Obwohl der globale Weltmarkt für Autos boomt, brauen sich über der Autoindustrie dunkle Wolken zusammen. Sie steht vor einer notwendigen Transformation. Ein einfaches „Weiter-so“ ist bei den sich verschärfenden Problemlagen (Klimafolgen, Abgasbelastung, Verkehrsinfarkt) nicht möglich. Lösungen sind vor allem gegen den Trend des Wachstums der Privatmotorisierung zu suchen. Die Autoindustrie muss zu einer Trendwende gezwungen werden.
Weltweite Produktion von Autos auf Hochtouren
Der Weltmarkt für Autos hat schwindelerregende Dimensionen erreicht. Der Automotor der deutschen Ökonomie brummt wieder. Im vergangenen Jahr wurden weltweit 85 Millionen Autos produziert, in Deutschland waren es 3,4 Mio. und damit 2,7 Prozent mehr als 2016.
Die deutschen Hersteller BMW, Daimler und VW haben die Nachfragedelle infolge der Finanzkrise überwunden und machen schon seit Jahren wieder hohe Gewinne – dem Dieselskandal zum Trotz. Allein im Jahr 2017 konnten VW 11,4 Mrd., BMW 8,7 Mrd. und Daimler 14 Mrd. Euro Gewinn nach Steuern verbuchen. Seit dem Jahr 2010 machten diese drei Autohersteller einen Gesamtgewinn nach Steuern in Höhe von fast 200 Mrd. Euro.
Ein besonders starkes Wachstum gab es auf dem chinesischen Pkw-Markt. Von 2005 bis 2016 nahmen dort die Verkäufe von 3,1 Mio. auf 23,6 Mio. Pkw pro Jahr zu. Die Zahl der jährlich verkauften Autos hat sich in China in diesem Zeitraum mehr als versiebenfacht. Dadurch erhöhte sich der Anteil Chinas am globalen Pkw-Markt von 7 auf 34 Prozent. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Anteil deutscher Hersteller am Pkw-Absatz in China 2015 mit 13,2 Mio. verkauften Autos (21,1 Prozent). Seitdem sinkt er. Wegen seines überdurchschnittlichen Wachstums und seiner Größe nimmt die Bedeutung des chinesischen Marktes dennoch weiter zu. Etwa jedes dritte in Deutschland hergestellte Auto wird in China verkauft.
Autoindustrie vor einer notwendigen Transformation
Auf eine Vielzahl von Herausforderungen müssen seitens der Kfz-Hersteller und ihrer Zulieferer überzeugende Antworten gefunden werden. In der globalen Konkurrenz droht einzelnen Konzernen die „Strafe ihres Untergangs“. Neben der globalen Klimakrise sind aus unserer Sicht vier Trends von herausragender Bedeutung: Die Infragestellung des Verbrennungsmotors durch das Elektroauto, die Entwicklung des automatisierten Fahrens, die abnehmende Leidenschaft jüngerer Menschen für Autos sowie die unterschiedlichen Anforderungen verschiedener Automärkte.
Steigende CO2-Emissionen – Mit Vollgas in die Klimakrise
Die vom Umweltbundesamt (UBA) vorgenommenen ersten Detailschätzungen der CO2-Emissionen des Jahres 2017 in Deutschland zeigen, dass die Emissionen in der Energiewirtschaft im Vergleich zum Vorjahr um 13,7 Mio. Tonnen oder 4,1 Prozent zurückgingen. Im Verkehrssektor dagegen stiegen die Emissionen um 2,3 Prozent oder 3,8 Mio. Tonnen auf 170,6 Mio. Tonnen. Sie liegen damit oberhalb der Emissionen des Jahres 1990 (UBA 2018).
