Im heutigen China besteht eine sehr widersprüchliche Klassensituation. Neben dem grundlegenden Widerspruch zwischen Sozialismus und Kapitalismus hat sich in letzter Zeit der Widerspruch zwischen den herrschenden staatskapitalistisch-nationalistischen Kräften und der privatkapitalistischen Bourgeoisie verschärft. Damit steht die Lösung dieses Widerspruchs an. Die Einbeziehung des ökonomisch starken Privatkapitals ist neben der festen Geschlossenheit der Nation eine unbedingte Voraussetzung für die Verwirklichung des ‚Chinesischen Traums‘, China als Supermacht neuen Typs erstehen zu lassen. Beides lässt jedoch nur eine „reformistische Lösung“ dieses Widerspruchs zu. Sie zeichnet sich gegenwärtig vor allem in Bestrebungen ab, das Privatkapital durch Bildung von Mischeigentum in das staatskapitalistische Eigentum einzubinden und von Parteisekretären geführte Aktiengesellschaften zu gründen. Das ist offensichtlich der gesellschaftliche Hintergrund für die ideologische Auseinandersetzung des bekannten chinesischen Marx-Forschers Zhang Guangming mit „einigen selbst ernannten Marxisten“, die einem „ideologischen Wandel von Marx und Engels zwischen Früh- und Spätwerk“ das Wort reden. Inzwischen haben sich auch Kräfte zu Wort gemeldet, die im Privatkapitalisten den Vertreter der modernen Produktivkräfte sehen und deshalb unter Berufung auf Dokumente der 3. und 4. Generation der Führung der KP Chinas vehement behaupten, dass der Sozialismus in China mach schwedischem Beispiel nur mit Hilfe dieser „Erbauer des Sozialismus“ errichtet werden könne.
Der Beitrag bietet darüber hinaus einen knappen, aber bedeutsamen Einblick in den Bereich „Marx in der chinesischen Gesellschaft“. Zhang gehört zu jenem Teil der chinesischen Hochschulintelligenz, der sich in seiner Tätigkeit eine eigenständige sachlich-kritische Einschätzung bewahrt hat.
Helmut Peters
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In China steht heute Demokratisierung an erster Stelle, wenn es darum geht, Probleme zu lösen und sozialen Fortschritt zu fördern. An diesem Thema hat sich zwischen verschiedenen Denkschulen in China ein tiefgehender Streit entzündet. Den Neoliberalen gilt Marx‘ Theorie als nicht mit Demokratisierung vereinbar, während einige selbst ernannte Marxisten in der Volksrepublik jenen Prozess mit der Annahme eines „ideologischen Wandels von Marx und Engels zwischen Früh- und Spätwerk“ (hiernach „Die Annahme“ genannt) theoretisch zu unterfüttern versuchen. Mit diesem Artikel widerspreche ich diesem Vorgehen. Meiner Meinung nach bedarf der Prozess der Demokratisierung keiner ideologisch verfälschten theoretischen Basis; er stellt sich in China als notwendige und mühsame, aber letztlich konkrete Aufgabe.
I
Zunächst seien die Hauptargumente der „Annahme“ kurz vorgestellt, namentlich die Kernthese, Band III des Kapitals sei die Negation zu Band I (im Folgenden „das Argument“ genannt).
Als das unbestrittene Hauptwerk von Marx genießt das Kapital den Ruf, schwer zugänglich zu sein; ein Umstand, der viele Gelegenheitsleser vor der Lektüre hat zurückschrecken lassen. Noch weniger haben sich eingehend mit den Folgebänden auseinandergesetzt. Und wenn auch selten ganz durchgelesen, so haben es doch zumindest einige Sätze aus Band I ob ihrer revolutionären Tendenz zu einiger Berühmtheit gebracht. Das schwere Buch in den Händen wiegend werden die meisten Leser einige flüchtige Blicke hineinwerfen, ohne Geduld für das Verständnis langer ökonomischer Analysen, Beweisführung und Beispiele aufzubringen. Was jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hängen bleiben wird, ist die abschließende Sentenz: „Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“[2]
Und dennoch, im Laufe des 20. Jahrhunderts entstand ein Problem: Nach mehr als 140 Jahren unterschied sich die Situation der Welt erheblich von dem, was in diesem Meisterwerk vorhergesagt worden war. Während sich die Tendenz zu in hohem Grad vergesellschafteter Produktion bestätigte, traten viele von Marx‘ Annahmen im Gang der Geschichte nicht ein: Weder führten die inneren Gesetzte des Kapitalismus zu intensiveren Konflikten im Bereich der Ökonomie und der sozialen Klassen noch verelendeten die arbeitenden Massen im Zuge einer immer größer werdenden Akkumulation des Kapitals. Ganz zu schweigen davon, dass eine hohe Konzentration des Kapitals unausweichlich zu einem Ausbruch einer sozialen Revolution führte. Vielmehr sind sozialistische Revolutionen nicht in jenen westlichen kapitalistischen Staaten ausgebrochen, in denen sie von Marx erwartet worden waren, sondern in den Nationen des Ostens, die keine voll ausgebildeten kapitalistischen Phasen durchlaufen hatten. Aufgrund dieses offensichtlichen Auseinanderklaffens zwischen Theorie und Realität wurden die im Kapital aufgestellten Thesen weltweit in Frage gestellt und diskutiert. Das Für und Wider der marxistischen Theorie hat endlose, aber auch äußerst fruchtbare Debatten in der Wissenschaft ausgelöst, bei denen viele kluge Analysen des modernen Kapitalismus entstanden sind. Kurz: Trotz der vielen spezifischen Blickwinkel und unterschiedlichen Schulen sind die Probleme und Widersprüche des Kapitals nicht wegzudiskutieren. Aber – wie Hegel sagt: „Widersprüche weisen den Weg“.
