Der dreitägige Besuch der Bundeskanzlerin in China Anfang
Februar in Be-gleitung eines ‚Gefolges’ deutscher
Unternehmensvorstände macht deutlich, wo derzeit die
wirtschaftliche Musik spielt: Europa bettelt um chinesische Hilfe
in der Euro-Krise, während deutsche Konzerne nach
Investitionsmöglichkeiten suchen. Die Welt hat sich definitiv
verändert. Wie konnte es dazu kommen? Der Schwerpunkt dieses
Heftes diskutiert Theorien, die Ursachen wirtschaftlicher Auf- und
Abstiegsprozesse und Machtverschiebungen im ka-pitalistischen
Weltsystem erklären. Dabei wurde die Redaktion konzeptionell
und organisatorisch von unserem Beiratsmitglied Dieter Boris
unterstützt.
Einleitend werden in einem statistischen Überblick die
wichtigsten Verschie-bungen der letzten 30 Jahre skizziert. Neben
dem historisch hohen, das ökolo-gische Gleichgewicht
bedrohenden Wachstum fällt auf, dass von einem all-gemeinen
Aufholen der Länder der Peripherie bislang nicht die Rede sein
kann: Hauptmerkmale sind der Aufstieg Chinas und der relative
Bedeutungsverlust der USA.
Dieter Boris präsentiert Thesen, in denen er
Theorieansätze mit dependenz- und regulationstheoretischem
Hintergrund in Hinblick auf ihren Erklärungswert für die
derzeitigen Auf- und Abstiegsprozesse abklopft. Dabei kommt er zu
dem Ergebnis, dass – zusammen mit anderen Faktoren –
die Steuerungsfä-higkeit des Staatsapparats in Verbindung mit
einem relativ stabilen Klassen-kompromiss zentral ist. Der Chance
anderer Länder, dem „Modell China“ zu folgen,
steht er aber skeptisch gegenüber.
Die wirtschaftlichen Machtverschiebungen gehen einher mit einer
veränderten internationalen Arbeitsteilung, wobei
transnationale Produktionsketten eine wachsende Rolle spielen. Auch
wenn es in diesem Zusammenhang zu einer gewissen Industrialisierung
in Ländern der Peripherie kommt, heißt das nicht –
wie Karin Fischer und Christian Reiner in ihrem Beitrag zeigen
– dass diese notwendig profitieren. Oft bleibt der
Löwenanteil der Wertschöpfung in den Konzernzentralen der
alten Industrieländer. Allerdings gibt es für die
subal-ternen Länder die Möglichkeit, innerhalb der
Güterketten „aufzusteigen“.
Andrea Komlosy diskutiert vor dem Hintergrund neuerer
Positionsnahmen von Vertretern des Weltsystem-Ansatzes (Wallerstein
einerseits und Andre Gunder Frank andererseits) die Frage, welche
Folgen der relative Niedergang der USA und der Aufstieg Chinas
für den Weltkapitalismus haben wird. Wäh-rend Wallerstein
ein Ende des historischen Kapitalismus zu erkennen glaubt, meint
Frank, dass sich ein neues asiatisches Zeitalter abzeichnet.
Viele Debatten über globale Machtverschiebungen betreffen die
Frage der Hegemonie. Rudy Weissenbacher verweist auf den schon von
Gramsci gesehenen Zusammenhang zwischen innergesellschaftlicher und
internationaler Hegemonie und untersucht Elemente, auf denen die
US-Hegemonie basiert. Der Aufstieg Chinas schwäche zwar die
US-Position. Allerdings bleibe die Herausforderung Chinas im Rahmen
der bestehenden Institutionen.
Einen völlig anderen Zugang wählt Hartmut Elsenhans.
Ausgehend von key-nesianischen Grundannahmen und in Abgrenzung von
Marx vertritt er die These, ohne handlungsfähige subalterne
Klassen bestehe die Gefahr, dass der Kapitalismus seine Dynamik
einbüße. Angesichts der komplexer gewordenen Bedingungen
reiche heute aber die einfache Steigerung von Einkommen nicht mehr
aus.
Die dependenztheoretische Annahme, dass die Dominanz der
kapitalistischen Industrieländer des „Zentrums“
den Aufstieg der „Peripherie“ dauerhaft ver-hindere,
wird vielfach mit der klassischen marxistischen
Imperialismustheorie in Verbindung gebracht. Jörg Goldberg hat
die einschlägigen Arbeiten von Hilferding über Lenin,
Bucharin, Luxemburg bis Kautsky daraufhin durchge-sehen. Er kommt
zu dem Ergebnis, dass die ‚Klassiker’ sich zwar
über den ausbeuterischen Charakter des Imperialismus im klaren
waren; sie nahmen aber trotzdem an, die imperialistische Expansion
werde zur Industrialisierung der „rückständigen
Länder“ führen.
Chinas Aufstieg zur politischen Weltmacht untersucht Helmut Peters
anhand der Geopolitik der VR China gegenüber der Sowjetunion,
den USA und der „Dritten Welt“ von den 50er bis in die
70er Jahre. Die „Renaissance der chi-nesischen Nation“
als international agierende Großmacht wird als das von der KP
Chinas verfolgte „Kerninteresse“ herausgestellt, was in
der Vergangenheit unter Mao Zedong wie in der Gegenwart eine
„Dominanz des Nationalen über das Soziale“ und
ausgeprägten Pragmatismus in Politik und Ideologie der
chi-nesischen KP zur Folge hatte. Über aktuelle Diskussionen
zu Arbeitskonflikten und -kämpfen in China berichtet Rolf
Geffken.