Die Ursache dafür liegt fast ausschließlich im Straßenverkehr. Der Pkw-Bestand stieg im Jahr 2017 um rund 1,5 Prozent an, bei Lkw um 4,1 Prozent. Mit der Ausweitung der Lkw-Flotte nimmt auch die Anzahl der mit Lkw zum Gütertransport auf der Straße zurückgelegten Kilometer zu. Ermöglicht wird dies durch die systematische staatliche Bevorzugung des motorisierten Straßenverkehrs im Interesse von Kfz-Herstellern, Transportgewerbe, industriellen Produzenten (Einsparung von Lagerhaltungskosten durch just-in-time-Lieferung) und Handelsgewerbe durch ständigen Neu- und Ausbau von Straßen. Die Pakete dafür werden regelmäßig im Bundesverkehrswegeplan geschnürt. Als Begründung dienen an den dominierenden Interessen orientierte Verkehrsprognosen mit der Annahme eines zu erwartenden Verkehrswachstums. Hier gibt es zudem einen Teufelskreis aus Prognose und Infrastrukturausbau, der zu einer stetig steigenden Kapazität der Straße für den Güterverkehr und motorisierten Individualverkehr führt – und ein tatsächliches Wachstum des Verkehrs nach sich zieht (sog. induzierter Verkehr). Der zweite Grund ist der von den Herstellern gesetzte Trend zu immer größeren und schwereren und für sie lukrativen Autos. SUVs (Sport Utility Vehicles) sind das Symbol für diese Entwicklung (UBA 2018). 2017 wurden gegenüber dem Vorjahr 22,5 Prozent mehr SUVs in Deutschland zugelassen (KBA 2018). Zwischen 2012 und 2016 hat sich der Bestand von SUV und Geländewagen in Deutschland von 836.000 auf 1,8 Mio. mehr als verdoppelt. SUVs sind besonders schwer: Das durchschnittliche Leergewicht betrug bei den in Deutschland 2017 verkauften SUVs ca. 1,535 Tonnen. Sie haben eine hohe Motorleistung: bei Neufahrzeugen 2017 im Durchschnitt 148 PS (Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE 2018). Beide Faktoren haben zusammen mit der aerodynamisch ungünstigeren Form einen überdurchschnittlichen Kraftstoff-Verbrauch der Fahrzeuge zur Folge.
Durch die steigenden Emissionen trägt der Verkehrssektor dazu bei, dass die Klimaziele für die Bundesrepublik nicht erreicht wurden. So hat Deutschland seine Emissionen zwar bis zum Jahr 2016 gegenüber 1990 um 27,3 Prozent senken können (wozu in hohem Maße die De-Industrialisierung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR beitrug); das für 2020 angestrebte Minderungsziel um 40 Prozent (UBA 2018) wird jedoch absehbar deutlich verfehlt und wurde daher von der neu gebildeten Großen Koalition kurzerhand aufgegeben.
Das Elektroauto ist nicht die Lösung
Herrschende Politik und Autoindustrie sind sich weitgehend einig: Das Elektroauto sei die Lösung für unsere zukünftige Mobilität. Die Gründe für diese Schwerpunktsetzung liegen auf der Hand: Der erforderliche Strukturwandel im Verkehrssektor wäre bei diesem Kurs minimal, denn es werden weiter massenhaft Autos produziert – nur eben mit einem anderen Antriebssystem. Das Versprechen: Der Wachstumskurs der Automobilindustrie könnte fortgesetzt werden, die dortigen Arbeitsplätze blieben zumindest zu großen Teilen erhalten.
Tatsächlich wäre die massenhafte Umstellung auf Elektroautos aber völlig unzureichend, denn die Rechnung geht aus mehreren Gründen nicht auf. Das erste Problem dabei ist der Energiebedarf: Aktuell stammt nur ein Drittel des Stroms im deutschen Netz aus erneuerbaren Quellen. Der Löwenanteil wird noch immer aus Stein- und Braunkohle gewonnen, und die Umstellung auf 100 Prozent erneuerbare Energien ist noch in weiter Ferne. Elektroautos steigern die Nachfrage nach elektrischem Strom immens – und sorgen damit letztlich dafür, dass Kohlekraftwerke weiterlaufen. Öffentlicher Verkehr und E-Bikes (Pedelecs) verbrauchen hingegen nur einen Bruchteil der Energie auf der gleichen Strecke (vom Fahrrad- oder Fußverkehr ganz zu schweigen).
