„Kurz nach der Revolution sind in Eutin Postkarten vertrieben worden mit dem Geburtshaus des Volksbeauftragten Wilhelm Dittmann in Eutin, Ecke Weide- und Elisabethstraße.“ Mit diesem Hinweis begann der am 13. November 1874 in Eutin als Sohn eines Stellmachermeisters geborene, am 10. November 1918 zum Volksbeauftragten ernannte Wilhelm Dittmann seine „Eutiner Erinnerungen“ von 1929[1]. Heute erinnern sich nur noch wenige an diesen bedeutenden Repräsentanten der sozialistischen Arbeiterbewegung, der von 1912 bis 1933 für die SPD bzw. die USPD Mitglied des Reichstags war.
Der Tischlergeselle Wilhelm Friedrich Carl Dittmann gehörte zur zweiten Generation der Führungskräfte der SPD. Ausgestattet mit einer „kümmerlichen Volkschulbildung einer holsteinischen Kleinstadt“, hatte er sich der Partei und den Gewerkschaften (Holzarbeiter-Verband) nach dem Fall des Sozialistengesetzes angeschlossen und war als Autodidakt über die Arbeiterbildungsvereine zu höchsten Ämtern aufgestiegen. Und dennoch geriet er selbst in den eigenen Parteikreisen in Vergessenheit. Wohl auch, weil ihn die von ihm 1920 postulierte „Pflicht zur Wahrheit“ früh wegen der „Unreife der Massen“ nicht nur an der „Tauglichkeit des sowjetischen Modells“ zweifeln ließ.[2] Offen und mit Entschiedenheit thematisierte er auch die Fehler in den eigenen Reihen.
Seine politische Karriere begann er 1894 nach Abschluss seiner Tischlerlehre als erfolgreicher Organisator der Wahlkämpfe in Ostholstein. 1899 ging er als Lokalredakteur der „Norddeutschen Volkstimme“ und Vorsitzender des örtlichen Parteivereins nach Bremerhaven. Von 1902 bis 1904 war er Lokalredakteur, später von 1909 bis 1917 Chefredakteur der „Bergischen Arbeiterstimme“ in Solingen. Hier und später als Parteisekretär und Stadtverordneter in Frankfurt/Main (1904-19) kam er in einen engen freundschaftlichen Kontakt u.a. mit August Bebel, Rosa Luxemburg, Alfred Henke und Robert Dissmann und wurde ab 1912 für den Wahlkreis Remscheid-Mettmann in den Reichstag gewählt. Um sich für hohe politische Funktionen zu qualifizieren, hatte er noch im Mai 1911 Rosa Luxemburg um „Auskunft über unsere Parteischule“ gebeten, um sich für den Jahreskurs 1912 in Berlin anzumelden.[3] „Groß, schlank, mit einer schönen, wohlgetürmten, dunkelblonden Mähne, mit einem vollen Spitzbart und einem flotten, kühn auslaufenden Schnauzer darüber. Zwei stechende Augen, die man, weil sie sich einem aufdringlich in die Seele zu bohren versuchen, nicht wieder vergisst“. So beschreibt ihn 1919 der Zeitgenosse Erich Dombrowski.[4]
Der Kriegsgegner
1914 schloss sich Dittmann der Minderheit jener Sozialdemokraten an, die nicht mit der Mehrheit der Deutschen dem „Flammenrausch des Vaterlandes“[5] erlagen. Als Gegner des „Hurrapatriotismus“ folgte er nicht den führenden Propagandisten dieser einflussreichen Idee, der in den Schützengräben des Weltkrieges vermeintlich Gestalt gewordenen „Volksgemeinschaft“. Im Gegenteil, er sah schon vor dem Kapp-Putsch 1920 voraus, wie sich diese „Ideen von 1914“ am „Tag von Potsdam“ (21. März 1933) noch einmal vollenden sollten: In der dortigen Garnisonskirche wurde am Grabe Friedrichs II. der am 5. März 1933 gewählte Reichstag eröffnet – gemeinsam von Reichpräsident Paul von Hindenburg, Feldmarschall und Sieger von Tannenberg, und Reichskanzler Adolf Hitler, Gefreiter des Weltkrieges. Nicht mehr dabei sein durfte der gewählte Abgeordnete Wilhelm Dittmann. Sein Parteivorstand hatte zu diesem Zeitpunkt den von rechts als „Novemberverbrecher“ diffamierten dringend empfohlen, Deutschland zu verlassen und mit den gleichfalls gefährdeten Philipp Scheidemann und Arthur Crispien zu emigrieren.[6]
„Das Deutschland der Vorkriegszeit ist für die heutige Generation fast eine terra incognita, ein unbekanntes Land, so sehr hat der Krieg den Zusammenhang zwischen dem Vorher und dem Nachher zerrissen“. Das schrieb Dittmann im Dezember 1937 im „Neuen Vorwärts“, dem Zentralorgan der SPD im Prager Exil, als „Parteidisziplin und Preußengeist“ ihn zur Flucht ins Schweizer Exil gezwungen hatten. Den Zivilisationsbruch von 1914, der von einigen Historikern seit George F. Kennan als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ interpretiert wird und der mit dem englischen Historiker Eric Hobsbawm das „Zeitalter der Extreme“[7] einleitete und so den Auftakt zu einem zweiten „Dreißigjährigen Krieg“[8] zwischen 1914 und 1945 öffnete, hatte Dittmann als Zusammenbruch jener Ordnung erlebt, in der er aufgewachsen war und die ihn nicht nur tief geprägt hatte, sondern ihn veranlasste, sich führend an dem Neuaufbau der demokratischen Ordnung in Deutschland zu beteiligen.
