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Passive Revolution als Epochenbegriff / Alle Buchbesprechungen

von Sabine Kebir zu André Tosel
September 2018

Passive Revolution als
Epochenbegriff

André Tosel, Étudier Gramsci. Pour une critique continue de la révolution passive capitaliste, Éditions Kimé, Paris 2016, 345 S., 28,00 Euro

In Frankreich kam nie eine vollständige Ausgabe der Gefängnishefte Antonio Gramscis zustande, weshalb seine Rezeption hier sporadisch blieb. Kontinuierlich mit Gramsci beschäftigt hat sich nur der im März dieses Jahres verstorbene André Tosel. 2016 legte er das Buch Étudier Gramsci (Gramsci studieren) vor, dem eine gründliche Durchdringung des Gesamtwerks zugrunde liegt. Im Unterschied zu vielen Arbeiten zu Gramsci, die sich abstrakt an immer wieder denselben Leitbegriffen der Gefängnishefte abarbeiten, bemühte sich Tosel, der selbst Philosoph war, die Entwicklung von Gramscis Denken konkret sowohl in die zeitgenössischen philosophischen als auch historisch-politischen Zusammenhänge zu setzen. Und durch die Einbeziehung von Gramscis vor der Haft entstandenem, umfangreichen, hauptsächlich journalistischem Werk, gelang es Tosel, ein im Vergleich zu anderen Studien weniger kompliziertes und zugleich komplexeres Bild von Gramscis Theorien und ihren aktuellen Seiten herauszuarbeiten.

Dass Gramsci die Oktoberrevolution in seinem berühmten Artikel Die Revolution gegen das Kapital als praktische Überwindung einer mechanistisch erstarrten pseudo-marxistischen Formationstheorie feierte, führt Tosel vor allem auf den Einfluss des „Aktualismus“ von Giovanni Gentile zurück. Dieser gab dem „Akt“, dem praktischen Handeln, absolute Priorität, wenn auch in unhistorischer, rein subjektiver Form, während Gramsci konkret die sich in Bewegung setzenden Volksmassen und ihre Gegenkräfte im Auge hatte, deren Kampf neue geschichtliche Tatsachen schuf. Dass die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln in Sowjetrussland keineswegs sofort die ganze Gesellschaft umwälzte, bestätigte und befestigte seine Skepsis gegenüber dem mechanisch-materialisti-schen Weltbild, das im zeitgenössischen Marxismus vorherrschte.1 Und wenn er 1924 bereits erkannte, dass die revolutionäre Welle endgültig abgeebbt war und der Weg zum Sozialismus langfristig und mit vielen Widersprüchen behaftet sein würde, so führt Tosel das nicht nur auf Gramscis Analyse des Misserfolgs der putschistischen Strategie des Hamburger Aufstands der KPD (1923) und der Machtergreifung des Faschismus in Italien (1922) zurück, sondern auch auf seine offenbar sehr detaillierte Beobachtung der widersprüchlichen Entwicklung der Sowjetunion und der Strategie der Komintern: Die Rätebewegung als Form der Diktatur des Proletariats war eben nicht nur in Turin, wo die Revolution ausblieb, gescheitert, sondern vermochte sich auch in der postrevolutionären Sowjetunion nicht als Basis der Entwicklung zu halten. Wenn auch unter ganz unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen, so würde sich eine sozialistische Strategie sowohl in Russland als auch im „Westen“ nur in Formen von Bündnispolitik entwickeln: In Russland waren bürgerliche Schichten für die Errichtung der industriellen Basis unverzichtbar, und schließlich konnte die Ernährung nur durch ein Bündnis mit den Bauern sichergestellt werden. Im Westen war die Einheitsfront der Arbeiterklasse, d. h. das Bündnis zwischen Kommunisten und Sozialisten – die sich gerade voneinander getrennt hatten – erforderlich, um dem Vormarsch des Faschismus entgegenzutreten. Gramsci schreibt 1926 in der Süditalienischen Frage, wenn überhaupt gesellschaftlicher Fortschritt in Gang kommen solle, bedürfe auch das Proletariat in Italien – und verallgemeinert im „Westen“ – eines Bündnisses mit den Bauern und den Intellektuellen. Dass er ausdrücklich auch auf letztere rekurrierte, führt Tosel zu recht auf Gramscis Schulung durch den Idealismus Benedetto Croces zurück, dessen Schlagwort von der notwendigen „ethisch-moralischen Reform“ er allerdings nicht wie dieser auf die Modernisierung und Europäisierung der italienischen Eliten bezieht, sondern auf die Perspektive einer solidarischen Gesellschaft, die, solange die Arbeiterklasse keine Machtbasis hat, nur kulturell-politisch voranschreiten kann, nicht aber ohne Programme der angestrebten ökonomischen und rechtlichen Umwälzungen.

Laut Tosel ging Gramsci im Unterschied zu den schlichten, einen geradlinigen Fortschritt erwartenden Strategien der meisten damaligen KP-Führer davon aus, dass man die Zukunft nicht vorhersehen könne, sondern „mit der Spezifik der Konjunkturen rechnen muss, in denen sich bestimmte Bedingungen der kollektiven Willensbildung formen, die entweder aus relativ stabilen Herrschaftsbeziehungen entstehen oder aus einer Widerstandsbewegung, die diese Beziehungen verschiebt und umwirft“ (44). Es war dann auch Gramscis eigene historische Erfahrung, die dazu führte, dass die Gefängnishefte die Beziehungen zwischen Basis und Überbauten als Kräfteverhältnis mit äußerst dynamischen Strukturen beschreiben, ausgehend von Marx’ Feststellungen, dass eine Ordnung nicht untergeht, bevor sie nicht ihr ganzes Potential erschöpft hat und dass eine Ideologie zur materiellen Gewalt werden kann, wenn sie die Massen ergreift.

Nicht nur für Frankreich relevant ist Tosels Analyse von Gramscis Betrachtungen zur französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Gramsci konstatiert, dass die 1789 an die Macht gekommene Bourgeoisie bis zum Einschnitt von 1871 die Assimilationskraft besaß – z. B. durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und des laizistischen Schulwesens –, alle gesellschaftlichen Schichten bis hin zum Proletariat politisch an sich zu binden. Das drückte sich auch darin aus, dass Revolten und Aufstände die jakobinische Form imitierten. Gramsci bezeichnet diese Epoche als „permanente Revolution“ des Bürgertums. Da für ihn die Assimilationsfähigkeit einer Klasse das zentrale Kriterium ihrer Hegemoniefähigkeit ist, stellt für ihn – anders als für Marx – die Pariser Commune weniger den Anfang einer neuen Epoche dar, als den Endpunkt der „permanenten Revolution“ des französischen Bürgertums. Von nun an kämpft das Proletariat um die Hegemonie, die das Bürgertum aber noch erfolgreich verteidigt: Es beginnt die instabile Epoche der „passiven Revolution“, in der der Arbeiterklasse ständig politische und ökonomische Zugeständnisse gemacht werden müssen, während ihr bereits bestehende Errungenschaften auch wieder genommen werden können, z. B. durch den Faschismus oder – um ein aktuelles Beispiel zu nennen – den Abbau des Sozialstaats. Es geht vor allem um eins: Die Arbeiterklasse soll keine Entscheidungsrechte hinsichtlich der Produktion und Verteilung von Gütern und von Investitionen und Gewinnen erhalten.