Das über Jahre in China populäre „Argument“, „Band III des Kapitals ist die Negation von Band I“, hat hingegen nichts mit den internationalen Debatten zu tun, sondern stützt sich bloß auf ein vages Bauchgefühl der Beteiligten. Folgt man den Unterstützern des Arguments, so führe die in Band I erwähnte revolutionäre Tendenz eben nicht zu einem Prozess der Demokratisierung. Vielmehr hätten sich Länder ohne revolutionäre Umwälzung besser entwickelt, während diejenigen Nationen, die diese erlebt hätten, keine entwickelten demokratischen Systeme vorweisen könnten. Diese These ist ausreichend für die Schlussfolgerung, Revolutionen seien mehr Fluch denn Segen für einen Weg Richtung Demokratie. Glücklicherweise zeigte sich Marx in seinen späteren Jahren „geläutert” von revolutionären Gedanken und spätestens in Band III sei keine Rede mehr von Revolutionen irgendeiner Art. Nach dieser Logik wird der „Reformismus“ von Band III als erstrebenswert und vorzeigbar hochgehalten, während Band I nach Ansicht der Verfechter des „Arguments“ abgelehnt werden sollte.
In einem geistigen Umfeld, in dem die Delegitimierung von Revolutionen und der „Abschied vom Umsturz“ ein Allgemeinplatz ist, fallen solche neuen, „radikalen“ Vorschläge – einmal in die Welt gesetzt – auf fruchtbaren Boden. Manche Menschen wünschen sich von Herzen, den schlechten Ruf von Marx und Engels ob der revolutionären Anteile ihrer Theorie unter Zuhilfenahme solcher Behauptungen zu reinigen; andere schauen in Anbetracht des „Argument“ mit Häme auf den Sozialismus: Was für eine nutzlose Theorie! Selbst seine eigenen Begründer haben sich in späteren Jahren von ihren Kerngedanken verabschiedet!
Dem Verfasser stellt sich ob der Einigkeit derartig verschiedener Standpunkte in dieser Sache nur eine Frage: Gibt die Textgrundlage eine solche Interpretation überhaupt her? Dazu zusammengefasst die Hauptpunkte des Arguments:
Erstens wird den jungen Marx und Engels vorgeworfen, vom Kommunistischen Manifest bis zum ersten Band des Kapital „einer Art gewaltsamen Sozialismus das Wort zu reden, einer Zerstörung fortgeschrittener Produktivkräfte unter dem Banner der Befreiung der Arbeiterklasse“. Dass dieser Weg des gewaltvollen Sozialismus komplett falsch ist, habe sich am Desaster der bolschewistischen Revolution erwiesen.
Zweitens habe Marx die Wahrnehmung der immer tieferen Vergesellschaftung der Produktion, angeführt durch große Trusts und Banken, seinen Standpunkt überdenken lassen. Ein neuer Aspekt sei in Band III hervorgehoben worden: Marx schlussfolgere dort, dass in Folge des Auftretens von Aktiengesellschaften das Vermögen aufgeteilt und die Leitung der Unternehmen an professionelle Manager übertragen wird, wodurch die individuellen Kapitalisten marginalisiert würden. Daher falle der Grund weg, die „Hülle” des Kapitalismus zu sprengen, die Expropriateure zu expropriieren oder eine sozialistische Gesellschaft via Revolution an ihre Stelle zu setzen. Der Kapitalismus werde sich selbst abschaffen, der Übergang zum Sozialismus werde friedlich vonstatten gehen.
Drittens seien die Vorschläge, in der angestrebten sozialistischen Gesellschaft öffentliches Eigentum einzuführen, nicht dahingehend gemeint, dass die Produktionsmittel nun der Gesellschaft gehören, sondern dass ein jedes Mitglied derselben einen gewissen Anteil erhalte: „Das Kapital wird wieder den Produzenten gehören“ meine in diesem Zusammenhang „individuellen Besitz“. So erklärt sich die Sicht auf Band III als Antithese zur revolutionären Prämisse des ersten Teils. In anderen Worten: Der Marx des dritten Bandes hat sich in seinen späten Jahren bekehrt.[3]
Nachdem wir so die grundlegenden Aussagen des „Arguments“ umrissen haben, können wir uns an eine gründliche Untersuchung und Analyse machen, gestützt auf das Studium der Literatur und der historischen Fakten.