Mit zahlreichen prominenten Sozialdemokraten war Dittmann dabei, als es 1917 nach ihrem Ausschluss aus der SPD darum ging, die USPD[9] in Gotha als neue sozialistische Friedenspartei zu gründen. Als geschäftsführender Sekretär des siebenköpfigen „Zentralkomitees“ thematisierte er u.a. mit Hellmut von Gerlach „Die große Zeit der Lüge“ zwischen 1871 und 1921 und entlarvte die „Verteidigungslüge“. Dittmann blieb einer der Einflussreichsten von ihnen. Er hatte 1915 im Reichstag erstmals gegen die Kriegskredite gestimmt. Als damaliger Chefredakteur der „Bergischen Arbeiterstimme“ in Solingen begründete er am 5. Januar 1916 seine Haltung mit dem Grundsatzbeitrag: „Parteidisziplin über Fraktionsdisziplin“[10]. Wegen der Beteiligung am Berliner Munitionsarbeiterstreik verurteilte das Kriegsgericht den vom Kriegsdienst befreiten Abgeordneten im Januar 1918 zu fünf Jahren Festungshaft. Amnestiert im Oktober 1918 gehörte Dittmann im November/Dezember 1918 zum Rat der Volksbeauftragten, der ersten Reichsregierung nach der Novemberrevolution.
Vor und in der Revolution 1918/19
„Deutschland soll eine soziale Republik sein“. Das war für Dittmann die „Magna Charta der Revolution“.[11] Diese Aufgabe veranlasste ihn, noch vor dem Abschluss des Waffenstillstandsvertrags am 10. November 1918 anstelle von Karl Liebknecht in die neue Regierung einzutreten, gestützt von Richard Müller und den Revolutionären Obleuten des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes. So gehörte er zu den Gründungsvätern der Weimarer Republik. Er wurde neben Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Landsberg von der MSPD mit Hugo Haase und Emil Barth von der USPD einer der sechs Volksbeauftragten. Sein Ressort umfasste die Aufgaben für Demobilisierung, Gesundheitswesen, Verkehrswesen und Rechtspflege.
Dittmann plädierte mit den beiden anderen Volksbeauftragten von der USPD für den Weg „von der bürgerlichen Republik zur proletarischen Revolution“. Das war ihr beherrschendes Thema ab November 1918 zusammen mit Rosa Luxemburg in direktem Bezug nicht nur zur Russischen Revolution, sondern auch zu der „Berliner revolutionären Bewegung“ 1918/19. Dittmann sah eine seiner Aufgaben darin, die Mitglieder in der gespaltenen Sozialdemokratie darauf vorzubereiten, den Kontakt zu den radikalen Linken in der Spartakusgruppe nicht abreißen zu lassen und die Zusammenarbeit mit den Repräsentanten des bürgerlichen Lagers einzuschränken. Auch galt es, den seit 1916 bestehenden Kontakt zu den Matrosen der Kriegsmarine in Kiel, Cuxhaven und Wilhelmshaven wieder aufzunehmen und ihrem Schicksal nachzugehen. Die Führung der USPD, die „Richtung Haase-Ledebour-Dittmann“, wurde neben den Linksradikalen (Spartakusbund, Gruppe Internationale, Bremer Linksradikale, Internationaler Jugendbund usw.) für die Verteilung von Flugblättern wie auch der Verbreitung der „Sozialistischen Friedenspropaganda“ und der „gewaltsamen Lahmlegung der Flotte“ vom Reichskriegsgericht verantwortlich gemacht und – trotz ihrer Immunität als Reichstagsabgeordnete - mit Zuchthausstrafen überzogen. Mit den Revolutionären Obleuten der Berliner Metallarbeiter gehörte Dittmann zu den Organisatoren des großen Friedensstreiks der Berliner Munitionsarbeiter, an dem am 28 Januar 1918 400.000 Arbeiter und Arbeiterinnen teilnahmen[12]. Außerdem beschuldigte ihn der Reichsstaatsanwalt, bereits im Juli 1917 im Zusammenhang mit den Marine-Unruhen in Kiel eine Rede gehalten zu haben und im Besitz von zwölf Namen von Matrosen des Torpedobootes „SMS Ziethen“ zu sein, die an die USPD-Zentrale in Berlin und von dort an das Bezirkssekretariat der USPD Bremen gesandt worden seien.[13] Dittmann nutzte als Abgeordneter nach Ende des Krieges die Möglichkeit, diese „öffentlichen Auseinandersetzungen über die Ursachen des Zusammenbruchs und der Revolution von 1918“ erstmals aus dem amtlichen Aktenmaterial in seiner großen Reichstagsrede vom 1926 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er hob hervor, dass „die Unruhen, die im Sommer 1917 auf den Schiffen der Marine in Wilhelmshaven und Kiel ausbrachen wie auch die revolutionäre Erhebung auf der Flotte in den ersten Novembertagen 1918“ dabei eine große Rolle spielten.[14]
Dittmann hatte am 22. und 23. Januar 1926 eine sechsstündige Rede vor dem von ihm geleiteten parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Reichstages zur „Dolchstoß-Legende“ gehalten. Mit dieser die Geschichte fälschenden Zwecklüge behaupteten Rechtsparteien und nationalistische Gruppen, dass das deutsche Heer im Felde nicht militärisch besiegt, sondern von „hinten erdolcht“ worden sei – durch Dittmanns Anhänger der Novemberrevolution von 1918. Dittmanns Ausführungen über die Marinevorgänge von 1917 und 1918 schlugen wie eine Bombe ein.