Das zweite Problem sind die Ressourcen: Erst nach vielen Jahren Nutzung ist die Ökobilanz eines Elektroautos etwas besser als die eines Autos mit Verbrennungsmotor. Der Grund ist die aufwändige Produktion insbesondere der Batterien. Deren begrenzte Lebensdauer verschlechtert die Bilanz zusätzlich. Hinzu kommt: Es werden Ressourcen wie Lithium und seltene Erden benötigt, meist in anderen Teilen der Erde exklusiv und unter Ausbeutung der dortigen Arbeitskraft und unter hohen Umweltbelastungen gefördert.
Das dritte große Problem sind die Rebound-Effekte: Elektroautos werden bislang überwiegend als zusätzliche Pkw gekauft; nur 40 Prozent ersetzen tatsächlich andere Autos. Damit fördert die Elektroauto-Kaufprämie vor allem Zweit- und Drittwagen für Besserverdienende. Untersuchungen zeigen außerdem, dass ein Elektroauto nach dem Kauf auch viele Fahrten mit dem öffentlichen Verkehr ersetzt – weil die Nutzung (variable Kosten) nach der einmaligen Finanzierung des Kaufpreises (Fixkosten) relativ günstig ist: Strom ist aufgrund der Steuerbelastung günstiger als Diesel oder Benzin, es gibt Gratis-Stellplätze und das scheinbar positive Öko-Image gleich obendrauf.[1] Die Wirkung auf Umwelt und Klima ist dann jedoch letztlich bestenfalls neutral, wenn nicht sogar negativ – wie auch schon bei vielen anderen vorgeblichen Effizienzmaßnahmen.
Und an vielen Problemen des massenhaften Autoverkehrs ändert das Elektroauto überhaupt nichts: Bevorzugung der Privatmotorisierung und des straßengebundenen Güterverkehrs, Unfälle mit vielen Toten und Verletzten, der enorme Flächenverbrauch, die Versiegelung durch Straßen und Parkplätze und nicht zuletzt die Verhinderung selbständiger Mobilität für Menschen, die kein Auto besitzen oder aufgrund von Alter oder körperlicher Einschränkungen keines nutzen können – und die stattdessen einen guten öffentlichen Verkehr benötigen.
Daher können Elektroautos und Elektrolieferwagen im Rahmen einer echten Verkehrswende-Politik zwar wichtige Funktionen als Zubringer zum öffentlichen Verkehr in dünn besiedelten Regionen und im Liefer- und Wirtschaftsverkehr haben. Festzuhalten ist aber: Eine einfache Auswechselung des Antriebssystems aller Autos bei Aufrechterhaltung des bestehenden Verkehrssystems ist keine Lösung. Stattdessen benötigen wir eine echte Verkehrswende, welche vor allem öffentliche Alternativen zum Kfz-gebundenen Verkehr fördert.
IT-Branche forciert automatisiertes Fahren
Im Bereich des automatisierten Fahrens treten neben den etablierten Autokonzernen neue Anbieter aus dem Bereich der Internet- bzw. Plattformwirtschaft wie Alphabet Inc. (Mutterkonzern von Google) oder der Konzern UBER[2] an. Mit diesen neuen Akteuren hält auch eine neue Logik Einzug in die Branche. In ihrem Verständnis wird Mobilität zu einer Dienstleistung. Die Internetkonzerne sind nicht an Produktion und Verkauf des Fahrzeuges interessiert, sondern an der abzuschöpfenden Dateninteraktion mit den Nutzer*innen. Daraus ziehen sie ihren Profit. Die Automobilhersteller werden auf die Funktion als Zulieferer heruntergestuft. Zum steuernden Zentrum wird mehr und mehr der IT-Konzern.
