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Fest des Friedens und der Solidarität / Alle Berichte

von Natalie Morell / Dominik Feldmann
Dezember 2018

Fest des Friedens und der Solidarität

20. UZ-Pressefest / Volksfest der DKP, Dortmund, 7. bis 9.
September 2018

Seit 1974 ist das UZ-Pressefest eine der zentralen Veranstaltungen im Umfeld der DKP. Hundert-Tausende Menschen besuchten das Pressefest in den 70er und 80er Jahren. Wenngleich die Zahl der Besucher*innen nach eigenen Zahlen mit ca. 40.000 (vgl. UZ vom 14.09.2018) heute nicht mehr in diesen Dimensionen zu fassen ist, kommentierte der UZ-Chefredakteur Lars Mörking zutreffend: „Ja, es gibt uns noch“ (UZ vom 07.09.2018). Dies wird auch durch die Vielfalt des Veranstaltungsangebotes auf dem Pressefest unterstrichen. In diesem Jahr fanden an drei Tagen auf 21 Bühnen weit über 150 Lesungen, Vorträge, Podiumsdiskussionen, Filmvorführungen und Konzerte (u.a. von Esther Bejarano & Microphone Mafia und Konstantin Wecker) statt. Ergänzt wurde dies durch Ausstellungen und Bücherstände. Beteiligt daran waren Landesverbände der DKP, Kommunistische Parteien anderer Länder, SDAJ, Linkspartei, VVN-BdA und weitere Gruppierungen. Auch wenn Mörking außerdem betont, dass sich alle auf dem UZ-Pressefest willkommen fühlen sollen, denen es „angesichts des Sozialabbruchs und Rechtsrucks in Deutschland zu ungemütlich“ (ebd.) werde, ist erstens problematisch, dass es der DKP offensichtlich nicht gelingt, einen breiten Austausch zwischen Linken über die „üblichen Verdächtigen“ hinaus zu realisieren. Zweitens bleibt fraglich, ob die Breite des Angebotes bis zur Präsenz einzelner strittiger Splittergruppen reichen muss.

Das diesjährige UZ-Pressefest stand im Zeichen verschiedener Jubiläen: 200 Jahre Geburtstag von Karl Marx und 100 Jahre Novemberrevolution sowie KPD-Gründung. Außerdem jährten sich zum 50. Mal die Gründung der DKP sowie ihrer Nachwuchsorganisation, der SDAJ, und die 1968er-Bewegung. Letztere und bspw. ihr Verhältnis zur Arbeiter*innenbewegung spielte auf dem Pressefest jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen widmete man sich verstärkt der Geschichte von KPD und DKP in mehreren Vorträgen und Diskussionen. Verhandelt wurden außerdem die Aufarbeitung des NSU-Komplexes, der Rechtsruck, die Ausweitung der staatlichen Repression (bspw. die Diskussionen um ein neues Polizeigesetz in NRW), das Verhältnis zu Kuba sowie die Rolle von China und Russland in internationalen Auseinandersetzungen, u.a. mit der NATO. Die Vielzahl der Veranstaltungen lässt es nicht zu, alle Debatten nachzuzeichnen. Hier sollen nur zwei Themenschwerpunkte erwähnt werden, welchen im gesamten Programm besonderes Gewicht zukam: Pflege und Aufrüstung.

Im Zentrum der Veranstaltungen zur Pflege standen die Streiks an den Kliniken in Essen und Düsseldorf. U.a. Vertreter*innen aus Gewerkschaften berichteten über den Verlauf der Arbeitskämpfe und Schwierigkeiten bei der Mobilisierung, welche nicht zuletzt durch Diffamierungs- und Spaltungsstrategien der Betriebe verstärkt worden seien. Es konnten aber Erfolge bei der Solidarisierung sowohl von Pfleger*innen wie sonstigen Angestellten der entsprechenden Einrichtungen resümiert werden. Wie auch in der Berliner Charité stünden im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen nicht Lohnerhöhungen, sondern personelle Entlastungen durch Einstellung von Pflegekräften sowie angemessene und verbindliche Personalschlüssel. Als Erfolge der Kämpfe können bereits eine Aufstockung von Vollzeitstellen und die Etablierung von Regelbesetzungen in Pflegeeinrichtungen verzeichnet werden. Solche Erfolge dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auseinandersetzungen um bessere Arbeitsbedingungen unbedingt fortgesetzt und auf weitere Einrichtungen übertragen werden müssten.