Der einstige Koordinator der „radikalen Mehrheit“ gegen den Krieg hatte die amtlichen Geheimakten von 47 Schiffsprozessen, 13 Aktenbände des Reichsmarineamtes und 14 des Reichsgerichtes – mit Hilfe seiner Sachbearbeiter im Dittmann-Ausschuss des Reichstags um den Historiker Martin Hobohm – sorgfältig und gründlich durchgearbeitet, um zur Aufklärung über das Gewalt- und Willkürregiment in der Reichsflotte während des Krieges beizutragen. Er verneigte sich vor den mutigen Matrosen Max Reichpietsch und Albin Köbis, den zum Tode verurteilten Organisatoren der Antikriegsbewegung unter Matrosen und Werftarbeitern an der Nord- und Ostseeküste. Sie waren am 5. September 1917 auf dem Gelände der heutigen Luftwaffenkaserne am Flughafen Köln/Bonn hingerichtet und verscharrt worden. Seine zeitgleich vorgelegte Broschüre über die „Marine-Justiz-Morde von 1917 und die Admirals-Rebellion von 1918“ sicherte ihm Publizität in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit. Eine überarbeitete Neuauflage erschien 1926 im Dietz-Verlag.[15] Sie wurde von ihm im dritten Band seiner „Erinnerungen“ noch einmal ausführlich als „Enthüllungen und Feststellungen über die Marine im Weltkriege“ zitiert.[16] 1926 hatte er im Reichstag resümiert: „Die geschichtliche Betrachtung der November-Ereignisse von 1918 muss eine grundlegende Änderung erfahren. Am Beginn der Ereignisse steht nicht die militärische Rebellion der Marinemannschaften, sondern die militärische Rebellion der Admiräle! Der Flottenvorstoß war der Dolchstoß der Seekriegsleitung in den Rücken der parlamentarischen Regierung des Prinzen Max von Baden, die auf dem Boden der Bismarckschen Reichsverfassung völlig legal gebildet worden war. Den Hoch- und Landesverrat der Admiräle durchkreuzte die Gegenaktion der Matrosen und Heizer für die verfassungsmäßige Regierung. Die Racheaktion der Admiräle, die nunmehr einsetzte, löste erst die revolutionäre Erhebung der Heizer und Matrosen aus, die zum Beginn der Revolution im Reiche wurde. Das Wort Goethes, dass Revolutionen stets von den alten Machthabern verschuldet sind, hat sich auch an den deutschen Marinemachthabern im Weltkriege im vollsten Maße bestätigt.“[17]
Mit den USPD-Mitgliedern war Dittmann schon am 29. Dezember 1918 als Volksbeauftragter zurückgetreten, weil die MSPD-Mitglieder mit Friedrich Ebert „sich völlig im Schlepptau der reaktionären Militärs befanden.“[18] Gustav Noske von der MSPD wurde einer seiner Nachfolger. Als Beauftragter für Wehrfragen war Noske an der Aufstellung der konterrevolutionären Freikorps beteiligt und ließ im Januar 1919 als Oberbefehlshaber ein Blutbad unter den Berliner Arbeitern (Januar-Aufstand) zu und liquidierte am 4. Februar 1919 die Bremer Räterepublik – mit dem inzwischen geflügelten Wort „Einer muss der Bluthund werden. Ich scheue die Verantwortung nicht“.[19] Und das in der Annahme, so den Bürgerkrieg verhindert zu haben. Schon am 15. Januar 1919 waren Luxemburg und Liebknecht von Offizieren der „Garde-Kavallerie-Schützen-Division“ mit Billigung durch den Volksbeauftragten und späteren Reichswehrminister Noske hinterrücks ermordet worden. Diese politischen Morde veränderten das politische Klima in Deutschland. Sie stürzten die Republik von Weimar schon in der Gründungsphase in eine schwere Krise und bewegen die politischen Gemüter bis heute – auch als dunkler Fleck in der Geschichte der Sozialdemokratie. Sie vertieften die Spaltung innerhalb der Arbeiterbewegung durch den Hinweis auf die „bolschewistische Gefahr“, wie Dittmann als Zeitzeuge konstatierte. „Noske und Ebert tragen die Verantwortung für die blutigen Vorgänge der Januar-Aufstände“[20] und seien auch für „bestialische Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verantwortlich.“[21]
Gegen das Reinwaschen Deutschlands von der Kriegsschuld
Das geschah zu einem Zeitpunkt, als die internationale Kriegsschulddebatte zur weiteren politischen Radikalisierung beigetragen hatte. Denn schon im November 1918 war Dittmann mit dem prominenten Cheftheoretiker der SPD vor 1914, Karl Kautsky, an der Gründung des Kriegsschuldreferats des Auswärtigen Amtes beteiligt. Sie waren so früh mit der Tatsache konfrontiert, das die Friedenskonferenz der Alliierten und Assoziierten in Versailles einen neuen, bislang unbekannten Rechtstatbestand in der Kriegsgeschichte einführte: Sie verweigerte ein Vergeben und Vergessen der Kriegsschuld. Diese sogenannte Oblivionsklausel („Frieden bewirkt Vergessen“), erstmals angewandt im Westfälischen Frieden von 1648, war durch die Haager Landkriegsordnung von 1907 gegen den Widerstand der deutschen Vertreter außer Kraft gesetzt worden. Damit wurde der Weg zu einer völkerrechtlichen Ächtung des Krieges eröffnet. Mit der Forderung der Alliierten, den deutschen Kaiser und deutsche Militärs auszuliefern und sie wegen Kriegsverbrechen von internationalen Tribunalen aburteilen zu lassen, wurde die strafrechtliche Ahndung von Verbrechen erstmals auf Staaten angewandt. Und dieser Zwang zur Rechtfertigung führte schon mit Beginn des Krieges zu einem deutschen „Weißbuch“ vom 4. August 1914 mit geheimen Aktenstücken und Denkschriften, um dem Vorwurf zu begegnen, Deutschland habe den Krieg als Angriffskrieg begonnen. Dem folgten zahlreiche Farbbücher als offizielle Dokumentenpublikationen der anderen beteiligten Kriegsmächte, alle geprägt –wie die deutschen – von Kürzungen und Entstellungen. Damit begann die bis heute anhaltende 100-Jährige deutsche Kriegsschulddebatte, die Werner Röhr jüngst noch einmal als deutschen Weg „Vom Weißbuch zum heutigen Geschichtsrevisionismus“ zum Thema machte.[22]
Sie kulminierte in einem Diktatfrieden, den die erste Reichsregierung unter Reichsministerpräsident Scheidemann nicht unterzeichnete und deshalb am 20. Juni 1919 zurücktrat. Erst die neugebildete Regierung unter Gustav Bauer unterzeichnete unter Protest und Vorbehalt den Friedensvertrag, der am 10. Januar 1920 in Kraft trat. Denn mit der Feststellung der Hauptverantwortung Deutschlands für den Krieg und den damit verbundenen exorbitanten finanziellen Forderungen als Urheber für alle Verluste und Schäden des Krieges begann der systematische Kampf aller deutschen Regierungen unter Federführung des Auswärtigen Amtes gegen den als „Kriegsschuldlüge“ bezeichneten Artikel 231 des Versailler Vertrages.