Es ist vielleicht die interessanteste Erkenntnis Tosels, dass Gramscis Begriff der „passiven Revolution“ nicht nur auf einzelne Reformen der Herrschenden zielt, wie z. B. Bismarcks Einführung eines embryonalen Sozialstaats, sondern auf die ganze 1871 einsetzende und bis heute andauernde Epoche. Obwohl die Hegemonie der Bourgeoisie immer wieder infrage gestellt wird, gelingt es ihr, wie Gramsci schon 1926 feststellte, selbst in schwersten „Krisenmomenten viel mehr regimetreue Kräfte zu organisieren, als es die Tiefe der Krise ahnen lassen würde.“2

Kennzeichen der passiven Revolution ist die durch ökonomische und vor allem auch gigantische kulturelle und politische Manipulation erzeugte politische Passivität der Beherrschten. Zwischen den antagonistischen Klassen herrscht „Stellungskrieg“. Überwinden die Subalternen die politische Passivität, kann es zum „Bewegungskrieg“ kommen, der zur solidarischen Umgestaltung der ökonomischen und juristischen Institutionen führt, dessen Form und Tempo sich jedoch nicht vorhersagen lässt. Sicher ist nur: Die jakobinische Form, die in der Oktoberrevolution noch einmal zur Anwendung kam, weil die herrschende Klasse im alten Russland noch nicht über die gewaltigen hegemonialen Reserven verfügte wie der westeuropäische Kapitalismus, ist auch deshalb passée, weil sie, was Gramsci bereits befürchtete, nicht in einen Reifungsprozess mündete, in dem die staatlichen Funktionen nach und nach von der Zivilgesellschaft übernommen werden, sondern in Autoritarismus, Bürokratismus und „Staatsvergottung“.

Damit sind die Themen von Tosels Buch nicht erschöpft. Es enthält u. a. eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Kritik Louis Althussers an Gramsci. Angesichts aktueller Diskussionen dürfte auch die Darstellung interessieren, wie Gramsci das Verhältnis zwischen Nation und Internationalismus sah, in dem auch der Hegemoniebegriff eine Rolle spielt.

Sabine Kebir

Zur Aktualität von Nicos Poulantzas

Tobias Boos, Hanna Lichtenberger, Armin Puller (Hrsg.), Mit Poulantzas arbeiten … um aktuelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, VSA, Hamburg 2017, 255 S., 18,80 Euro.

Dass Nicos Poulantzas (1936-1979) ein bis heute inspirierender und auch für Analysen der Gegenwart anschlussfähiger Staatstheoretiker[1] ist, beweist – nach den Sammelbänden Poulantzas lesen[2] (2006) und Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas[3] (2010) – auch dieser, nach längerer Wartezeit erschienene Band.

Die beteiligten AutorInnen gewähren in insgesamt neun Artikeln Einblick in ihre Arbeit mit Poulantzas und bieten so eine Grundlage für eigene Analysen, ohne einen bestimmten Weg vorzugeben.

Die Einleitung der Herausgeber ist ein beachtenswerter Fundus zur internationalen Rezeptionsgeschichte Poulantzas’ und zeichnet kurz und knapp die bis heute andauernde Auseinandersetzung mit dessen Werk in ihren Wellen und Konjunkturen nach.

Die Beiträge von Roland Atzmüller (Staatstransformation und Arbeitsteilung), Alex Demirović (Kapitalistischer Staat, Hegemonie und demokratische Transformation zum Sozialismus), Bob Jessop (Poulantzas über den Imperialismus), Hans Pühretmayer (Zur materialistischen Wissenschaftstheorie in Nicos Poulantzas‘ Gesellschaft- und Staatstheorie) sowie Armin Puller (Struktur und Strategie in der Reproduktionsproblematik von Poulantzas) sind in erster Linie mit der Rekonstruktion einzelner Aspekte des thematisch weitreichenden Werkes von Poulantzas beschäftigt. Es geht um Begriffsarbeit und Erläuterung von Konzepten wie dem des Blocks an der Macht u.v.m. Dabei wird der Anschluss an aktuelle politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzungen hergestellt; die Beiträge sind also nicht bloße Fingerübungen von ausschließlich ideen- und theoriegeschichtlichem Interesse.

Diesen Aufsätzen folgen vier Analysen im engeren Sinne. Alexander Gallas entwirft, aufbauend auf seiner Dissertation[4], einen Forschungsrahmen zur Analyse des Thatcherismus aus klassentheoretischer Perspektive. Er stellt fest, dass der Thatcherismus „ein erfolgreiches klassenpolitisches Regime“ war, das „zur Erneuerung kapitalistischer Klassenherrschaft in Großbritannien“ (175) führte.

Lukas Oberndorfer führt anhand Griechenlands vor Augen, welche Auswirkungen der seit einigen Jahren forcierte Autoritäre Wettbewerbsetatismus (ein vom Autor entwickeltes Konzept, das Poulantzas’ Konzept des Autoritären Etatismus aktualisiert) und die damit verbundenen Kräfteverhältnisse im EU-Raum für die Demokratie und konkret das linke Regierungsbündnis in Griechenland hatten und haben. Dass der Autoritäre Wettbewerbsetatismus dabei keine stabilen, geschweige denn hegemonialen Verhältnisse hervorbringt, wird auch deutlich anhand der Erfolge anderer linker Bewegungen und Parteien, wie in Großbritannien.

Stefan Pimmer beschäftigt sich mit der Frage der relativen Autonomie des Staates in der Peripherie, insbesondere in Bolivien. Dabei bezieht er auch Überlegungen von René Zavaleta (1937-1984), einem bolivianischen Politiker und Sozialwissenschaftler, und von Luis Tapia (Prof. für politische Philosophie an der Universidad Mayor in La Paz) ein. Pimmer stellt fest, dass Poulantzas Annahmen und Theorien nicht dazu führen dürfen, von einer allgemein gültigen inhaltlichen Bestimmung von Staat auszugehen, die sich auf alle Kontinente übertragen ließe. Stattdessen gelte es, die grundsätzlichen Verschiedenheiten von metropolitanen und peripheren Staaten zu berücksichtigen. Gleiches gelte für die Fragen der konkreten Materialität von Staatlichkeit (228).