Durch theoretische Reflexion und praktische Politik wurde auch das Thema Abrüsten in den Mittelpunkt des diesjährigen UZ-Pressefestes gerückt. Das Ziel der NATO, die Rüstungsausgaben zukünftig auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen, wurde friedenspolitisch problematisiert. Dabei wurde die Unverhältnismäßigkeit dieser Aufstockung u.a. im Kontext fehlender Gelder in der Pflege dargelegt. Verschiedene, örtliche Friedensinitiativen stellten sich vor. Ein besonderer Fokus lag auf der Kampagne „Abrüsten statt Aufrüsten“, welche die DKP u.a. durch die Sammlung von Unterschriften unterstützt. Die DKP hatte sich als Ziel gesetzt, bis zum UZ-Pressefest 30.000 Unterstützer*innen zu mobilisieren. Am Samstagabend übergab der Parteivorsitzende Patrik Köbele auf der Hauptbühne knapp 28.000 Unterschriften an einen Initiator der Kampagne. Köbele nutzte außerdem die Gelegenheit, um in Anlehnung an Horst Seehofers Erklärung der „Migration als Mutter aller Probleme“ zu pointieren: „Krieg ist die Mutter der Flucht – die NATO der Vater“ (zit. nach UZ vom 14. 09. 2018). Nach dem Pressefest ergab die Zählung schließlich über 32.000 Unterschriften.

Zwar hat das UZ-Pressefest nicht mehr die Bedeutung wie in früheren Zeiten; aber es ist das einzige große linke Politfestival in der BRD geblieben, an dem sich auch linke Prominenz der Musikszene – Konstantin Wecker z.B. – beteiligt. Insofern ist es der DKP in Anbetracht ihrer schmalen personellen und materiellen Ressourcen gelungen, eine große und inhaltlich recht breit aufgestellte Veranstaltung für den Austausch von Linken aus Partei(en), Gewerkschaften und Initiativen zu organisieren und damit politische Impulse zu setzen.

Natalie Morell / Dominik Feldmann

Europa-Kongress von Attac

Kassel, 5. bis 7. Oktober 2018

Mit ca. 650 Teilnehmern fand vom 5. bis 7. Oktober an der Uni Kassel der Kongress „Ein anderes Europa ist möglich! Demokratisch, friedlich, ökologisch, feministisch, solidarisch!“ statt. Organisiert hatte ihn Attac in Kooperation mit zahlreichen Partnern, darunter die IG Metall, Ver.di, GEW, BUND, die Initiativen Eurexit und Europa neu begründen, das Online-Magazin Makroskop und die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Mit Gästen aus 10 europäischen Ländern, darunter Griechenland, Frankreich, Großbritannien, Russland und Tschechien, war der Kongress international bestückt. Prominente Podiumsteilnehmer waren u.a. Frank Bsirske, der griechische Ökonom und ehem. Parlamentarier von Syriza, Costas Lapavitsas, Hans-Jürgen Urban von der IG-Metall, die Mélenchon-Beraterin Jeanne Chevalier, Heiner Flassbeck, der linke Brexit-Befürworter Stephen Nolan, der ehem. Chef des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Fritz Scharpf, Yala Kisukidi als Vertreterin postkolonialer Positionen sowie der Direktor des Moskauer Institute of Globalization and Social Movements, Boris Kagarlitzky.

Hervorstechendstes Merkmal des Kongresses war seine links-pluralistische Ausrichtung. Er hat hierzulande zum ersten Mal in dieser Größenordnung die Breite der europapolitischen Positionen, die es in der europäischen Linken gibt, realistisch abgebildet. Da auch in der deutschen Linken mitunter die Tendenz zu beobachten ist, linke Infragestellung des Euro oder Strategien des Bruches mit den neoliberalen Verträgen als „anti-europäisch“ aus dem zulässigen Diskurs auszugrenzen, war es ein Verdienst des Kongresses, eine sachliche Diskussion auch dieser Positionen zu ermöglichen. Für so manche Teilnehmer war das bis dahin im wahrsten Sinne des Wortes un-erhört. Wie aber die Publikumsreaktionen zeigten, gibt es beträchtliche Sympathien für eine radikalere Kritik an der EU, als sie der linke Mainstream vertritt.