Als Mittler zwischen den Fronten waren Kautsky und Dittmann in dieser Situation überfordert, zumal Kautsky sich der Zensur des Auswärtigen Amtes beugte und sein druckfertiges Buch „Wie der Weltkrieg entstand“ – mit dem Aktennachweis, dass Deutschland diesen Krieg gewollt habe – erst nach der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages veröffentlichte.[23] Wie vergiftet das politische Klima schon damals war, verdeutlicht u. a. ein Beitrag des Bremer Kaufmanns und Kunstmäzens Ludwig Roselius aus dem Jahre 1919 zum Thema „Gegen Kriegsschuldlüge und Versklavung“. Der federführende Propagandist der „Ideen von 1914“ begann seinen Beitrag mit einem Angriff auf die Gegner der „Verteidigungslüge“: „Durch kein Beispiel könne die Verwirrung des deutschen Volkes in ein schärferes Licht gezogen werden als durch die Tatsache, dass in dem Geheimarchiv unseres Auswärtigen Amtes nach Ausbruch der Revolution wochenlang ein Feind unseres Volkes, Herr Karl Kautsky, gesessen habe, um Material über die Schuld Deutschlands im Krieg zusammenzutragen“[24].
Kautsky und Dittmann konnten als damalige Repräsentanten der USPD nicht verhindern, dass das deutsche Kriegsschuldreferat die gesamte offizielle und inoffizielle deutsche Propaganda gegen den Artikel 231 vor und nach dem Vertragsabschluss koordinierte und darüber entschied, welche Akten vom Auswärtigen Amt veröffentlicht werden durften. Das Kriegsschuldreferat sah fortan seine Hauptaufgabe darin, Dokumente zu sammeln und zu veröffentlichen, um den alliierten Vorwurf zu entkräften, Deutschland und Österreich hätten den Ersten Weltkrieg zielstrebig geplant und das Völkerrecht missachtet. Amtliche Publikationen wie die im Auftrag des Auswärtigen Amtes von Friedrich Thimme herausgegebene 40-bändige Aktenedition zur „Großen Politik der europäischen Kabinette“ und mehrere Zeitschriften zur Kriegsschuldfrage sollten dazu beitragen, „Deutschland vom Dogma der Alleinschuld vor der Welt zu rehabilitieren“.[25] Daran beteiligten sich nach 1918 neben renommierten Historikern wie Friedrich Meinecke, Otto Hintze, Hermann Oncken auch damals jüngere Historiker wie Hans Rothfels, Hans Herzfeld oder Gerhard Ritter, die später den Tabubruch von Fritz Fischer[26] bekämpften, um den für unantastbar erklärten Abwehrkonsens der „Kriegsschuldlüge“ erneut zu rechtfertigen.
Sie trugen mit dazu bei, dass die Erinnerung an Dittmanns Arbeit im Kriegsschuldreferat und im Reichstag unterdrückt wurde. Er gehörte ab 1933 zu der Minderheit der ins Exil vertriebenen und vergessenen Politiker und Wissenschaftler, die sich mit ihren Gutachten als erste in dieser verhängnisvollen und folgenreichen Kriegsschulddebatte gegen die Umcodierung der Erinnerung der Völker an diesen Krieg wandten. Die deutsche Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, verursacht durch subjektive Fehlentscheidungen der Militärs und Politiker, hatte Dittmann als Zeitzeuge und Reichstagsabgeordneter schon vor 1918 konstatiert. Die verfassungsgebende Nationalversammlung hatte ihn am 20. August 1919 zum Leiter des parlamentarischen Untersuchungsausschusses für die Schuldfragen ernannt, um auf die Vorwürfe der Militaristen mit einer Dokumentation zur „Obersten Heeresleitung und Waffenstillstandsangebot“ zu antworten. Mit dem Nachweis der deutschen Annexionsziele und der Zurückweisung der Dolchstoßlegende in dem von ihm geleiteten Unterausschuss des Reichstages zählte er zu denjenigen, die sich Morddrohungen ausgesetzt sahen.
Grund genug, um noch einmal an jene Kriegsgegner zu erinnern, die schon 1914 verfolgt und nach 1918 ermordet wurden oder, wenn sie – wie Dittmann – nicht rechtzeitig ins Exil gingen, 1933 im Konzentrationslager landeten. Wir verweisen neben Dittmann auf jene Gutachten zur Kriegsschuldfrage, die von Christopher Clark[27] nicht zur Kenntnis genommen wurden und die selbst Fritz Fischer weitgehend unbekannt blieben: So u.a. die Arbeiten von Kautsky, Kurt Eisner und Felix Fechenbach, Martin Hobohm, Eckart Kehr, Hermann Kantorowicz, Walter Fabian, W.F. Hallgarten oder Jürgen Kuczynski.[28] Alle diese kritischen Forschungen zum Ersten Weltkrieg wurden als zeitgebunden diskreditiert, als von „Nestbeschmutzern“ verfasst. Ein Schicksal, das den in den 1950er Jahren einsetzenden Forschungen der Fischer-Schule ebenfalls widerfuhr und das in den heutigen Debatten eines wieder auflebenden Nationalismus mit den neuen Bestsellern von Clark und Herfried Münkler eine Renaissance erlebt.