Den Band beschließt Alke Jenss, die eine Analyse von Staatlichkeit und Gewaltverhältnissen im latein-amerikanischen Kontext vorlegt. Auch hier werden nützliche Differenzierungen und theoretische wie empirische Anregungen geliefert, die es ermöglichen, der realen Vielfältigkeit der Verhältnisse auf die Spur zu kommen.

Der Sammelband erweitert die Bandbreite der Poulantzas-Einführungen. Er bietet Grundlagen für Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und hilft, deren Komplexität über die Grenzen Europas hinaus zu verstehen.

Sebastian Klauke

Fossiles Kapital, die Dampfmaschine und der Klimawandel

Andreas Malm, Fossil Capital: The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming, Verso, London/New York 2016, 496 S., £ 14.00

In seiner ersten großen ökosozialistischen Arbeit untersucht der schwedische Humanökologe Andreas Malm die historischen Ursachen für die Entstehung des Klimawandels. Sein Fazit: Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse haben im 19. Jahrhundert insbesondere in Großbritannien, wo 1825 80 Prozent der globalen CO2-Emissionen und 1850 noch 62 Prozent emittiert wurden, eine neue Form der Energieproduktion hervorgebracht. Sie basiert auf der Dampfmaschine und der Verbrennung fossiler Energien, zunächst vor allem von Kohle, und hat den Privateigentümern der Produktionsmittel nicht nur große Profite ermöglicht, indem der Einsatz der neuen Produktivkräfte die Arbeitermassen disziplinierte und die Kontrolle über sie erhöhte. Sie hat auch die CO2-Emissionen rasant ansteigen lassen und damit den Grundstein für den Klimawandel gelegt.

Mit dieser öko-operaistischen Linie grenzt Malm seine Interpretation ausdrücklich von drei anderen Narrativen ab, die den wissenschaftlichen Diskurs zur Entstehung der Dampfmaschine und des Klimawandels derzeit bestimmen: 1. dem „ricardianisch-malthusianischen Paradigma“ (24), 2. verschiedenen Lesarten des „Anthropozäns“ (27) und des „technologischen Determinismus“ (35). Diese führten die sozialen und technischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts wahlweise auf Ressourcenknappheit und Überbevölkerung, spezifische Eigenschaften der menschlichen Spezies oder die Naturbeherrschung mittels Technik zurück.

Malm hingegen analysiert – methodologisch in der Tradition bester marxistischer Geschichtswissenschaft – die konkrete historische Konstellation in ihrer Zeit, wie sie „sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens“ (Benjamin) darstellt. Die Einführung der mit Kohle betriebenen Dampfmaschine als Herzstück des fossilen Kapitalismus ist daher für ihn unter den „unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx) keine historische Notwendigkeit gewesen. Warum sie sich trotzdem durchgesetzt hat, erklärt Malm fulminant.

Zunächst sprach einiges dafür, dass die „proto-fossile Ökonomie“ (48) Englands, in der zwischen 1560 und 1720 Kohle überwiegend in den privaten Haushalten verfeuert wurde und Wasserkraft die Produktion antrieb, Bestand haben könnte. Wasserfälle waren in Großbritannien im Überfluss vorhanden, ihre Nutzung günstiger als der Abbau, Transport und das Verfeuern von Kohle. Wasser lieferte auch (absolut und relativ) mehr Energie als die Dampfmaschine. Robert Thom, der „Apostel des Wassers in Britannien“ (103) und entsprechend James Watts Widerpart, löste sogar die größten Probleme der Energieversorgung durch Wasserkraft: „die örtliche Gebundenheit und die zeitlichen Fluktuationen“ (102).

Dennoch setzte sich zwischen 1825 und 1848 inmitten der strukturellen Krise des britischen Kapitalismus die mit Kohle angetriebene Dampf- gegen die Wasserkraft durch. „Zwei Pfade standen offen und das britische Kapital entschied sich für einen.“ (104) Malm arbeitet anhand zahlreicher Beispiele gescheiterter Wasserkraftprojekte und der Adaption der Dampfmaschine, insbesondere in der Baumwollindustrie, behutsam und Schritt für Schritt Argumente heraus, die letztlich die herrschende Klasse für die mit fossilen Brennstoffen betriebene Dampfmaschine optieren ließen – „obwohl sie die weniger fortgeschrittene Produktivkraft“ (120) gewesen sei.

Die „Achillesverse“ (116) der Wasserkraft bestand Malm zufolge darin, dass ihr Ausbau nicht nur die kollektive Planung, Koordination und Finanzierung von Staat, Wissenschaft und Kapital erforderte, sondern auch von mit einander konkurrierenden Kapitalisten. Die Anarchie der kapitalistischen Produktion und die daraus resultierende Konkurrenz habe aber wiederholt dazu geführt, dass solche Vorhaben scheiterten. Die Vorteile der Kombination aus Kohle plus Dampfmaschine seien ebenso sozialen Ursprungs. Sie sei ein Mittel im Klassenkampf gewesen, um „die Klassengegensätze der Krise zu lösen bzw. zu verschieben“ (153).

Zum einen ermöglichte die mit Kohle befeuerte Dampfmaschine den Kapitalisten räumliche Flexibilität. Fabriken konnten an den Orten errichtet und betrieben werden, wo Arbeitskräfte im Überfluss und zu einem günstigeren Preis akquiriert werden konnten. Von diesen überwiegend ungelernten Arbeitern war weniger Widerstand in verschiedenen Formen (Streiks, Diebstahl usw.) zu erwarten. Sie konnten zudem nach Belieben angeheuert und gefeuert werden. Hohe Ausgaben für die damals noch üblichen Arbeiterkolonien auf dem Land, die rund um die mit Wasserkraft betriebenen Wasserräder erbaut wurden, und die Versorgung von Kinderarbeitern waren damit ebenso passé wie Verluste durch Streiks oder Zerstörungen in den Kolonien, die überwiegend den Fabrikeigentümern gehörten. Schließlich konnte die gesamte Produktion, z.B. von Baumwolle, unter einem Dach zentralisiert werden. Unter dem Druck des großen Streiks von 1842 und wiederholten Auseinandersetzungen in Arbeiterkolonien während der Krise war die neue Antriebskraft geradezu eine Verheißung.

