch ausdrücklich „mit der kommunistischen Theorie verbunden“ gewürdigt hatte. Dieser „Paradigmenwechsel“ in der Bewertung des Utilitarismus, nämlich seine Zurückweisung, werfe, so die Autoren, die Frage auf, „auf welchen Materialismus sich Marx hier bezieht, um Feuerbachs Materialismus kritisieren zu können“. Es bleibt nicht bei der Frage: Die Autoren legen nahe, dass sich Marx auf den „schottischen … Materialismus (insb. den von Adam Ferguson)“ bezieht, eine These, die Danga Vileisis seit mehreren Jahren (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, 2009, 7-60) vertritt. Es ist hier nicht der Ort, die ohnehin nur angedeutete These weiterzuverfolgen, die übrigens noch weiter gehend von der Utilitarismuskritik auf einen „Durchbruch“ bei Marx hin zur „Kritik der klassischen politischen Ökonomie“ schließt.
Provokative Gedanken können Ausgangspunkt neuer Erkenntnisse sein. Das ist auch hier nicht auszuschließen.
Hauke Brunkhorst2 äußert sich zu „Marx und die Krise normativer Ordnungen“. Dem Autor zufolge ist der moderne Kapitalismus ein in sich geschlossenes System, das sich durch unablässige Krisen („Selbstnegationen“) reproduziert. Die krisenhafte Selbsterhaltung, in Luhmann’scher Begrifflichkeit „selbstreferentielle Schließung“, ist für Marx Ursache gewaltsamer Vernichtung von Arbeitskraft und Freiheit und dadurch ein „Geschichtszeichen“ (Kant), worin dem Kapital „advice gegeben wird to be gone and to give room to a higher state of social production“ (Grundrisse). Das Krisenszenario bei Marx besteht aus dieser potentiell revolutionären „Legitimationskrise“. Sie gründet auf der Kritik an der kapitalistischen „Destruktion des egalitären Individualismus“, den Marx im Kapital „fast auf jeder Seite zelebriert“ (u.a. indem er den „sozialistischen Individualismus“ als Negation der Negation der „lebendigen, individualisierenden Wesenskräfte“ bestimmt). Das Szenario ist mittlerweile jedoch „unterkomplex“; es ignoriert Umwelt-und Migrationskrisen. Auf letztere konzentriert sich der Aufsatz.
Der Autor wirft Marx vor, er habe staatliche Gewalt auf die Entstehung des Kapitalismus („Geburtshilfe“) begrenzt und auch die gewalttätige Herrschaft des Zentrums über die innere und äußere Peripherie (Frauen, Kinder und kolonisierte Völker) nur für die „Kindheitsperiode“ gelten lassen. Dadurch unterschätzte er nicht nur, dass der moderne Kapitalismus „keinen Tag ohne politisches Gerüst überleben kann“, sondern auch, dass die „Permanenz politischer Gewalt“ die Migrationskrise zum „ständigen Begleiter des modernen Kapitalismus“ mache. Auch der Engels‘sche Staatsbegriff des ideellen Gesamtkapitalisten sei „hoffnungslos unterkomplex“. Denn der Staat vertrete keineswegs immer das Gesamtinteresse der Kapitalistenklasse, sondern übernehme auch ihr widersprechende Funktionen. Nach 200 Jahren Klassen- und Emanzipationskämpfen sei der Staat sogar normativ an die soziale Republik gebunden worden. Diese Lösung sei der nach dem zweiten Weltkrieg etablierte (keynesianische) „Kapitalismus mit sozialistischen Merkmalen“.