Da sich die Autokonzerne durchaus bewusst sind, dass sie den Anschluss in der Nutzung von IT nicht verlieren dürfen, entfalten sie eigene Aktivitäten wie stationsloses CarSharing oder Shuttle-Service als Zwitter zwischen Taxi und ÖPNV. So bietet VW in Hannover für ausgewählte Kund*innen ein Shuttle-Service per App auf dem Smartphone an. Die Kund*innen geben Standort und Ziel ein, das Unternehmen bündelt die Fahranfragen verschiedener Personen. Die Routenführung ist dynamisch, d.h. die Fahr- und Ankunftszeiten wie auch die Start- und Endhaltestellen ändern sich abhängig von der Datenlage. Abgerechnet wird zu einem Preis unterhalb der anfallenden Betriebskosten – auch um die Betriebsgenehmigung[3] zu umgehen. In ihrer Methodik haben die Autokonzerne also bereits von der IT-Konkurrenz gelernt. Diese Strategien der Autokonzerne könnte bei flächenhafter Anwendung dem ÖPNV ernsthaft Kundschaft wegnehmen, da das Modell besonders auf profitablen innerstädtischen Strecken attraktiv ist (Krull 2018).
Automatisiertes Fahren könnte aber auch zur Marktausweitung eingesetzt werden, denn schließlich könnten bisher nicht legal eigenständig mit Autos selbst fahrende Personengruppen wie Jugendliche, Kinder und ältere Menschen künftig mit einem selbstfahrenden Auto unterwegs sein – Elterntaxi war gestern (SRU 2018: 116). Auch die Bestellung leer angeforderter Autos kann die Menge an Autoverkehr erhöhen – oder wenn das selbstfahrende Auto statt zu parken in den Bereichen unterwegs wäre, in denen von den programmierten Algorithmen Nachfrage erwartet wird.[4]
Hinter den genannten Strategien steht die Absicht der Autokonzerne, so lange wie möglich Autos mit Verbrennungsmotor in maximaler Zahl zu verkaufen, um ihr bisher bestehendes profitables System der Kapitalverwertung aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig suchen sie nach neuen Geschäftsfeldern wie Carsharing und neuen Arten der Organisation von Arbeit – wie die Ausnutzung der Szene von Start-up-Unternehmen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Das Auto verliert seinen Status
Gerade bei Jüngeren hat das Auto in den letzten Jahren an Status verloren. Die Gruppe derjenigen, für die das Auto erstrebenswertes Symbol für Männlichkeit und Dominanz ist, wird offenbar kleiner. Stattdessen werden andere Gegenstände als Waren mit Fetischcharakter mit Bedeutung aufgeladen.
Junge Erwachsene setzen eher auf die Nutzung verschiedener Verkehrsmittel, sie sind multimodal unterwegs. Je nach Einsatzzweck, Begleitung, Laune oder Wetter kann dies die Nutzung von Autos im Carsharing bzw. Ride-Sharing, das Taxi, öffentliche Verkehrsmittel, das eigene oder ein gemietetes Fahrrad umfassen. Das Auto ist Teil dieses Bündels von Mobilitätsoptionen, aber es ist nicht mehr zentral und auch sehr viel weniger emotional aufgeladen. In Deutschland wurde dieser Trend mit der Veröffentlichung der Studie „Mobilität in Deutschland“ (2010) sichtbar. Bei den 18- bis 24-jährigen aus größeren Städten zeigte sich, dass von ihnen „nur noch“ 31 Prozent täglich ein Auto nutzen, zwölf Prozent weniger als in der Befragung sechs Jahre zuvor. Demgegenüber nutzten 56 Prozent täglichen den Öffentlichen Personennahverkehr, fünf Prozent mehr. In der Altersgruppe der 25- bis 44-Jährigen nimmt vor allem die Fahrradnutzung zu (Adler 2011: 65). In den Jahren 2016 und 2017 fanden erneut Befragungen statt, denen zufolge der Trend „weniger Auto-Mobilität der jüngeren Generation in den großen Städten“ gemäß der vorab veröffentlichten Ergebnisse weiter anhält. Trotzdem wächst die Auto-Flotte bisher weiter, insbesondere weil in der älteren Generation die Auto-Mobilität weiter zunimmt (www.mobilitaet-in-deutschland.de).
Unterschiedliche Anforderungen verschiedener Automärkte
Mit jährlich 24 Millionen neuen Pkw ist China bereits heute der größte Automarkt der Welt. Zweitstärkster nationaler Markt für Autos sind mit großem Abstand die USA mit etwa 17 Millionen Neufahrzeugen jährlich. Mit drei Millionen neuen Autos pro Jahr ist der Binnenmarkt der deutschen Autohersteller dagegen vergleichsweise klein (Menzel 2018).