Zum anderen bescherten Dampfmaschine und Kohle den Kapitalisten einen zeitlichen Vorteil. Sie waren nicht mehr abhängig vom Wetter und den damit verbundenen Schwankungen in der Intensität der Wasserkraft. Es konnte also kontinuierlich produziert werden. Für die Arbeiter bedeutete dies auch, dass nun „ein innerer Zwang zur Arbeit“ (134) in den Fa-brikhallen existierte, dem sie sich unterwerfen mussten. Die Bedeutung der neuen Technologie wuchs weiter, als die Bewegungen für Arbeitszeitverkürzungen in den 1830er- und 1840er-Jahren endgültig Erfolge in der Gesetzgebung erzielte. Während dies ein Schlag ins Kontor für die Unternehmer war, die noch auf Wasserkraft setzten, ermöglichten Kohle und Dampfmaschine ihren Eigentümern, die relative Mehrarbeit durch schnellere Maschinen zu erhöhen.

Das Resultat der Klassenauseinandersetzungen um die Einführung der neuen Technologien war die Lösung der Krise durch die Geburt des „fossilen Kapitals“ (290). Malm meint damit eine „Dreiecksbeziehung zwischen Kapital, Arbeit und einem bestimmten Segment der nichtmenschlichen Natur“ (ebd.) – hier zunächst der Kohle –, in der das Kapital die Ausbeutung der Arbeit durch das natürliche Hilfsmittel antreibe. Der Übergang zur fossilen Ökonomie, dem Zusammenspiel aus sich selbst reproduzierendem Wirtschaftswachstum und fossiler Energieproduktion, war also in Malms Augen im Kern eine Machtfrage zwischen Kapital und Arbeit, bei der die „Maschinen als soziale Machtressource“ (311) eingesetzt worden sind.

Den Sieg der Kapitalistenklasse über die Arbeiter in Großbritannien begleitete ein rapider Anstieg der CO2-Emissionen – die Anfänge des heutigen Klimawandels. Von England aus, dem „historischen Heimatland“ (254) der globalen Erwärmung, habe das fossile Kapital die ganze Welt erobert. Während Manchester in den 1840er-Jahren der „Schornstein der Welt“ (346) gewesen sei, habe die Volksrepublik China diese Position heute trotz aller Umweltschutzmaßnahmen der Kommunistischen Partei Chinas inne, weil das global agierende Kapital das Reich der Mitte zu seiner Werkbank gemacht habe.

Das fossile Kapital sei vor diesem Hintergrund zwar nicht die einzige, aber wohl die „Haupttriebkraft der fossilen Ökonomie“ (355) und damit sowohl des Klimawandels als auch der umfassendsten Umwälzung der Erde in ihrer jüngeren Geschichte. Folgerichtig plädiert Malm dafür, die rezente Epoche der Erdgeschichte auch nicht Anthropozän, wie von zahlreichen prominenten Natur- und Sozialwissenschaftlern derzeit favorisiert, sondern „Kapitalozän“ (391) zu taufen.

Christian Stache

Spanischer Bürgerkrieg

Werner Abel (Hg.), unter Mitarbeit von Karla Popp und Hans-Jürgen Schwebke, „Pasaremos“ – Organ der XI. Brigade. Reprint der Zeitschrift, Karl Dietz Verlag, Berlin 2017, 430 S., 39,90 Euro

Charakteristisch für die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war der scharfe Kampf zwischen Propaganda und Gegenpropaganda, der sich gleichermaßen als Phänomen und Motor zentraler politischer und sozialer Frontstellungen erwies. Willi Münzenberg, vor 1933 kommunistischer Abgeordneter im Deutschen Reichstag und vernetzender Leiter verschiedener linker Presseprojekte unter dem Dach des Neuen Deutschen Verlags, beherrschte die Klaviatur solidarischer (Medien)Agitation und Propaganda wie kaum ein anderer Protagonist des antifaschistisch-antikolonialistischen Lagers in Europa. Die Machtübernahme der Nazis stellte ihn sowie den gesamten organisierten antifaschistischen Kampf vor neue Herausforderungen. In seiner Aufklärungsschrift „Propaganda als Waffe“, 1937 im Exilverlag Edition du Carrefour (Paris) erschienen, unterstreicht Münzenberg die Rolle der Propaganda für das Hitlerregime: Die Hitlerpropaganda „hat die Schlussfolgerung (…) gezogen, dass im kommenden Krieg die Rotationsmaschinen und das Radio noch wichtiger sein werden als die Kanonen und Tanks, dass der Krieg vor allem nicht erst mit dem Abfeuern des ersten Schusses beginnt, sondern bereits Jahre zuvor mit der politischen Einkreisung und propagandistischen Zersetzung des Gegners.“ (25). Umso brennender war die Aufgabe der Gegenpropaganda gestellt – nicht zuletzt angesichts der deutschen Teilnahme am Spanienkrieg. Im Exil wuchsen solche Münzenbergschen Zeitungsprojekte wie „Der Gegen-Angriff“ zu Informationsbörsen über den Alltag im faschistischen Deutschland, zu politischen Vernetzungsforen für die Exilierten sowie zu medial vermittelten Räumen zur Festigung notwendiger Solidargemeinschaften. Zahlreiche weitere propagandistische Anker der Aufklärung über die wirklichen Absichten faschistischer Mächte und Gruppierungen in Europa erschienen im selben Verlag (z.B. das „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“ von 1933 oder Münzenbergs „Kann Hitler einen Krieg führen?“ aus dem Jahre 1937).

Der Putsch antirepublikanischer Militärs in Spanien am 17. Juli 1936 markierte den Beginn des Spanienkrieges, in dessen Verlauf antifaschistische Arbeit auf bis dato unbekannte Weise konkret wurde. Die Aufstellung der Internationalen Brigaden (IB) zog Kämpfende verschiedener kultureller, politischer und nationaler Herkunft an. Zentrale Bedeutung nahm dabei nicht zuletzt die XI. IB ein, in der Kämpfer der deutschen Sprachgruppe organisiert waren: In zahlreichen Schlachten an vorderster Front kämpfend, entstanden auch im Bereich der internen Kulturarbeit vorbildliche Projekte, die Zeugnis für die (zumindest angedachte) Ganzheitlichkeit des Kampfes für die Freiheit Spaniens und damit verbunden auch für die Freiheit Deutschlands vom Hitlerfaschismus ablegen. Mit dem Reprint der ab März 1937 erschienenen Brigadezeitschrift „Pasaremos. Organ der XI. Brigade“ legen der bekannte Experte für die Geschichte der IB, Werner Abel, und sein Arbeitsteam einen bemerkenswerten Quellenband vor, der zum ersten Mal eine vollständige Durchsicht der im deutschsprachigen Raum bisher nur lückenhaft überlieferten Zeitschrift erlaubt. Die Auswertung der bis Oktober 1938, dem Datum des Abzugs der IB aus dem Spanienkrieg, erschienenen Brigadezeitschrift lohnt in vielfacher Hinsicht, dringen die Bild- und Textbeiträge doch in das Herz des Kampfverbandes vor. Ein Schwerpunkt der Zeitschrift liegt ihrer Funktion entsprechend auf der knappen Darstellung aktueller globaler wie spanienspezifischer politischer und gesellschaftlicher Ereignisse. Noch gewichtiger für die heutigen LeserInnen (da die unmittelbare Lebenswirklichkeit der Interbrigadisten betreffend) dürfte die Berichterstattung über und die Analyse der diversen Schlachten, militärischen Aufgabenstellungen und alltäglichen Probleme des Kämpferlebens sein.