Mit seiner Interpretation der Ereignisse von 1917/18 konnte sich Dittmann in den Schulddebatten der Zwischenkriegszeit nicht durchsetzen. Er wurde als Nestbeschmutzer diskreditiert. Und dass an Dittmann auch im Gedenkjahr zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges nicht mehr erinnert wurde, gehört zu den Verdrängungen mit langfristigen politischen Folgen. Denn heute steht Clarks „deutschnationaler Bestseller“ (Arno Klönne) im Fokus. Dahinter verbirgt sich eine geschichtspolitische Weichenstellung: Der Versuch der konservativen Historiker, die in den 1980er Jahren noch missglückte Deutungshoheit über die deutsche Geschichte zurückzugewinnen.[29]
Gegen Faschismus und sozialdemokratisches Versagen
Der Autodidakt und Antimilitarist Dittmann war mit 44 Jahren Volksbeauftragter, Minister, geworden – als Vertreter der „radikalen Mehrheit“ aus den Reihen der Ostern 1917 nach dem Ausschluss aus der SPD gegründeten Kriegsgegner in den Reihen der USPD. Als einer der drei Vorsitzenden und Chefredakteur des Zentralorgans „Freiheit“ gehörte er dem Reichstag an, von 1920 bis 1925 als Vizepräsident. 1920 nahm er als einer der vier Delegierten am II. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau teil, kritisierte das bolschewistische Modell und sprach sich gegen den Anschluss der USPD an die Komintern aus. 1922 trat Dittmann in Nürnberg für die Wiedervereinigung der Restpartei mit der MSPD ein, nachdem die Mehrheit der USPD Anfang Dezember 1920 zur KPD gegangen war. Bis 1933 gehörte der Reichstagsabgeordnete dem Partei- und Fraktionsvorstand der SPD an. Er musste nicht nur den Zusammenbruch der ersten deutschen Republik erleben, sondern auch die Weigerung seiner Genossen, ihn nach 1945 am Aufbau der zweiten (westdeutschen) Republik zu beteiligen.
Als kurz vor der Reichstagswahl am 5.März 1933 der Naziterror seinen Höhepunkt erreichte, verließ Wilhelm Dittmann auf Empfehlung seines Parteivorstandes Deutschland und begab sich nach Zürich, wo er bei dem Sekretär der Sozialistischen Arbeiter-Internationale Friedrich Adler die weitere Entwicklung in Deutschland abwarten wollte, wie er am 13. März 1933 dem Rumpfvorstand der SPD in Berlin mitteilte. Der Vorstand hatte erfahren, dass die Nazis beabsichtigten, einige besonders prominente „November-Verbrecher“ und „Marine-Meuterer“ wie Scheidemann und Dittmann durch ein „Volksgericht“ zum Tode zu verurteilen und öffentlich hinrichten zu lassen. Hatte die SPD-Fraktion sich noch im März 1933 dem Ermächtigungsgesetz verweigert, so stimmte sie am 17. Mai 1933 der ‚Friedenresolution‘ Hitlers zu. Am 19. Juni 1933 fasste die SPD-Reichskonferenz unter Leitung von Paul Löbe den Beschluss, die Exilanten um Dittmann, Breitscheid und Scheidemann auszugrenzen und die Juden wie Hilferding aus dem Vorstand zu entfernen – wenige Tage, bevor die SPD am 22. Juni 1933 verboten wurde.[30]
Diese Anpassungspolitik veranlasste Dittmann im Exil, die Kritik am SPD-Parteivorstand zum Aufhänger seiner „Erinnerungen“ zu nehmen und den „geraden Weg der SPD in die Kapitulation“ zu beschreiben. Einer solchen Partei könne er nicht mehr angehören, schrieb zum gleichen Zeitpunkt der Freund aus den Reihen der kritischen SPD-Genossen, Hermann Brill, der spätere Mitverfasser des „Buchenwalder Manifestes“ von 1945 und einiger Länderverfassungen und des Grundgesetzes der BRD, weil seine „Partei auf ihrer letzten Reichskonferenz vom 26. April 1933 immer noch der Nation und dem Sozialismus“ dienen wollte und deshalb am 17. Mai 1933 dem außenpolitischen Programm Hitlers zustimmte – gegen die Stimmen zweier Frauen, nämlich Louise Schröder aus Kiel und Antonie Pfülf aus München, die sich nach diesem Verrat der Genossen am 8. Juni 1933 das Leben nahm.[31]
Diese Kritik teilte Dittmann zusammen mit Willy Brandt und Wilhelm Hoegner, dem ersten Ministerpräsidenten in Bayern nach 1945. Aber sie blieben trotz scharfer Kritik Mitglieder ihrer Partei oder baten nach 1945 um Wiederaufnahme. Sie waren mit Dittmann davon überzeugt, „die Idee des demokratischen Sozialismus, der ich vier Jahrzehnte gedient habe“, nach 1945 mit der neuen Generation wieder aufzunehmen. Aber wer „aus der chaotischen Gegenwart den Weg in die Zukunft freilegen“ will, der muss „die Geschichte und Tradition der sozialdemokratischen Bewegung“ kennen, um „ihre Aufgabe zu erkennen und zu erfüllen. Ihr dabei behilflich zu sein, mag meiner vorliegenden Darstellung vergönnt sein“, schrieb Dittmann am 1. August 1947 in dem Vorwort zu seinen „Erinnerungen“.