Anders als in Europa boomt in China der Markt für Elektroautos. Im vergangenen Jahr wurden dort 800.000 rein batteriebetriebene Autos und Hybride verkauft. In diesem Jahr soll die Zahl auf 1 Million verkaufte Elektroautos steigen. Mit weiterem Wachstum ist zu rechnen, denn die chinesische Staatsführung verlangt ab dem kommenden Jahr von den Autoherstellern, dass mindestens jedes zehnte von ihnen verkaufte Fahrzeug ein Elektroauto sein muss. Höhere Reichweiten der E-Autos führen zu einer niedrigeren Pflicht-Quote (SZ 28.9.2017). In den folgenden Jahren wird die Quote weiter ansteigen.
Ganz anders funktioniert hingegen der US-Automarkt. Dort sind vor allem SUVs und Pick-up Trucks gefragt. Am häufigsten wurden dort in den vergangenen Jahren Fahrzeuge der F-Reihe von Ford verkauft – und die zeichnen sich nicht durch Sparsamkeit aus. Der Ford F-150 Raptor (dt. „Raubvogel“) beispielsweise hat nach US-Norm einen Verbrauch von 16,2 l auf 100 km. Da sich die Umweltpolitik der Trump-Administration vor allem durch Industrienähe auszeichnet, ist in den nächsten Jahren nicht damit zu rechnen, dass sich der Druck auf die Industrie erhöht, verbrauchsarme Fahrzeuge zu produzieren oder einen Weg in Richtung Elektromobilität einzuschlagen.
Die globale Autoindustrie befindet sich weiterhin in einer Phase des Booms. Es türmen sich aber mehr und mehr Hindernisse vor ihr auf. Die Klimaerwärmung nimmt zu und stellt das bestehende Verkehrssystem auf Basis der Verbrennung fossiler Ressourcen in Frage. Die etablierten Autohersteller werden über das automatisierte Fahren durch IT-Unternehmen herausgefordert. Gleichzeitig ist die Nachfrage in den nationalen Märkten sehr unterschiedlich. Während beispielsweise die US-amerikanische Autoindustrie weiterhin fossile Spritschlucker wie SUV bewirbt, setzt China zunehmend auf das Elektroauto, welches auch in Deutschland als Heilsbringer angepriesen wird, in Wirklichkeit aber neue Ressourcenprobleme schafft und weiterhin zu viel städtischen Raum belegt.
Mobilitätsverhalten jenseits des Autos stärken
Eine Verkehrswende bedeutet an erster Stelle die drastische Umkehrung des Trends zu fortgesetztem Wachstum des (motorisierten) Verkehrs. Dies setzt grundsätzlich voraus, dass der entscheidende Einfluss der „Angebotsseite“, d.h. der Autoindustrie, auf die Gestaltung des Verkehrssystems und der Mobilitätskonzepte zurückgedrängt und gebrochen wird und ihr gesellschaftliche Alternativziele aufgezwungen werden. Anders als oft dargestellt muss ein Rückgang des (motorisierten) Verkehrs keinen Verlust an Mobilität bedeuten. Dafür ist die klare Unterscheidung zwischen Mobilität und Verkehr entscheidend: Wir können unsere Mobilitätsbedürfnisse auf ganz unterschiedliche Art befriedigen, und Verkehr ist immer nur eine eigentlich unerwünschte Konsequenz dieser Befriedigung. Nahräumliche Strukturen können dafür sorgen, dass dies mit sehr viel weniger Verkehr möglich ist – seien es Arbeitsstellen und Ausbildungsstätten nahe am Wohnort, dezentrale Möglichkeiten der Freizeitgestaltung oder nahegelegene Einkaufsmöglichkeiten. Verkehrswendepolitik ist daher immer auch Strukturpolitik: Statt ein fortgesetztes Verkehrswachstum als Selbstzweck anzusehen und immer stärker zentralisierte Strukturen und Verkehrswege für immer mehr Verkehr zu bauen wie bisher, muss eine Reduktion des Verkehrs im Mittelpunkt stehen – zugunsten von Lebensqualität, Klima und Umwelt.