Die „Pasaremos“ bezog ihre Lebensnähe aus der Mischung von Beiträgen journalistisch vorgebildeter IBler, den Analysen der Führungsspitze (bspw. von Heiner Rau, Richard Staimer) sowie den holprigen Textversuchen einfacher Kämpfender. In der Tradition des Arbeiterkorrespondentenwesens der Zwischenkriegszeit stehend, erschien die „Pasaremos“ als Periodikum mit kollektivistischem Anspruch („von euch, für euch“), und wollte durch unmittelbaren Nutzen bestechen. Die Rubrik „Militärischer Briefkasten“ brachte praktische Tipps zum Soldatenleben. Längere Beiträge sollten z.B. zur Verbesserung der Schießleistung beitragen (vgl. Nr. 16 vom 29. 05. 1937) oder über die Verteidigung gegen Panzerangriffe (vgl. Nr. 35 vom 09. 12. 1937) informieren.

Ein Baustein des vernetzenden und koordinierenden Wirkens der Brigadezeitschrift war die Fokussierung auf besondere Feiertage des proletarischen Festkalenders wie den 1. Mai oder spezieller den ersten Jahrestag der Aufstellung der XI. IB. Anlässlich des letztgenannten Ereignisses erschien Nr. 31 vom 15. Oktober 1937 als Erinnerungsdokument und Zeitchronik mit Rückblicken und Analysen der IB als kämpfender „Wille zur Einheit“ der Antifaschisten, mit Tagebuch- und Erinnerungsbeiträgen, Würdigungen getöteter IBler und Darstellungen der kulturellen Arbeit mitsamt Liedbeiträgen.

Die internationalistische Grundhaltung der XI. IB kam in der „Pasaremos“ in doppelter Weise zum Tragen: Auf formaler Ebene zeigt sich dies in der Mehrsprachigkeit der einzelnen Hefte – neben der deutschen Sprache war das Französische aufgrund der Anfang 1937 noch starken französischen Einheiten Zweitsprache, um recht bald vom Spanischen als Kampf- und Verkehrssprache abgelöst zu werden. Inhaltlich spiegelt sich dies in der vorbehaltlosen Parteinahme für die spanische Volksfrontregierung und deren Vertreter wider (so z.B. in einem Bericht über den Besuch der spanischen Kommunistin und Gallionsfigur des Freiheitskampfes, Dolores Ibáruri Gómez – Kampfname „La Pasionaria“ in Nr. 25 vom 07. 08. 1937 oder einem der proletarischen Arbeiter-Illustrierten Zeitung nachempfundenen Sonderheft anlässlich des 20. Jahrestags der Oktoberrevolution in Russland in Nr. 32 vom 07. 11. 1937). Der regelmäßige Blick auf den faschistischen Alltag und in die Zuchthäuser (Stichwort: Erinnerung an Ernst Thälmann) des Franco unterstützenden Deutschlands gehört zu den Facetten des umfassenden Blicks auf den Kampf in Spanien.

Die eingestreuten Beiträge zahlreicher antifaschistischer Schriftsteller und Journalisten wie Alfred Kantorowicz, Willi Bredel, Erich Weinert, Ludwig Renn oder Josef Martin Presterl (Synonym: Martin Prestes) zeugen von einer gewissen Anspruchshaltung und Professionalisierung in Form und Inhalt. Das zeigen auch die zahlreichen Fotografien, Karikaturen und Montagen, die einen visuell fundierten Zugang zur militärischen wie kulturellen Geschichte der XI. IB, ihres Kampfes und ihrer Selbstverortung ermöglichen. Die Brigadezeitschrift „Pasaremos“ wurde geschrieben an einer zentralen Front ihrer Epoche, in Schützengräben und Baracken, von kämpfenden Journalisten und einfachen Brigadisten. Die vorliegende Neuausgabe ist ein unverzichtbarer Schlüssel zum Verständnis der deutschen Verteidiger der spanischen Republik, zudem ein besonderes Stück Medien- und Sozialgeschichte. Abel ebnet mit dem Reprint den aufschlussreichen Weg „ad fontes“ – zu den Quellen.

Valentin J. Hemberger

Agrarwissenschaften der DDR

Siegfried Kuntsche, Die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften 1951-1990. 2 Halbbände, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2017, 973 S., 98,00 Euro

Die beiden Halbbände gliedern sich in drei große Abteilungen: einen geschichtlichen Abriss der Agrarakademie der DDR, eine Zeittafel und in einen Dokumenten-Anhang. Im Vorwort wirft Kuntsche einige Fragen auf, die in seiner Darstellung diskutiert werden sollen. Dazu gehört die Frage: Warum ging die Akademie nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik unter, obwohl der Bund-Länder-Wissenschaftsrat den naturwissenschaftlichen Instituten ein hohes Leistungsniveau bestätigte? Gleichzeitig gibt Kuntsche zu bedenken, dass die Landwirtschaft der DDR sowohl in der Arbeitsproduktivität als auch in der Flächenleistung hinter der Bundesrepublik zurückgeblieben war.