Bemerkenswert war, dass auch in die gewerkschaftliche Diskussion Bewegung zu kommen scheint. So sprach z.B. Hans-Jürgen Urban davon, dass auch „gezielte Regelverletzungen“ ein legitimes Mittel linker Politik sein können und die bloße Anrufung des „sozialen Europa“ als Strategie nicht genügt. Auch die Referatsleiterin für Europapolitik im DGB, Dominika Biegoń, schlug überraschende Töne an, als sie die Föderalisten, also die Anhänger von „Mehr Europa“ und damit die offizielle Linie des DGB kritisierte. Stattdessen trat sie für das Konzept der sog. differentiellen Integration ein. Demnach soll auf bestimmten Gebieten auch eine selektive Rückverlagerung von Kompetenzen von der supranationalen Ebene auf die nationalstaatliche vorgenommen werden, z.B. um sozialstaatliche Errungenschaften zu schützen. Das ist sicher noch nicht DGB-Beschlusslage, zeigt aber, dass das Nachdenken über Ansätze mit mehr machtpolitischem Biss begonnen hat.

Am weitestgehenden haben eine solche Strategie Cédric Durand von der Uni Paris VIII und Jeanne Chevalier von Mélenchons „La France Insoumise“ formuliert. In einem „Plan A“ soll im Falle einer linken Regierungsübernahme mit den Partnern – und hier vor allem mit Deutschland – verhandelt werden, bestimmte neoliberale Regeln auszusetzen, zum Beispiel den Europäischen Stabilitätspakt mit seiner Schuldenbremse und den Austeritätsauflagen. Um dem Nachdruck zu verleihen, soll von vorneherein ein „Plan B“ angekündigt werden, d.h. unilaterale Nichtbefolgung der neoliberalen Regeln bis ggf. hin zum Austritt aus dem Euro. In Anlehnung an Brechts Lied der Kommunarden könnte man sagen: „In Erwägung, ihr hört nur auf Druck, andre Sprache könnt Ihr nicht verstehen, werden wir den Druck auf Euch jetzt ordentlich erhöhn.

Ebenfalls vergleichsweise neu für die europapolitische Debatte war der hohe Stellenwert, den die Militarisierung der EU-Außenpolitik, die Spannungen mit Russland und die Sehnsucht der Funktionseliten nach Weltmachtstatus einnahmen. Vor dem Hintergrund der Umbrüche im internationalen System hin zu einer multipolaren Ordnung und der Erosion der transatlantischen Beziehungen muss die Linke hier eine eigenständige Linie finden. Einig war man sich dabei schon mal in der Ablehnung von PESCO (militärische Zusammenarbeit). Stattdessen müsse hohe Priorität einer neuen Entspannungspolitik zwischen EU und Russland zukommen. Gefordert wird eine Zone der Zusammenarbeit und gemeinsamen Sicherheit von Lissabon bis Wladiwostok.

Beim Thema Flucht und Migration war die Ablehnung der „Festung Europa!“ einhellig. Auch wurde weiterhin Widerstand gegen Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung angekündigt, so gegen TTIP, CETA oder die Pläne für eine Kapitalmarktunion.

Mit Veranstaltungen und Aktionen will Attac in den Wahlkampf zum EU-Parlament im Mai 2019 eingreifen. Darüber hinaus ist die Fortsetzung der europapolitischen Diskussion mit Tagungen und Publikationen geplant.

Insgesamt kam mit dem Kongress in Kassel frischer Wind in die Debatte. Es ist zu wünschen, dass er anhält und auch Folgen hat.

Peter Wahl

Die kurzen Sommer der Gegenmacht

12. Braunschweiger Gramsci-Tage, Braunschweig, 26. bis 27. Oktober 2018

Die 12. Braunschweiger Gramsci-Tage am 26./27.10.2018 im Braunschweiger Gewerkschaftshaus beleuchteten „Die kurzen Sommer der Gegenmacht. Historische Alternativen zum Kapitalismus und warum sie so schwer durchzusetzen sind“1 mit Vorträgen, Diskussionen und Workshops (Einführung in die Theorie Gramscis und Gewaltfreie Aktion als Gegenmacht).