An zweiter Stelle muss es darum gehen, den verbleibenden Verkehr zu möglichst großen Teilen auf den Umweltverbund zu verlagern – das heißt die Menschen so weit wie möglich aus dem Auto (und dem Flugzeug) zu holen und Zu-Fuß-Gehen, Fahrradfahren und öffentlichen Verkehr zu fördern. Dafür muss die Infrastruktur für alle drei Verkehrsarten entscheidend verbessert werden. Beim öffentlichen Verkehr muss auch in vielen – insbesondere ländlichen – Regionen das Angebot stark verbessert werden, mit neuen Linien und häufigeren Verbindungen. Dabei kommt der Bahn eine besondere Rolle zu, weil sie das Rückgrat des Umweltverbunds für alle längeren Strecken ist. Um die Verknüpfungen innerhalb des öffentlichen Verkehrs entscheidend zu verbessern und damit die Attraktivität zu erhöhen, müsste ein deutschlandweiter integraler Taktfahrplan alias „Deutschlandtakt“ umgesetzt werden. Das bedeutet, dass sich an allen wichtigen Knotenbahnhöfen die Züge und anderen öffentlichen Verkehrsmittel zu bestimmten Zeiten (meist zur vollen oder halben Stunde) treffen und so optimale Umstiege ermöglichen. Auch das Tarifsystem des öffentlichen Verkehrs müsste vereinheitlicht werden und damit die heutige Kleinstaaterei vieler Verkehrsverbünde ersetzen, die kundenfeindlich wirkt. In der Schweiz, die in vieler Hinsicht ein Vorbild im öffentlichen Verkehr ist, sind beide Maßnahmen schon sehr erfolgreich umgesetzt.
Eine Verlagerung auf den Umweltverbund würde die Lebensqualität insbesondere in Städten deutlich erhöhen, indem der Autoverkehr stark reduziert würde. Das würde gleichzeitig einen Teufelskreis der Verkehrserzeugung entschärfen, nämlich dass Stadtbewohnerinnen und -bewohner „ins Grüne“ ziehen oder fahren, um dem Lärm und der Luftbelastung in den Städten zu entfliehen – und beides damit oft selbst weiter verstärken. Straßen könnten stattdessen wieder viel mehr ihre ursprüngliche Funktion bekommen als Begegnungsraum, Flanierraum und Spielfläche statt nur als Rennstrecke für den motorisierten Verkehr. Begegnungszonen, Spielstraßen und Fahrradstraßen sind erste Schritte in diese Richtung.
Güterverkehr: Gegen weitere Privatisierung und Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur
Aber nicht nur der Personenverkehr müsste in großem Maßstab auf die Schiene verlagert werden, sondern ganz besonders auch der Güterverkehr. Dabei ist der Transport auf der Schiene nicht nur schonender für das Klima, sondern auch wesentlich effizienter – in Bezug auf Energieverbrauch, Verschleiß der Infrastruktur und Arbeitsaufwand. Während ein Lkw für 40 Tonnen Transport einen – heute meist unter prekären Bedingungen und zu Niedriglöhnen beschäftigten – Fahrer benötigt, kann ein Güterzug mit bis zu 6.000 Tonnen Nutzlast von einem Lokführer gefahren werden, verschleißt die für schwere Massen ausgelegten Gleise dabei sehr viel weniger als der Lkw die Straßen und Autobahnen und hat überdies auch noch eine sehr viel geringere Unfallgefahr zur Konsequenz. Auch volkswirtschaftlich spricht eigentlich alles für die Schiene. Problematisch dabei sind allerdings zum einen der entstehende Lärm und zum anderen die aufwändigen und damit teuren Prozesse beispielsweise beim Rangieren der Wagen – denn nicht alle Züge verkehren als Ganzzüge vom Ursprungs- zum Zielort, sondern für eine effektive Verlagerung auf die Schiene wird wieder sehr viel mehr Einzelwagenverkehr benötigt, der momentan stark vernachlässigt wird. Hier hat die Bahn einen enormen technischen Nachholbedarf (z.B. bei schnellen und effizienten Kupplungstechniken), der sowohl mit der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Schiene zugunsten der Straße zusammenhängt als auch mit den sehr viel längeren Investitionszyklen, die die Durchsetzung von Innovationen auf der Schiene wesentlich langsamer machen als auf der Straße.