Die Frage der Neuorganisation der Agrarwissenschaften stellte sich der DDR-Regierung am Beginn des Fünfjahrplans. Mitte März 1950 legte Bruno Skibbe, Leiter der Forschungsstelle für Agrarwirtschaft und Agrarpolitik der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB), eine Denkschrift zur Bildung eines agrarwissenschaftlichen Zentrums vor. Die Forschungseinrichtungen sollten zu einem Beschlussgremium vereinigt werden. Das Zentralinstitut sollte an die landwirtschaftliche Klasse der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) angebunden werden. Beim Landwirtschaftsministerium war die Bildung eines Forschungsrates für die Wissenschaftsplanung und -lenkung vorgesehen. Nachdem Paul Merker vor dem Hintergrund der Noel-Field-Affäre aus der SED ausgeschlossen worden war, wurde im Juli 1950 der Generalsekretär des Zentralvorstandes des VdgB, Kurt Vieweg, vom III. Parteitag der SED in das Zentralkomitee gewählt und mit der Verantwortung für das Ressort Landwirtschaft betraut. Von nun an wurde gemäß dem Drängen der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) auf die Bildung einer selbständigen Zweigakademie Kurs genommen. Es ging um das sowjetische Modell von Zweigakademien in vorrangigen Volkswirtschaftsbereichen, und zwar in der Symbiose von Gelehrtengesellschaft und Forschungsinstituten. Die Bedenken gegen die Bildung einer Zweigakademie, die von Vertretern der DAW erhoben wurden, blieben folgenlos. Am 11. Januar 1951 beschloss der Ministerrat der DDR die Errichtung der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften zu Berlin (DAL). Die Konstituierung indes verzögerte sich, weil noch zu entscheiden war, auf welcher theoretischen Basis die Akademie gegründet werden sollte – auf dem Boden der „modernen Agrobiologie“ Lyssenkos oder der theoretischen Basis der Genetik? Mit maßgeblicher Unterstützung durch Walter Ulbricht konnte sich der Genetiker Hans Stubbe durchsetzen. Die Konstituierung der Akademie erfolgte am 15. Oktober 1951. Im Unterschied zu Bulgarien und zur Tschechoslowakei erfolgte die Konstituierung nicht als Kopie der sowjetischen Akademie. Der Lyssenkoist Georg Schneider wurde von der Liste der Plenarmitglieder gestrichen. Der Genetiker Hans Stubbe wurde zum Präsidenten gewählt. Die DDR war das einzige Ostblockland, das das Eindringen des Lyssenkoismus in die agrarwissenschaftliche Forschung verhindern konnte. Im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz erfolgte die Hinwendung der Agrarakademie zur sozialistischen Landwirtschaft. Der Ministerrat der DDR stellte erhebliche Mittel für den Ausbau der Institute zur Verfügung. Beispielhaft wurde dies am Institut für Acker- und Pflanzenbau in Müncheberg und am Institut Kleinmachnow sichtbar. Dieses sollte – als Biologische Zentralanstalt firmierend – den Verlust der in Westberlin gelegenen Einrichtung gleichen Namens ausgleichen. Im Friedrich-Loeffler-Institut auf der Insel Riems konnte die angewandte Virusforschung ausgebaut und die Großproduktion von Veterinärpharmaka aufgenommen werden. Bis 1955 stieg die Zahl der Mitarbeiter von 2.800 auf 8.450. Mitte der 50er Jahre war infolge der administrativ aus verlassenen Bauernhöfen gebildeten Genossenschaften eine schwierige Lage mit negativen agrarwirtschaftlichen Folgen entstanden. Kurt Vieweg und seine Mitarbeiterin Marga Langendorf erarbeiteten ein alternatives Agrarkonzept, das dem „bäuerlichen Familienbetrieb“ ein größeres Gewicht einräumte. Als Dokument 18 wurde es in die Publikation aufgenommen.

Die SED-Führung unterstellte, dass das Ziel Viewegs die Restauration des Kapitalismus sei. Die Art und Weise der Kritik an den Auffassungen von Vieweg stieß viele Agrarwissenschaftler vor den Kopf. Dezidiert wird auch auf die Probleme der Republikflucht, der Rinderoffenstall- und der Maiskampagnen eingegangen.

Das Jahrzehnt der 1960er Jahre charakterisiert Kuntsche als den „Weg zur sozialistischen Forschungsakademie“. Nach der Grenzabriegelung 1961 trat die DDR in eine neue Entwicklungsphase ein, die durch eine striktere Durchherrschung der Gesellschaft geprägt war. Während in den 1950er Jahren der Parteieinfluss in den Gremien und auch in den Forschungseinrichtungen sehr schwach war, setzte die SED in den 1960er Jahren ihre Rolle als staatslenkende Partei nach und nach durch. Bis Anfang der 1970er Jahre verdoppelte sich der Anteil der SED-Mitglieder unter den Wissenschaftlern der Akademie auf 42 Prozent.

Die Entwicklung der Wissenschaftsorganisation prägte in den 1960er Jahren das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL). An die Stelle der bisherigen Haushaltsfinanzierung der Forschung trat wirtschaftliche Rechnungsführung. Die Vertragsforschung trat an die Stelle der Forschungskooperationsgemeinschaften. Im Zuge der III. Hochschulreform wurde 1968 das Landwirtschaftsstudium grundlegend umgestaltet. An die Stelle des einheitlichen Studienganges mit einem ganzheitlichen Grundstudium und nachfolgender Spezialisierung traten spezielle Studiengänge Pflanzenproduktion und Tierproduktion. Die Fakultätsstrukturen wurden aufgelöst und Sektionen gebildet.

Mit Nachdruck wurde in den 1960er Jahren die Durchsetzung des Wissenschaftlich-technischen Fortschritts (WTF) betrieben. Das Lehr- und Versuchsgut des Instituts für Tierzucht und Tierhaltung Iden-Rohrbeck errichtete 1964 die erste 4000er-Milchviehanlage der DDR mit Anbindehaltung und strohloser Aufstallung. Festlegungen zur Aufnahme einer konzentrierten Gülleforschung wurden nicht getroffen. 1969 war das Institut für Tierzüchtung an der Konzipierung der ersten Anlagen industriemäßiger Schweine- und Rinderhaltung beteiligt. 1970 formierte die DAL Großforschungszentren zur effektiveren Bewältigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.

Der 1971 vollzogene Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker bedeutete einen tiefen Einschnitt in der DDR-Geschichte. Gerhard Grüneberg, der im Politbüro (seit 1959 Kandidat, seit 1966 förmliches Mitglied) für die Landwirtschaft zuständig war, konnte sich ab 1971 auf den durchsetzungsstarken Bruno Kiesler stützen, der im selben Jahr ZK-Mitglied geworden war. Unter den gegebenen Verhältnissen etablierte sich ein System der persönlichen Macht. Mittels des Parteiapparats entstand in der Landwirtschaft eine Kommandowirtschaft. Grundlegende Richtungsentscheidungen fielen losgelöst von der Wissenschaft, so zur betrieblichen Trennung von Pflanzen- und Tierproduktion. Neue Hemmnisse wurden mit der Abschnürung der Akademie von den führenden agrarwissenschaftlichen Zentren im Ausland errichtet. Mit dem Ableben von Gerhard Grüneberg am Vorabend des X. Parteitages der SED im April 1981 endete für die Akademie ein Jahrzehnt der Bevormundung. Nach der Bestätigung von Politbüromitglied Werner Felfe als Landwirtschaftssekretär kamen agrarpolitische Akzentverschiebungen und auch Kurskorrekturen in Gang. 1982 fand (nach einem Jahrzehnt) endlich auch wieder ein Bauernkongress statt. Im Einzelnen ging es um:

- Sicherung stofflicher Kreisläufe durch verbindlicheres Zusammenwirken von Pflanzen- und Tierproduktion;

- Reform der Agrarpreise;

- Förderung der Nebenerwerbswirtschaft von Genossenschaftsbauern.