Die von ihm im Schweizer Exil verfassten „Erinnerungen“ gehören zu den an Umfang und Intensität herausragenden, vorzüglich dokumentierten Memoiren zur Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Fast 2.000 Seiten in drei Bänden vom „Internationalen Institut für Sozialgeschichte“ in Amsterdam 1995 veröffentlicht. Der Exilvorstand der SPD in Prag hatte Dittmann beauftragt, Erinnerungen über seine Arbeit vorzulegen, die jedoch wegen der Kritik an den Fehlern seiner Partei in den Anfangs- und Endjahren der Weimarer Republik vom Vorstand nach 1945 nicht akzeptiert wurden. Politisch isoliert und von großen Finanznöten geplagt, ging er im Exil der Aufgabe nach, noch einmal anhand seiner umfangreichen Akten die Ereignisse aufzuarbeiten, die 1933 zur Niederlage der Arbeiterbewegung führten und die auch auf Versäumnisse der deutschen Sozialdemokratie in den Anfangsjahren der Republik mit zurückzuführen waren. Dabei widmete er der historischen Schuld von Ebert und Noske seine Aufmerksamkeit.[32] Vier Jahrzehnte Partei- und Reichsgeschichte berühren in seinen Memoiren eine Vielfalt von Themen, die nicht nur für ihn eine zentrale Rolle spielten, sondern besonders eindrucksvoll thematisieren, wie das Ende der Republik von Weimar schon durch den Verlauf der Revolution von 1918/19 mit verursacht wurde. Sein gleichfalls ins Exil vertriebener Mitstreiter im Vorstand der SPD, der Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding, hatte am 23. September1933 von Amsterdam aus in Übereinstimmung mit Dittmann an den großen Repräsentanten der alten SPD, Kautsky in Wien, geschrieben: „Unsere Politik in Deutschland war seit 1923 sicher im Ganzen und Großen durch die Situation erzwungen und konnte nicht viel anders sein. … Aber in der Zeit vor 1914 und erst recht nach 1918 bis zum Kapp-Putsch war die Politik plastisch, und in dieser Zeit sind die schlimmsten Fehler gemacht worden“[33]
Auch der eher dem rechten Flügel der Partei zuzuordnende erste Reichsministerpräsident der Weimarer Republik Scheidemann kritisierte im dänischen Exil dieses Versagen der sozialistischen Arbeiterbewegung scharf. Das Verhalten des Rumpfvorstands der SPD und der Vorstände der Gewerkschaften sei „kläglich und zum Erbarmen gewesen“. Er resümierte: Ihre „Versuche, einen modus vivendi mit Hitler zu finden“, stünden „beispiellos da in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung.“[34] Der Selbstbesinnungsprozess des einstigen Vorsitzenden der SPD blieb nach 1945 lange ungehört, zumal es der SPD-Führung bis 2002 gelang, die Veröffentlichung der Exilschriften von Scheidemann ebenso zu verhindern wie zuvor schon jene von Dittmann.
Um in Zürich überleben zu können, sah sich Dittmann gezwungen, seine umfangreichen, einmaligen Archivbestände zur Geschichte der deutschen und internationalen Sozialdemokratie zu verkaufen. Weihnachten 1935 unterzeichnete er einen Kaufvertrag, mit dem er sein gesamtes Archiv und seine politische Bibliothek dem einzigen Interessenten, dem zentralen Parteiarchiv der KPdSU in Moskau, überließ. So gewann er die finanziellen Mittel, um Teile seiner Erinnerungen im Ausland zu publizieren und einige seiner Veröffentlichungen u.a. im Europa Verlag Zürich/New York unterzubringen.[35]
Schon 1939 hatte er zwei 1919 ermordeten ehemaligen Parteifreunden der SPD und Gründern der KPD eine Abhandlung gewidmet: „Zwei Märtyrern der Arbeiterklasse. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Gedächtnis“.[36]
Im Internationalen Beirat der Zentralvereinigung deutscher Emigranten in Amsterdam engagierte sich Dittmann für die Hilfe und Förderung der politisch Verfolgten aus Deutschland. Und in Zusammenarbeit mit den Freunden im Schweizer Exil (Wilhelm Hoegner, Arthur Crispien, Marie Juchacz, August und Anna Siemsen) übernahm er im März 1936 im Pariser Lutetia-Kreis das Mandat für die deutschen Sozialisten in der Schweiz und trug so zur Gründung des Ausschusses zur Vorbereitung der Deutschen Volksfront in Paris bei. Eine Volksfront, die das nachholte, was nach Dittmanns Überzeugung 1932/33 in Deutschland wegen der Ereignisse von 1918/19 nicht zustande gekommen war: Ein Bündnis aller antifaschistischen Kräfte aus den Reihen der Arbeiterbewegung und des freiheitlichen Bürgertums, dem sich in Paris 118 deutsche Mitglieder und Organisationen unter der Präsidentschaft von Heinrich Mann und dem Sekretariat von Willi Münzenberg angeschlossen hatten.[37] Darunter prominente Schriftsteller des Exils wie Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig und Klaus Mann oder Politiker wie Rudolf Breitscheid, Willy Brandt, Walter Fabian, August Frölich, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Toni Sender oder Anna Siemsen.[38]
Nach 1945: Ausgegrenzt
Nach 1945 setzte sich Dittmann in Zürich mit Brandt dafür ein, dass die SPD wieder Mitglied der Sozialistischen Arbeiter Internationale (SAI) wurde. Der von den Sozialdemokraten im Exil und im KZ kritisierte „gerade Weg der SPD in die Kapitulation von 1933“[39] hatte dazu geführt, dass die SPD aus der SAI ausgeschlossen worden war. Kurt Schumachers Antrag auf Wiederaufnahme der SPD wurde 1947 zunächst verworfen, dann aber durch die Intervention ausgerechnet der beiden Exilvertreter (Brandt für Norwegen und Dittmann für die Schweiz) befürwortet. Beide hatten bis dahin vergeblich um eine politische Tätigkeit beim SPD-Parteivorstand in Hannover nachgesucht.[40]
Nur wenige der kritischen Repräsentanten des Exils kamen nach 1945 in Westdeutschland zum Zuge, dagegen eher die von Scheidemann, Dittmann, Brandt, Brill, Fabian oder Franz L. Neumann kritisierten, in Deutschland überlebenden Vertreter in den Gewerkschaften und der SPD. Und das auch dann, wenn sie für die Niederlage von 1933 Mitverantwortung trugen oder gar Mitarbeiter der Nazis geworden waren und mit der Gestapo kooperiert hatten, u.a. Herbert Kriedemann als engster Mitarbeiter von Schumacher im SPD-Vorstand nach 1945 oder Walther Pahl als erster Chefredakteur der „Gewerkschaftlichen Monatshefte“. Er ließ als Leiter der Zentralstelle für den Freiwilligen Arbeitsdienst beim ADGB am 1. Mai 1933 verlauten, „Der Nationalsozialismus förderte und verwirklichte jetzt die Einheit der Nation, um auf diesen breiten und festen Fundament den deutschen Sozialismus aufzubauen.“[41]
Dittmann hatte dagegen lange vor 1933 vor den Gefahren des Nationalsozialismus gewarnt. Aber er musste erleben, dass nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten entschiedenes gemeinsames Handeln seitens der Arbeiterbewegung ausblieb, und dass auch ihre stärkste Säule, die Gewerkschaften, kampflos kapitulierten und die meisten Schulen, Volkshochschulen und Universitäten sich ohne Widerstand gleichschalten ließen.