Dass die Bahn in den letzten Jahrzehnten weit unter ihren Möglichkeiten blieb, hat jedoch noch weitere Gründe. So wird sie seit Jahrzehnten systematisch benachteiligt; der Fokus der Verkehrspolitik lag vorwiegend auf dem Straßen- und dem Luftverkehr. Das zeigt sich nicht nur bei der Entwicklung der Netze – während das Straßen- und Autobahnnetz vervielfacht wurde, sind tausende von Kilometern Bahngleis stillgelegt worden –, sondern auch bei der Finanzierung: Sowohl der Straßen- als auch der Luftverkehr genießen umfangreiche Steuerprivilegien (Dieselsteuerprivileg, Dienstwagenprivileg, Kerosinsteuerbefreiung und Mehrwertsteuerbefreiung für grenzüberschreitende Flüge). Die größte effektive Subventionierung für die klimaschädlichsten Verkehrsmittel ist aber die Nicht-Anlastung der externen Kosten, also der Folgekosten von Unfällen, Klimaschäden, Luftverschmutzung und Lärm. All diese Kosten werden bislang von der Gesellschaft statt von den Verursachern des Verkehrs getragen, was zu der beschriebenen – volkswirtschaftlich eigentlich völlig absurden – Verteilung zwischen den Verkehrsarten führt und eine entscheidende staatliche Subventionierung der Autoindustrie darstellt.
Überdies hat die Bahn – auch dies die Folge einer Verkehrspolitik unter dem Diktat der Autoindustrie und der Privatmotorisierung – eine ungeeignete Struktur: Mit der Bahnreform von 1994 wurde sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und legt seitdem vor allem Wert auf Gewinnmaximierung und Kostenminimierung – bei gleichbleibend hohen staatlichen Zuschüssen. Während der Anteil der Schiene am Verkehrsaufkommen bestenfalls stagniert, ist die Qualität entgegen allen Versprechungen eher rückläufig, weil durch umfangreiche Sparmaßnahmen die Instandhaltung sowohl des Netzes als auch der Züge stark vernachlässigt, Linien aufgegeben und Kundenservice an entscheidenden Stellen reduziert wurde. Die Verlagerung von mehr Güterverkehr auf die Schiene gelingt vor allem auch aus strukturellen Gründen nicht, da die Qualität unzureichend ist und Innovationen kaum finanziert werden können.[5] An einigen Stellen im Netz – besonders an den Knotenpunkten – sind überdies umfangreiche Investitionen in das Bahnnetz notwendig, um überhaupt technisch mehr Güterverkehr auf die Schiene verlagern zu können. Auch damit wird es bei dem heutigen Güterverkehrsaufkommen jedoch nicht möglich sein, einen wesentlich größeren Anteil auf die Bahn zu verlagern. Daher ist es absolut unerlässlich, das Transportvolumen insgesamt deutlich zu verringern, damit von dem dann verbleibenden Volumen ein wesentlich größerer Anteil auf der Schiene gefahren werden kann. Somit ist auch hier wieder ganz entscheidend die Verkehrspolitik gefragt, die ein Wachstum des Transportaufwands nicht länger mit dem Wachstum von Lebensqualität verwechseln darf und stattdessen Maßnahmen entwickeln muss, um unnötige Transporte zu vermeiden. Dazu gehören neben der Internalisierung der externen Kosten an vielen Stellen auch ordnungspolitische Maßnahmen. Dass eine gezielte Verlagerung auf die Schiene möglich ist, zeigt die Schweiz, wo inzwischen 71 Prozent des alpenquerenden Güterverkehrs über die Schiene laufen.
Literatur
Adler, Michael 2011: Generation Mietwagen. Die neue Lust an einer anderen Mobilität. München.
Bahn für Alle 2018: Alternativer Geschäftsbericht der Deutschen Bahn AG. Jährlich herausgegeben und abzurufen unter www.bahn-fuer-alle.de.