Der Akademie wurde wieder ein statutengemäß eigenverantwortliches Handeln möglich. Am Ende des Jahrzehnts öffnete sich durch das Kultur- und Wissenschaftsabkommen zwischen der DDR und der Bundesrepublik die Tür zu wechselseitigen Kontakten agrarwissenschaftlicher Einrichtungen beider deutscher Staaten.

In den 1980er Jahren gelang der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (AdL) eine deutliche Leistungssteigerung. Bei der Mehrzahl der Forschungsleistungen war der Anschluss an die internationalen Trends erreicht worden. 56 Prozent der Abschlussleistungen wurden als weltstandsbestimmend (d.h. international führend) angesehen. Die Gesamtzahl der Personalstellen stieg von 6.133 auf 10.834. Die Effektivität der Forschung wurde jedoch durch eine unzureichende materiell-technische Basis gehemmt.

1989/1990 stand die Akademie im Zeichen von Reform und Transformation. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 gemäß dem Einigungsvertrag ging das Wissenschaftssystem der DDR unter. Die Gelehrtengesellschaft und die Institute der Landwirtschaftsakademie wurden rechtlich voneinander getrennt. Damit hörte die AdL als Institution auf zu existieren.

Siegfried Kuntsche hat mit dieser Publikation seine langjährigen Forschungen zu diesem Thema abgeschlossen. Die Arbeit ist quellengesättigt. Die Wertungen sind grundsolide. Bei einer noch zu schreibenden historisch-kritischen Darstellung der Geschichte der DDR wird diese Arbeit als solider Baustein genutzt werden können.

Siegfried Prokop

FPÖ: Partei der Reichen

Michael Bonvalot, Die FPÖ. Partei der Reichen, Mandelbaum Verlag, Wien 2017, 232 S., 14 Euro

Als „soziale Heimatpartei“ beschreibt sich die „Freiheitliche Partei Österreichs“ (FPÖ). Seit Dezember 2017 regiert sie erneut mit der konservativen „Österreichischen Volkspartei“ (ÖVP). Auch andere Parteien der extremen Rechten betonen das „Soziale“ oder geben sich gar kapitalismuskritisch. Doch in Österreich kann man sehen, dass von den Wahlkampfslogans nichts bleibt, wenn die extreme Rechte regiert.

Michael Bonvalot, seines Zeichens Journalist, wirft einen Blick auf die Wirtschafts- und Arbeitspolitik der Rechtspartei. Sein Fazit: „Ob es um Sozialleistungen, Pensionen, die Gesundheitsversorgung, den Zugang zu Wohnraum, die Spaltung der Lohnabhängigen, den Schutz des Vermögens der Reichen oder die Folgen des Klimawandels geht: Überall steht die FPÖ auf der Seite der Banken, der Konzerne und der UnternehmerInnen – und nicht auf der der Seite der breiten Masse der Bevölkerung“ (207). Lange Zeit habe die Partei versucht, ihre wirtschaftspolitischen Positionen aus taktischen Gründen nicht in den Vordergrund zu rücken. Denn, so meint Bonvalot: „Viele ihrer WählerInnen wären überrascht, wie sehr die Partei ihren Wünschen und Interessen widerspricht“ (8). Doch die Präsidentschaftswahl 2016 habe eine „kleine Trendwende eingeläutet“, um mehr „bürgerlich-konservative“ WählerInnen anzusprechen. Dazu sei die wirtschaftsliberale Ausrichtung deutlicher betont worden.

Im Kern ziehe sich ein wirtschaftsliberaler Kurs durch die Geschichte der Partei – trotz „sozialer“ Rhetorik. Um das zu belegen hat der Autor eine Vielzahl von Originalquellen ausgewertet – Artikel, Reden, Anträge, Parlamentsdebatten und Programme der Partei, ihrer führenden Köpfe und ihr nahe stehender Organisationen.

Bonvalot beginnt seine Untersuchung mit einem Blick in die Gründungszeit der FPÖ, auf ihre Wurzeln im deutschnationalen Lager aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, auf ehemalige NSDAP-Mitglieder sowie die Vorgängerpartei „Verband der Unabhängigen“ (VdU). Die Partei war unternehmerfreundlich, wirtschaftsliberal und durch „Gebildete“ geprägt (13), die anfängliche Unterstützung von IndustriearbeiterInnen und Bauern schnell geschwunden. Die Bildung der FPÖ 1955/56 aus der VdU sei „ein klares Signal an die Nazi-Basis“ gewesen. Die Partei habe „zwischen einem ‚wirtschaftsliberalen‘ und einem ‚nationalen‘ Profil“ aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung aus dem „elitär-bürgerlich-burschenschaftlichen Milieu, deutschnationalen (oft protestantischen) Schichten im bäuerlichen Raum, dörflichen und kleinstädtischen Eliten, industriellen Finanziers sowie FreiberuflerInnen, höheren BeamtInnen und kleinen Selbstständigen“ (15) geschwankt.

In der Zeit von 1956 bis 1983 gewann die Partei bei den Nationalratswahlen zwischen knapp fünf und gut sieben Prozent und saß kontinuierlich im Parlament. 1983 trat sie bis Januar 1987 als kleinerer Partner in eine Bundesregierung mit der „Sozialistischen Partei Österreichs“ (heute „Sozialdemokratischen Partei Österreichs“, SPÖ) ein, nachdem zuvor der wirtschaftsliberale über den nationalen Flügel dominiert hatte. Bonvalot weist darauf hin, dass die kontinuierlichen strömungspolitischen Auseinandersetzungen in der FPÖ nicht wirtschaftspolitisch motiviert sind, sondern vorrangig als Streit um den Umgang mit dem NS-Erbe verstanden werden müssten.

Auch unter ihrem Vorsitzenden Jörg Haider (1986-2000) standen „traditionell deutschnationale AkademikerInnen, FreiberuflerInnen, soziale AufsteigerInnen, Bürgerliche, denen die ÖVP zu wenig radikal (neoliberal) war“ (21) im Mittelpunkt der Politik. Bereits 1986 hatte sie ihr Ergebnis auf knapp zehn Prozent fast verdoppeln können. Doch spätestens in den 1990er Jahren änderte sich der Kurs zumindest in der Rhetorik. Die FPÖ nahm stärker die arbeitende Bevölkerung sowie enttäuschte SPÖ-WählerInnen in den Blick. Denn sie hatte erkannt, dass sie mit ihrer bisherigen Politik nur begrenzt WählerInnen ansprach. Die Partei griff nun „rassistische Grundstimmungen auf und verstärkte sie einerseits in Richtung sozialer Spaltung, andererseits in die Richtung der Propagierung einer nationalen Volksgemeinschaft“ (23). Ein von der Partei initiiertes Volksbegehren „Österreich zuerst“ (1992/93) gegen Zuwanderung sei strategischer Teil des „Umbruchs von der Yuppie-Gruppe hin zu den Massenwählern“ gewesen, wird ein ehemaliger FPÖ-Staatssekretär zitiert.