Als Dittmann Anfang März 1933 Berlin fluchtartig verlassen musste und Carl von Ossietzky neben zahlreichen prominenten Sozialisten und Kommunisten verhaftet wurde, biederte sich Noske, der ehemalige innenpolitische Gegner aus den eigenen Reihen als damaliger Hannoveraner Oberpräsident den Nazis an: „Sie mögen ihn doch im Amte lassen, ihn wenigstens bis zum Oktober beurlauben, da er dann ja sowieso die Altersgrenze erreichte habe“. „Wenn das stimmt“, so die „Weltbühne“ in der letzten Ausgabe auf der letzten Seite vor ihrem Verbot im März 1933, „fragen wir dich: Wie lange willst Du eigentlich noch diesen Mann, der den ersten Spatenstich zum Grabe der Republik getan hat, in deinen Reihen dulden?“ (29. Jg., 1933, S. 375)
Nach 1945 gab es lange keine Versuche der SPD, Wilhelm Dittmann, den Gründungsvater der Republik von Weimar, aus dem Züricher Exil zurückzurufen, sei es als Minister, als Chefredakteur der Parteizeitung oder als Sekretär zum Aufbau einer Landesorganisation oder als Leiter der Parteischule. Auch aus Eutin kam keine Aufforderung oder Einladung zur Rückkehr. Erst 1951 rief die SPD den in Zürich verarmten und kranken Genossen Dittmann zurück, fand aber keine politische Verwendung für ihn. Der SPD-Vorstand speiste den langjährigen Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion (1922-33) mit einem Posten im Parteiarchiv ab. Und sie weigerte sich, seine umfangreichen Erinnerungen zu veröffentlichen. Allzu deutlich hatte er dort den Anpassungskurs der SPD-Führung von 1933 ebenso kritisiert wie den von 1914, als sich die SPD und die Gewerkschaften auf einen „Burgfrieden“ mit den politisch-militärischen und wirtschaftlichen Eliten einließen. Der Glaube an den „Verteidigungs“-Charakter der deutschen Kriegsführung und die Erwartung, eine kriegsloyale Sozialdemokratie werde nun endlich allgemeine gesellschaftliche Anerkennung finden, führten zu dieser Fehleinschätzung von 1914, die die Spaltung der Partei zur Folge hatte. Und so konnte Kaiser Wilhelm II. verkünden, er kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. „Bruder Hitler“ (Thomas Mann) sollte diese fiktiven seelischen Verbindungen von Volk und Führer im völkischen Staat, in „Hitlers Volksstaat“ (Götz Aly) noch einmal überhöhen.
Wilhelm Dittmann starb am 7. August 1954 in Bonn. In seiner Heimatstadt Eutin wurde im Jahre 1980 eine Straße nach ihm benannt.
[1] Wilhelm Dittmann, Eutiner Erinnerungen, in: Karl Broschkol/Johann Ratkamp, Denkschrift. Geschichtlicher Überblick über die Vereins- und Organisationsgeschichte der Eutiner Arbeiterschaft. Eutin 1929, S. 41-46. Zu Dittmanns Eutiner Jahren siehe auch Wilhelm Dittmann, Erinnerungen. Bearbeitet und eingeleitet von Jürgen Rojahn. Frankfurt/New York 1995, Band 1, S. 3-49 (im Folgenden: „Erinnerungen“). Vgl. auch Volker Jacobsen, Ein gebürtiger Eutiner: Wilhelm Dittmann (1874-1954) – Entschiedener Demokrat und Sozialist. In: Jahrbuch für Heimatkunde, Eutin 1994, S. 87-91; Uli Schöler, Verrat oder Versagen der Revolution? Wilhelm Dittmanns Erinnerungen, in: ders., Herausforderungen an die Sozialdemokratie, Essen 2016, S. 247-253.
[2] Wilhelm Dittmann, Pflicht zur Wahrheit. In: Freiheit, Nr. 32 vom 8.9.1920.
[3] Vgl. dazu den Brief von Rosa Luxemburg an Dittmann vom 23. Mai 1911, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 4. Berlin 2001, S. 63-65.
[4] Johannes Fischart (d.i. Erich Dombrowski), Das alte und das neue System. Die politischen Köpfe Deutschlands, Berlin 1919, S. 369.
[5] Theodor Lessing, Et si omnes ego non: Krieg und Armut. Vorspiel der Philosophie der Not (1914). Nachdruck der unveröffentlichten Reden Lessings im Winter 1914/15 in der TH Hannover, in: Theodor Lessing, Wir machen nicht mit! Schriften gegen Nationalismus und zur Judenfrage, hrsg. von Jörg Wollenberg, Bremen 1997, S. 39.