Becker, Udo 2016: Grundwissen Verkehrsökologie. Grundlagen, Handlungsfelder und Maßnahmen für die Verkehrswende. München.
Brand, Ulrich und Wissen, Markus 2017: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München, 3. A.
Daum, Timo 2018: Das Auto im digitalen Kapitalismus. Dieselskandal, Elektroantrieb, autonomes Fahren und die Zukunft der Mobilität. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Giesen, Christoph und Hägler, Max: China führt Quote für E-Autos ein. Süddeutsche Zeitung 28.9.2017.
Haas, Tobias 2017: Vom Mythos des „Klimaretters“. Die sozial-ökologischen Schattenseiten des deutschen Kapitalismus. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung.
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE 2018: Trend zu schweren, schnellen und leistungsstarken Autos und die Einhaltung von Klimaschutzzielen. BT-Drs. 19/1162, vom 13.3.2018.
Knierim, Bernhard und Wolf, Winfried 2014: Bitte Umsteigen! 20 Jahre Bahnreform. Stuttgart.
Kraftfahrt-Bundesamt 2018: Jahresbilanz für die Fahrzeugzulassungen in Deutschland im Jahr 2017. Pressemitteilung vom 4. Januar 2018.
Krull, Stephan 2018: Mobilitäts- und Verkehrswende – für wen, mit wem und wohin? In: Sozialismus 3/2018.
Menzel, Stefan 2018: China – Weltmacht bei Elektroautos. Handelsblatt 19.1.2018.
MOIA 2017: MOIA entwickelt Ridepooling-Konzept im Realtest. Pressemitteilung 6. 9. 2017 (https://dslh0kikei2uz.cloudfront.net/fileadmin/user_ upload/ content/press/ download/2017.09.06_MOIA_Servicetest_ Hannover. pdf).
Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) 2017: Umsteuern erforderlich: Klimaschutz im Verkehrssektor. Sondergutachten. November 2017. Berlin.
Umweltbundesamt 2018: Klimabilanz 2017: Emissionen gehen leicht zurück. Niedrigere Emissionen im Energiebereich, höhere im Verkehrssektor. Pressemitteilung 26.3.2018 (https://www.umweltbundesamt.de/presse/ pressemitteilungen/klimabilanz-2017-emissionen-gehen-leicht-zurueck).
UPI 2017: Ökologische Folgen von Elektroautos. Ist die staatliche Förderung von Elektro- und Hybridautos sinnvoll? Heidelberg: UPI Bericht Nr. 79. 2., aktualisierte Auflage. August 2017 (http://www.upi-institut.de/UPI79_Elektro-autos.pdf).
Wilkens, Andreas 2018: Tödlicher Unfall mit Roboter-Auto. UBER einigt sich mit den Hinterbliebenen. Heise 29.3.2018 (https://www.heise.de/newsticker/meldung/ Toedlicher-Unfall-mit-Roboter-Auto-Uber-einigt-sich-mit-Hinterbliebenen-4008348.html).
[1] So eine Studie aus Norwegen, wo es aufgrund der großzügigen Förderung einen wesentlich größeren Anteil an Elektroautos gibt – aufgearbeitet in der Studie des UPI 2015.
[2] UBER vermittelt Fahrten über eine Smartphone-App. Die Fahrer sind selbständig, daher spart UBER die Kosten für die Sozialversicherung. Uber konkurriert weltweit mit etablierten Taxiunternehmen. Seine Tests mit dem automatisierten Fahren gerieten unlängst durch einen tödlichen Unfall mit einer Fußgängerin in die Schlagzeilen.
[3] Das Personenbeförderungsgesetz gilt nur, wenn das Gesamtentgelt die Betriebskosten der Fahrt übersteigt (§1).
[4] Für den Versand von Paketen hat Amazon bereits ein Patent mit entsprechender Logik angemeldet. Pakete werden bereits an Paketzentren geliefert, weil dort von Amazon eine entsprechende Bestellung erwartet wird (SZ 21.1.2014).
[5] Ausführliche Analyse in: Knierim und Wolf (2014). Aktuelle Aspekte finden sich außerdem bei Bahn für Alle (2018).