Gegenbewegungen seien Momente der Dynamik kapitalistischer Widerspruchsentwicklung, stellte Dr. Bernd Röttger (Braunschweig; Lehrbeauftragter an der Uni Jena) einleitend heraus. In der Geschichte der Arbeiterbewegung habe es nicht an Bewegung, sondern an Macht gemangelt. Das Kapital habe stets seine Fähigkeit gezeigt, emanzipatorische Gegenkräfte zu verdauen. Mit Lelio Basso konstatierte Röttger, es sei bisher nicht gelungen, diesem „wandlungsfähigen Organismus“ eine wirksame „antagonistische Logik“ entgegenzusetzen. Als Gegenwartsanalyse beschrieb er mit Gramsci ein „Interregnum“, in dem der herrschende Block nicht mehr in der Lage ist, die Krise zu lösen, aber zu verhindern, dass andere dies tun. Auf diesem Terrain organisierten sich die antagonistischen Kräfte. Ähnlich wie in der Vorphase des Faschismus drohe eine passive Revolution von rechts. Gefragt seien Praxen, die sich nicht in „Integrationslogik“ verwandeln ließen.

Die neoliberale Globalisierung als Wachstumsprojekt sei repulsiv geworden, schlage mit ihren Wirkungen auf die verursachenden Zentren zurück, so Prof. Dr. Klaus Dörre (Universität Jena). Die klassenspezifischen Ungleichheiten hätten weltweit ein Ausmaß angenommen, dass eigentlich auf eine geradezu „vorrevolutionäre“ Situation schließen lasse; real hätten wir es aber mit „demobilisierten Klassengesellschaften“ zu tun. Nach der neoliberalen Globalisierung finde eine „Zeitenwende“ statt mit einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation, die wir nicht verhindern, aber in der Richtung beeinflussen könnten. Die „autoritäre Revolte“ des völkischen Populismus beantworte die Herausforderung mit einer ethnopluralistischen Ideologie und Sozialpopulismus. Angelehnt an das Jenaer Modell der Quellen gewerkschaftlicher Macht – struktureller, organisatorischer, institutioneller, kommunikativer und reproduktiver Macht – formulierte Dörre Anforderungen an eine progressive Gewerkschaftspolitik, die sich kritisch und unidealistisch mit der Entwicklung der Digitalisierung auseinandersetzt und sich an Lebensfragen (Arbeitszeit) orientiert. Politische Bildung, Besetzung der Sachthemen und antirassistische Mobilisierung seien gefragt.

Richard Detje (Hamburg; Studie Rechtspopulismus und Gewerkschaften, Hamburg 2018, VSA) konstatierte in seinem Workshop, bei der „Klimaveränderung“ in den Betrieben gehe es um die Behauptung des sozialen Status. Die Betroffenen seien mit vier Dimensionen von Verlustängsten konfrontiert: soziale Sicherheit, Kontrolle der eigenen Erwerbsbiografie, Anerkennung sowie perspektivische Aufstiegschancen. Diese Unsicherheiten gingen als „diffuse Angst“ (Gramsci) mit dem Wunsch nach Zu(sammen)gehörigkeit in einem neuen Kollektivzusammenhang einher. Eine diffuse Wut habe mit der „Flüchtlingsfrage“ als katalysierendes Element einen Empörungsadressaten (Geflüchtete) und einen Sprecheradressaten (PEGIDA und AfD) erhalten. Die Verschiebung der Konfliktachse von vertikal (oben vs. unten) zu horizontal (wir vs. die anderen) beinhalte die Wahrnehmung von Gewerkschaften als Teil des Establishments. Die Linke müsse unbedingt an die Verlustängste andocken und sich selbst zum Sprachrohr dieser Erfahrungen machen.

Ingar Solty (Berlin, RLS) machte in den postglobalisierten kapitalistischen Zentren drei politisch-ökonomische Blöcke aus: den neoliberal-kosmopolitischen, den autoritär-nationalistischen und den sozialstaatlich orientierten. Offen sei, ob die Ablösung durch den autoritären Kapitalismus schon die „Lösung“ oder nur die Verschiebung der Krise sei. Mit Dörre konstatierte Solty eine „demobilisierte Klassengesellschaft“. Das Bedürfnis nach politischen Lösungen sei groß, allerdings fehle eine erlebte Handlungsmacht. Hieraus speise sich eine „cäsaristische Sehnsucht“ nach politischer Führung, die auch die Linke nicht ignorieren solle. Die aktuelle Phase eröffne Experimentierraum, der genutzt werden sollte. Seine Empfehlung an die Linke ist, mit der Situation dialektisch umzugehen und sie nicht in eine Spaltung münden zu lassen.