„Problemfeldern der globalen Klassenanalyse“ widmet
sich Karl-Heinz Roth. Das internationale Proletariat meldet sich,
so Roth, in Aufständen, Revolten und Massenkämpfen
zurück, wenn auch in einer „seltsam gebrochenen“
Form, die im Selbstbewusstsein der Agierenden wie der
traditionellen Linken derzeit kaum Anschluss an vertraute Begriffe
der Arbeitergeschichtsschreibung erlauben. Auf verschiedenen
Handlungsebenen sind neue Prozesse der Klassenformierung in Gang
gekommen. Das zwingt, so der Autor, zum Nach-denken darüber,
was wir tun sollten, „um unsere verstaubten Vorstellungen von
Klassenanalyse und Klassenhandeln wieder realitätstüchtig
zu machen“.
Georg Fülberth betrachtet die sog. „Neue
Kapital-Lektüre“, die die Wert-formanalyse in den
Mittelpunkt stellt und dabei systematisch von Klassen-kampf und
Bezug auf Geschichte des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung
absieht, als eine zeitgebundene Sicht auf das Marxsche
„Kapital“. Neue As-pekte im „interaktiven
Verhältnis“ von Text, „operativen
Intellektuellen“ und kapitalistischer Wirklichkeit sieht er
in den Debatten um die Marxsche Wert-theorie nach Sraffa, in der
Herausbildung des „finanzmarktgetriebenen“
Kapi-talismus und neuem (außerakademischem) Interesse an
Kapital-Lektüre.
Wer sich über aktuelle Organisations- und
Mobilisierungsprobleme der Ge-werkschaften und deren
gewerkschaftstheoretische Fassung informieren will, findet in der
Besprechung einer neuen Studie zu „Gewerkschaftlicher
Moder-nisierung“ (Hrg. Th. Haipeter und K. Dörre) von
Lothar Peter reichliches Ma-terial. Die Autoren untersuchen
Aktivitäten und Ansatzpunkte zu einer Rück- oder besser
Neugewinnung gewerkschaftlicher Gestaltungskompetenz und
Konfliktbereitschaft unter den Bedingungen von Prekarisierung,
Arbeits-marktsegmentierung und Erosion gewerkschaftlicher
Machtressourcen.
Angesichts drohender neuer Kriegsherde im Mittleren Osten (Iran,
Syrien) und der jüngsten Erfahrung der NATO-Intervention in
Libyen ist der Beitrag von Matin Baraki zu den geostrategischen
Hintergründen des Afghanistan-Konflikts äußerst
lehrreich. Dies betrifft die Gegenwart wie die deutsche Ge-schichte
(Wilhelm II. liebäugelte ebenso wie Hitler mit Afghanistan als
geost-rategischem Aufmarschgebiet gegen das britische Empire). Die
USA erklärten Mittelasien in den 90er Jahren zur ihrer
geostrategischen Interessenzone. Schon lange vor 9/11 kam
Afghanistan dabei eine Schlüssel-Rolle
(„schwäch-stes Glied“) zu. Der Krieg gilt heute
auch bei seinen Befürwortern als geschei-tert; die NATO soll
ungeachtet dessen präsent bleiben. Baraki legt einen
Al-ternativ-Plan vor.
Aus Anlass des 250. Geburtstags von J.G. Fichte (19. Mai dieses.
Jahres) stellt Wolfgang Förster dessen maßgeblich durch
die Erfahrungen der Französi-schen Revolution und die
revolutionär-demokratische Jakobiner-Diktatur ge-prägtes
Denken vor. Im vorliegenden teil geht es um die frühen
Schriften („Wissenschaftslehre“), um
Geschichtsphilosophie und den romantischen An-tikapitalismus
Fichtes.
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In Z 88 hatten wir eine Kritik von Andreas Wehr an dem Buch
„Imperialismus“ von Deppe/Salomon/Solty
veröffentlicht, zusammen mit einer Replik der Autoren. Auf
Kritik stieß der Schlusssatz dieser Replik. Es lag nicht in
der Absicht der Verfasser, die Person Andreas Wehrs zu treffen.
Kritisiert werden sollte eine nach Ansicht der Verfasser auf den
Nationalstaat fixierte Perspek-tive, die die Bedeutung der
Transnationalisierung des Kapitalismus nicht ge-nügend
berücksichtige.
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Die neue Website von Z ist schon seit einiger Zeit frei geschaltet.
Jetzt haben wir Z auch bei Facebook ein Forum gegeben. Allerdings
ist unsere neue Ho-mepage noch nicht ganz fertig. Wir arbeiten noch
dran, die älteren Hefte ein-zustellen. Demnächst werden
die kompletten Inhaltsverzeichnisse zur Verfü-gung stehen.
Später sollen die älteren Jahrgänge sukzessive
verfügbar ge-macht werden. Wir sind zu finden unter
http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de und unter
http://www.facebook.com/pages/Z-Zeitschrift-Marxistische-Erneuerung/119188931492537.
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Z 90 wird sich schwerpunktmäßig mit dem Thema
Konservatismus/Politische Rechte befassen. Z 90 erscheint im Juni
2012.