Bonvalot hebt Haiders Buch „Die Freiheit, die ich meine“ (1993) hervor, mit dem er ein „Angebot an Österreichs KapitalistInnen“ formuliert habe, „gemeinsam mit der FPÖ restlos mit den Errungenschaften des Sozialstaats aufzuräumen“ (28ff.): Mehr Arbeit, weniger Zuwanderung, mehr Kinder, einen zwangsweisen „Sozialdienst“, Erhöhung des Rentenalters, Privatisierungen, Angriffe auf die Arbeiterkammer und weniger Steuern für UnternehmerInnen. Das Ziel: Die „Überwindung des Klassenstaates“ und eine „soziale Volksgemeinschaft“ (37). Ausführlich beschreibt Bonvalot die FPÖ-Regierungspraxis ab dem Jahr 2000. An „vielen Fronten“ sei es zu „drastischen sozialen Verschlechterungen, insbesondere durch die Kürzung der Pensionen sowie bei Zuwendungen für Arbeitslose“ (47f.) gekommen. Der Autor zeigt die negativen Auswirkungen auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen (Arbeitslose, Rentner, Lehrlinge, …), Organisationen und Einrichtungen (Arbeiterkammer, Bundesbahn …).

Unter dem neuen Vorsitzenden Heinz-Christian Strache (ab 2005) schwenkte die FPÖ – nach der Abspaltung Haiders mit dem „Bündnis Zukunft Österreich“ – „wieder auf jenen Kurs, den die Haider-FPÖ in der Opposition gepflegt hatte: Hart rassistisch, scheinbar sozial, aber tatsächlich streng wirtschaftsliberal“ (65). Auch unter Strache blieb die FPÖ eine „Partei der bürgerlichen Eliten“ (73).

Der Verankerung in Betrieben ist ein eigenes Kapitel gewidmet (95ff.). Es bietet angesichts der aktuellen Versuche der AfD und den bisher sehr überschaubaren Erfolgen rechter Betriebsratslisten in Deutschland interessante Vergleichsmöglichkeiten. Denn die FPÖ verfügt mit der „Freien Gewerkschaft Österreichs“ (FGÖ) über eine eigene „Gewerkschaft“ und über Strukturen für Personalvertretungs- und Fraktionsarbeit im „Österreichischen Gewerkschaftsbund“ und der Arbeiterkammer. In einem Schreiben aus der Gründungszeit der FGÖ stellt sie sich als „verläßlicher Partner des Unternehmers“ (99) dar.

Bonvalot reflektiert die Frage, ob die FPÖ „die neue ArbeiterInnenpartei“ (100) sei: „Offensichtlich sind der FPÖ Einbrüche in Schichten gelungen, die arbeitsrechtlich ArbeiterInnen zugeordnete werden – in erster Linie betrifft das männliche Arbeiter deutscher Muttersprache mit manuellen Berufen im privaten Sektor.“ (105) Doch die These „von der FPÖ als ‚Partei der gesamten ArbeiterInnenklasse‘“ ist laut Bonvalot nicht haltbar (105). Für die Erfolge wäre vor allem relevant, „wie stark rassistische Vorurteile (...) verankert“ seien (101). Ausführlich widmet sich Bonvalot dem FPÖ-Wirtschaftsprogramm – vom „Arbeitsrecht“ bis zum „Zwang zur Arbeit“ (122-190). Das „Kernprogramm“ laute: „Massiver Sozialabbau und Zerschlagung des Sozialstaats“ (190).

In dem lesenswerten, kompakten Band finden sich zudem kurze Aufsätze, teils von GastautorInnen, zu neoliberalen Think-Tanks im Umfeld der Partei (76ff.), zu wirtschaftspolitischen Positionen „außerparlamentarischer rechtsextremer Gruppen“ (81ff.) oder zur Praxis der FPÖ in jenen Bundesländern, in denen sie mitregiert hat oder mitregiert (110-121). Das Buch – weniger Wissenschaft als solider Journalismus mit politischem Gebrauchswert – schließt mit Überlegungen, warum die FPÖ gewählt wird und wie eine Strategie dagegen aussehen könnte. Bonvalot schreibt, das „Hauptmotiv für ein Kreuz bei der FPÖ“ (199) sei Rassismus, und stellt klar: Bei ihren WählerInnen handele es sich nicht „um reine ProtestwählerInnen ohne politische Ideologie“ (201). Sie wüssten „über die grundlegende politische Ausrichtung der Partei“, ihren Rassismus und ihre Kontakte zum Neonazismus Bescheid. Die FPÖ stehe vor dem „klassischen Dilemma rechter Parteien, die sich agitatorisch an die arbeitenden Bevölkerung wenden“, dann aber in Regierungsverantwortung ihre Widersprüche offenbarten (203). Da die FPÖ darüber nicht reden wolle, empfiehlt Bonvalot im Kampf gegen rechts, „vor allem die soziale Frage ins Zentrum (zu) rücken“ (205) und Lohnabhängige auf die anti-sozialen wirtschaftspolitischen Positionen der FPÖ hinzuweisen. Das ist nicht falsch, sondern ausdrücklich richtig. Doch ob es als Antwort ausreicht, sei dahingestellt. Das Buch ist allemal wichtig, um an der Realität abzugleichen, was der Einstieg einer Partei der extremen Rechten an der Seite der Konservativen politisch bedeutet. Analogien zur deutschen AfD drängen sich beim Lesen auf.

Paul Wellsow

1 Vgl. die in Z 109 (März 2017), S. 59-70, unter dem Titel „Gramsci und die Revolution“ erschienenen Auszüge aus dem hier besprochenen Buch.

2 Antonio Gramsci, Eine Untersuchung der Situation Italiens, in: La construzione del Partito Communista 1923-1926, Turin 1974, S. 121 (aus dem italienischen Original übersetzt, S.K.).

[1] Poulantzas Hauptwerk Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus (Hamburg 2002, VSA) ist nach wie vor lieferbar.

[2] Lars Bretthauer u.a. (Hrsg.), Poulantzas lesen. Zur Aktualität materialistischer Staatstheorie, Hamburg 2006.

[3] Alex Demirović, Stephan Adolphs, Serhat Karakayali (Hrsg.), Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas. Der Staat als gesellschaftliches Verhältnis, Baden-Baden 2010.

[4] Alexander Gallas, The Thatcherite Offensive: A Neo-Poulantzian Analysis, Leiden 2015.