Im abschließenden Gespräch befand auch Richard Detje, dass es auf die verschränkte Bearbeitung verschiedener Problemfelder ankomme: Aufnehmen der Ängste und Verlusterfahrungen, Verbindung der gewerkschaftlichen und politischen Linken und Verschränken von Arbeits- und Lebenswelt. Das Verbindende in unterschiedlichen Themenfeldern sei herauszuarbeiten und über Kapitalismus selbst zu diskutieren. Für das Verhalten gegenüber der Neuen Rechten empfahl Detje, selbst aktiv Themensetting zu betreiben und deren Positionen dem „Realitätstest“ auszusetzen. Die Gewerkschaften bräuchten offensive Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen.

Lieder und Texte von und über Erich Mühsam rundeten das Programm ab.

Michaela Lange

Weltmarkt und Krise

11. Marx Herbstschule zu Weltmarkt und Krise vom 26. bis 28. Oktober 2018 in Berlin

Die 11. Marx Herbstschule, organisiert von Helle Panke e.V., Rosa-Luxemburg-Stiftung, TOP-Berlin/Ums Ganze!, dem Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition sowie den Teamer_innen der Herbstschule, hatte mit etwa 150 Teilnehmenden allein in den Arbeitsgruppen unerwartet großen Zuspruch. Auch das Rahmenprogramm mit Heide Gerstenberger („Über Marx und über Bretton Woods“) sowie mit Klaus-Dieter Block und Michael Heinrich („Marx‘ Überlegungen zum Weltmarkt“) fand insgesamt 300 Interessierte. Das spricht sowohl für das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Selbstverständigung über eine Gesellschaftskritik „nach Marx“ als auch für das Format der Marx Herbstschule, in der Texte von Marx zu ausgesuchten Schwerpunkten gemeinsam mit Teamer_innen erarbeitet werden, begleitet von einem thematisch passenden Rahmenprogramm.

Das diesjährige Thema war „Weltmarkt und Krise“, wobei es darauf ankam, einen Zusammenhang zu erschließen. Marx wird gemeinhin zugute gehalten, dass er bereits zu seiner Zeit von der sowohl weltweiten als auch krisenhaften Dimension der kapitalistischen Produktionsweise ausging. So führte denn auch die Diskussion, die um die Jahrtausendwende über die „Globalisierung“ geführt wurde, zu einem Comeback von Marx, und mit der Finanzkrise von 2008/2009 kam es erneut zu einer kleinen Marx-Renaissance. Allerdings sprach Marx statt von Globalisierung vom „Weltmarkt“, und dieser steht nicht am Ende eines historischen Prozesses, sondern an dessen Anfang. Schon 1848 hatte er mit Engels im Kommunistischen Manifest festgestellt: „Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet.“ Es ging im Manifest also nicht nur um den gesellschaftlichen Charakter, den die Arbeit und die Produktionsmittel durch ihre kapitalistische Verwertung erhalten, es ging vielmehr um den weltweiten Charakter dieser Verwertung und ihre „kosmopolitische Gestaltung“ – doch mit der „Exploitation des Weltmarkts“ bringt das Kapital auch seine eigene Krisenhaftigkeit hervor.

Allerdings sind Marx‘ Überlegungen zum Weltmarkt und zur Krise über verschiedene Schaffensperioden verstreut, und auch im Kapital gibt es keine eigenständigen Ausarbeitungen. Die Marx-Herbstschule wollte sich diese verstreuten Ausführungen durch drei Schritte erschließen: 1. durch Texte zur Entstehung und Durchsetzung des Kapitalismus, 2. durch tagespolitische Artikel von Marx zu den Krisen seiner Zeit, besonders zur Weltwirtschaftskrise von 1857/58, und 3. durch einschlägige Passagen zu Krisenmechanismen aus den drei Bänden des Kapital.