Allerdings ließ die damit einhergehende Verminderung der „vertikalen Ungleichheit“ die „horizontale Ungleichheit“ anwachsen: Der privilegierten Arbeiterklasse in den Wohlfahrtsstaaten des nordwestlichen Segments der Weltgesellschaft (weiß, männlich und heterosexuell) stand die Krise der gewaltigen Mehrheit gegenüber: Frauen, kolonisierte Völker, Homosexuelle. Diese Mehrheit formierte sich ab Mitte der 1960er zur „Kritik der horizontalen Ungleichheit“ in Gestalt politischer, kultureller und sozialer Bewegungen (u.a. für Bürgerrechte der Farbigen, Frauenemanzipation, sexuelle Selbstbestimmung, gegen Umweltzerstörung). Deren Vereinigung mit der Sozialkritik bahnte sich an. Doch sie kam nicht zustande, weil eine ökonomische Krise ausbrach, die sich als „säkulare Stagnation“ erweisen sollte, ihrerseits Folge des Mangels an neuen wachstumsträchtigen Technologien zur Kompensation der nachlassenden Wirkung der alten.
Zum politischen Programm fast aller Staaten wurde ein autoritärer Liberalismus („präventive Konterrevolution“), dessen „regressive“ Reformen (Offe) die marktwirtschaftliche Gesamtordnung auf allen Ebenen gewährleisten sollen. Die vertikale Ungleichheit nimmt rapide zu, mit der Folge, dass die Kritik der horizontalen Ungleichheit gerade noch das „besser weggekommene Prekariat der akademischen Mittelklasse erfreut“, wie der Autor frustriert feststellt. Sieht er „Auswege? Sieht er im Neoliberalismus ein „Geschichtszeichen“, dem Kapitalismus „advice to be gone“ zu geben? Seine Vorschläge sind nicht neu, aber nicht verkehrt: Massive Umverteilung von Reichtum, universelles Grundeinkommen („das ausreicht, das Studium an einer amerikanischen Eliteuniversität zu finanzieren“), „grünes“ Wachstum, Demokratie auf allen Ebenen der Weltgesellschaft.
Kommentar: Der Eingangsabschnitt holt weit aus, demonstriert philosophische und systemtheoretische Belesenheit, ist aber für die nachfolgende politisch-historische Argumentation kaum relevant. Marx‘ angebliche Begründung nachlassender Bindekraft des Kapitalismus („Legitimationskrise“) mit der Unterdrückung abstrakter Individuen, nicht der Arbeiterklasse, ist m.E. eine rein liberalistische Sicht auf einen Nebenaspekt; angeblicher Kult des Individuums auf jeder Seite des Kapital mag feuilletonistisch gemeint sein, ist aber Unsinn. Überhaupt sollte sich die Lektüre nicht durch Behauptungen zu Marx (und Engels) beeindrucken lassen. Das gilt besonders für die angebliche Begrenzung von staatlicher Gewalt und Kolonialherrschaft auf kapitalistische Frühgeschichte bei Marx (wofür der Autor keinen Beleg liefert) und auf eine nur „ideelle“ Rolle bei Engels. Bereits in den 1890ern erkannte dieser nämlich den Trend zum „reellen“ Gesamtkapitalisten.
Das Verdienst des Autors ist der geschichtliche Blick auf den „nordwestlich“ begrenzten, wohlstandfördernden Keynesianismus, der den Rest der Welt in Armut und Unterdrückung beließ, und auf seine globale Ablösung durch den zu Recht als autoritär und regressiv bezeichneten Neoliberalismus. (Dass die Erklärungen thesenhaft bleiben, mag dem engen Rahmens eines Zeitschriftenartikels geschuldet sein). Der theoretische Hauptgewinn resultiert m.E. aus der Verwendung der Kategorien „vertikale“ und „horizontale“ Ungleichheit für die Erklärung der gegenwärtigen „Migrationskrise“ und der neoliberalen Hindernisse für einen gerechten Umgang mit der globalen Menschenflucht.
Winfried Schwarz
1 Vgl. zuerst Dieter Boris, Imperiale Lebensweise? In: Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung, 05/2017.
1 Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 98. Jahrgang, 2018, Heft 4, S. 227 – 242.
2 Vgl. z.B. Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, 1. Bd., Frankfurt am Main 1973, S. 174 ff.
1 Danga Vileisis / Frieder Otto Wolf, Marx und Engels im Umbruch, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H.1/2018, S. 134-141.
2 Hauke Brunkhorst, Geschichtszeichen. Marx und die Krise normativer Ordnungen, ebd., H. 3/2018, S. 267-294.