[6] Vgl. Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 66.
[7] Vgl. George F. Kennan, Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875 bis 1890, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1981, S. 11f.; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20 Jahrhunderts, München 1995.
[8] Vgl. u.a. Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016; S. 13f.; Jörg Wollenberg, Vom Ersten zum Zweiten Dreißigjährigen Krieg, in: ders., Die andere Erinnerung. Spurensicherung eines widerständigen Grenzgängers, Bremen 2017, S. 341-352.
[9] USPD: Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands; MSPD: Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands.
[10] Erinnerungen, a.a.O., Bd.2, S. 419-422; zur Gründung der USPD: S. 499-508.
[11] Erinnerungen, a.a.O., Bd. 2, S. 571.
[12] Ebd., S. 525-533, und vor allem: Wilhelm Dittmann, Die Marine-Justizmorde von 1917 und die Admirals-Rebellion von 1918, Stuttgart 1926, S. 6ff.
[13] Ebd., S. 22ff.
[14] Ebd., S. 5.
[15] Vgl. Anm. 14.
[16] Erinnerungen, a.a.O., Bd. 3, S. 903-935.
[17] Wilhelm Dittmann, Marine-Justiz-Morde von 1917, a.a.O., S. 104.
[18] Erinnerungen, a.a.O., Bd. 2, S. 611.
[19] Gustav Noske am 6. Januar 1919. In: ders., Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1920, S. 68; Wolfram Wette, Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1988.
[20] Erinnerungen, a.a.O., Bd. 2, S. 564ff, 884-892.
[21] Ebd. S. 642-644.
[22] Werner Röhr, Hundert Jahre Kriegsschulddebatte. Vom Weißbuch 1914 zum Geschichtsrevisionismus, Hamburg 2015; Lothar Wieland, Die Verteidigungslüge. Pazifisten in der deutschen Sozialdemokratie 1914-1918, Bremen 1998.
[23] Karl Kautsky, Wie der Weltkrieg entstand, Berlin 1919, S. 90f.; eine überarbeitete Sammlung der von Kautsky zusammengestellten amtlichen Aktenstücke des AA erschien ebenfalls 1919 mit einigen Ergänzungen nach Durchsicht von Kautsky herausgegeben von Max Montglas und Walter Schücking.
[24] Ludwig Roselius, Briefe und Schriften zu Deutschlands Erneuerung, Oldenburg 1933, S. 167.
[25] Anneliese Thimme (Hrsg.), Friedrich Thimme 1868-1938. Ein politischer Historiker, Publizist uns Schriftsteller in seinen Briefen, Boppard am Rhein 1994, S. 228 (Brief vom 28.4. 1924).
[26] Vgl. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1961.
[27] Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.
[28] Vgl. dazu neben W. Röhr (Anm. 24) u.a. Jörg Wollenberg, Wie die hineingeschlitterten Schlafwandler die Kriegsschuld entsorgten, in: ders., Die andere Erinnerung, a.a.O., S. 199-208.
[29] Siehe dazu u.a. Volker Ullrich, Nun schlittern sie wieder, in DIE ZEIT, Nr.4, 16.1.2014; Hans-Ulrich Wehler, Beginn einer neuen Epoche der Weltgeschichte, in: FAZ, 6.Mai 2014, S. 10.
[30] Vgl. u.a. Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930-1933, Berlin 1987, S. 907-954. Auch dieser Verleugnungskurs bewahrte die Kapitulanten von 1933 nicht vor dem KZ. Im August 1933 wurde Paul Löbe in das KZ Dürrgoy bei Breslau eingeliefert. Von der SA verhöhnt und von einer Schalmaienkapelle begleitet, musste er mit einem Strauß von Disteln in der Hand ein Spalier der vor ihm verhafteten Kommunisten und Sozialdemokraten abschreiten (vgl. vorwärts 11/2006).
[31] Antje Dertinger, Dazwischen liegt nur der Tod. Leben und Sterben der Sozialistin Antonie Pfülf. Berlin 1984; Jörg Wollenberg, Das Widerstandswerk um Hermann Brill, in: ders., Die andere Erinnerung, a.a.O., S. 215-224.
[32] Erinnerungen, a.a.O., Bd. 2, S. 631ff, 708ff, 881ff.
[33] Zitiert nach Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik, Würzburg 1978, S. 7.
[34] Philipp Scheidemann, Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil, Lüneburg 2002, S. 150-160.
[35] Wilhelm Dittmann, Das politische Deutschland vor Hitler. Nach dem amtlichen Material des Statistischen Reichsamtes in Berlin, Zürich-New York 1947; Wilhelm Dittmann, Der deutsche Zusammenbruch 1918. Diese Auszüge aus dem Memoirenmanuskript erschienen als Erstdruck in: Volksrecht, Sozialdemokratisches Tageblatt, Zürich 1945, Nr. 85 bis Nr. 97 (12. - 27. April 1945).
[36] Rote Revue, Sozialistische Monatsschrift, Zürich 1939, Nr. 5 (Januar), S. 172-178.
[37] Die in Ahrensbök geborene zweite Frau von Heinrich Mann, Nelly Kröger, arbeitete damals in Paris als Mitarbeiterin des Sekretariats der Volksfront (Siehe Jörg Wollenberg, Die andere Erinnerung; a.a.O., S. 342.)
[38] Vgl. Ursula Langkau-Alex, Deutsche Volksfront 1932-1939. Berlin 2004, Band I, S. 117ff, 121, 129ff, 331; Bd. II, S. 12, 147, 226, 259; Bd. III, S. 229-232.
[39] Vgl. Manfred Overesch, Hermann Brill. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992, S. 232.
[40] Willy Brandt, Links und frei. Mein Weg 1930-1950, Hamburg 1982, S. 192, 417ff.
[41] Walther Pahl, Der Feiertag der Arbeit. In: Gewerkschafts-Zeitung, Nr.17 vom 29. 4. 1933, S. 259.