Diese drei Schritte ergeben sich indes nicht nur aus unterschiedlichen Schaffensphasen bei Marx, es handelt sich auch um unterschiedliche Textgattungen, und mithin um unterschiedliche Darstellungen und Methoden der Kritik. Die eigentliche Kontroverse darüber fand bereits in der Vorbereitung der Herbstschule statt. Sie galt Marx‘ journalistischen Artikeln, die lange Zeit kaum berücksichtigt wurden, in jüngster Zeit aber zunehmend Beachtung erfahren. Marx schrieb viele dieser Artikel für eine breite Leserschaft in den USA, während er gleichzeitig die Nächte an den Grundrissen seiner Kritik der politischen Ökonomie zubrachte, um ihre grundlegenden Kategorien wie Ware, Wert, Geld und Kapital in einer Art Selbstverständigung und „innerem Monolog“ (M. Tronti) zu bestimmen.

Interessanterweise bereiten nun diese tagespolitisch informativen, detailreichen und empirisch gesättigten Artikel gerade denjenigen Schwierigkeiten, die mit Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie und ihren Kategorien gut vertraut sind. Die Schwierigkeiten ergeben sich weniger aus der damaligen tagespolitischen Situation, die heute mitunter kaum mehr bekannt ist, und auch nicht aus der Komplexität der behandelten ökonomischen Verhältnisse, etwa des Banken- und Finanzsystems, der internationalen Handelsbeziehungen und ihren inneren Dynamiken und Wechselwirkungen. Die eigentliche Schwierigkeit liegt gleichsam noch davor, nämlich darin, dass Marx die Ökonomie auf zwei unterschiedlichen Ebenen behandelt und mithin zwei unterschiedliche Methoden ihrer Darstellung und Kritik verfolgt. Anscheinend befindet sich die Kritik in der Verlegenheit, gerade diese Unterscheidung vornehmen zu müssen: Die Unterscheidung zwischen der Ökonomie, wie sie sich empirisch und tagespolitisch darstellt und auch die Bourgeoisie umtreibt (hier muss der Bourgeoisie sozusagen auf ihrem eigenem Terrain begegnet werden), und dem inneren Zusammenhang dieser Ökonomie, der davon zu unterscheiden und der systematisch-kategorial zu entwickeln ist.

Die Gesellschaftskritik muss es mit diesem Bruch aufnehmen, und konsequenterweise findet sich dieser Bruch im Bereich der Kritik auch in Marx‘ persönlicher Situation. Denn noch in seinem Alltagsleben fällt beides auseinander: Die journalistischen Artikel, die er von Juni 1856 bis Dezember 1858 für die New York Daily Tribune schrieb, ergaben sein einziges festes Einkommen, aber über die Zeitschrift äußerte er sich meist abfällig, genauso über die Art journalistischer Tätigkeit – seine Berufung waren die parallelen nächtlichen Studien und die Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie. Jenny Marx schrieb an Conrad Schramm: „Karl arbeitet am Tage, um fürs tägliche Brot zu sorgen, nachts, um seine Ökonomie zur Vollendung zu bringen.“ (MEW Bd. 29, S. 645)

Und doch kommt beides gerade in dieser Trennung ebenso in Marx‘ täglichem Leben wie in seinen Text- und Wissensproduktionen zusammen, und anscheinend käme es darauf an, diese eigentümliche Verschränktheit zweier unterschiedlicher Ebenen für „die Sache selbst“ zu klären. Dann fiele nicht nur Marx‘ Leben auseinander in zeitraubende Erwerbsarbeit tagsüber und fiebrige Selbstverständigung des Nachts, und es fielen auch nicht einfach zwei Textgattungen auseinander – beides verwiese im Auseinanderfallen auf einen unterschiedlichen Status in der „Sache selbst“, in der kritisierten politischen Ökonomie.

„Ich bin gezwungen, den Tag zu töten mit Erwerbsarbeiten. Es bleibt mir nur die Nacht für wirkliche Arbeiten über“, schrieb Marx an Lassalle (MEW 29, S. 548). Tagsüber ebenso zeitraubende wie notwendige Lohnarbeit, nur nachts freie Zeit für das „wirkliche Arbeiten“ – ist das nicht ziemlich genau derselbe Zustand, in dem sich radikale Gesellschaftskritik auch heute noch einrichten muss?

Frank Engster

1 In Anlehnung an Hans Magnus Enzensbergers Roman Der kurze Sommer der Anarchie Buenaventura Durrutis Leben und Tod.

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