II
Die zu Beginn angeführte Auffassung, in Band I ziele Marx auf einen „gewaltsamen Sozialismus, der unter dem Banner der Befreiung der Arbeiterklasse auf die Zerstörung der fortgeschrittenen Produktivität ziele“ zeigt ein grundlegendes Unverständnis der Grundlagen seiner Theorie. Marx wie auch Engels haben sich solche Positionen nie zu eigen gemacht, weder im Kapital noch in anderen Arbeiten. Im Gegenteil, sie sprachen immer von Selbstemanzipation der Arbeiterklasse im Geiste des oft wiederholten Mottos: Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein.
Was aber ist der Unterschied zwischen Befreiung und Selbstemanzipation der Arbeiterklasse? Er liegt darin, dass die „Befreiung der Arbeiterklasse” die arbeitenden Massen als Objekte sieht, als arme, bemitleidenswerte Wesen, die Rettung, Bildung und Anleitung von Oben brauchen. „Selbstemanzipation” hingegen versteht dieselben Menschen als Subjekte der Geschichte, die genug Kraft besitzen, sich selber zu befreien. Während also erstere Auffassung die Erzieher und Befreier als Herz der Bewegung oder gar Retter der Arbeiter begreift, versteht letztere die Bewegung der Arbeiterklasse selbst, die proletarische Revolution und ihre Selbstverwaltung als Rückgrat des Sozialismus. Insofern existieren zwei grundverschiedene sozialistische Theorien. Die Verschiedenheit und Opposition zwischen beiden lässt sich historisch auf die Entwicklungen des Marxismus im 20. Jahrhundert zurückführen. So führt die innere Logik des Topos von der Befreiung der Arbeiterklasse unweigerlich in den autoritären Sozialismus, der sich weit vom theoretischen Verständnis von Marx und Engels fortbewegt hat.
Nehmen wir das Beispiel der russischen Revolution, schon immer Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen verschiedenen Schulen sozialistischer Theorie und Forschung. Einen der zentralen Streitpunkte stellt die Beziehung zum klassischen Marxismus dar. Schon kurz nachdem die bolschewistische Revolution begonnen hatte, kritisierten wichtige sozialdemokratische Theoretiker wie Plechanov und Kautsky, dass die russische eine Revolution gegen die Logik des Marxismus sei, was bei bolschewistischen Anführern wie Lenin oder Trotzki auf Befremden stoßen musste. In ihren Augen waren ihre Kritiker Dogmatiker, die nichts von der Wirklichkeit wussten. Andererseits kamen auch die führenden Köpfe des Oktobers nicht umhin, eine klaffende Lücke zwischen ihrer Bewegung und der Lehre des bis dato „klassischen“ Marxismus anzuerkennen. Hinzu kam, dass Rosa Luxemburg sich scharf gegen die antidemokratischen und diktatorischen Tendenzen des neuen Regimes wandte – wenn auch unter der Prämisse einer grundlegenden Solidarität mit den neuen Verhältnissen. Anders noch hielt es Antonio Gramsci, oft als Begründer des „westlichen Marxismus“ bezeichnet, welcher die Revolution gar als eine „gegen das Kapital“ begrüßte. Seiner Meinung nach war die Tatsache, dass die Bolschwiken in ihren Taten Marx widerlegten, keine schlechte Sache. Vielmehr handele es sich um ein großes Ereignis und die größtmögliche geschichtliche Tat. So, wie es sich mir darstellt, verhält es sich in der Wissenschaft ähnlich mit der Bewertung der Beziehung zwischen Russischer Revolution und klassischem Marxismus. Abgesehen von der offiziellen akademischen Zunft der Sowjetunion haben die meisten unabhängigen Wissenschaftler dieser Tatsache sowohl Rechnung getragen, als auch besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen. Um ein Beispiel zu nennen sei hier auf den britischen Politikwissenschaftler und Historiker Archie Brown verwiesen, der die Bolschewistische Revolution in seinem Buch Aufstieg und Fall des Kommunismus folgendermaßen beschreibt: „Obgleich romantisiert als Machtergreifung durch die Arbeiterklasse selbst, war die russische Revolution tatsächlich das Werk professioneller Revolutionäre, die nicht nur eine Minderheit in der russischen Gesellschaft, sondern sogar unter den russischen Sozialisten waren.“[4]
Es ist klar, dass keiner der Anstifter, Unterstützer oder Gegner der russischen Revolution diese als lehrbuchmäßig im Sinne von Marx und Engels angesehen hatte. Und doch verschließen die Unterstützer der „Annahme“ vor den hier präsentierten Fakten die Augen (vielleicht weil sie diese nicht kennen) und halten ohne nachzudenken – aus reinem Bauchgefühl heraus – die Revolution für ein ausbuchstabiertes Vorgehen nach Kapital Band I.
Wenden wir uns nun Band III des Kapitals zu.
Die Behauptung, Band I und III des Kapital widersprächen sich, ist nicht neu, sie wurde über die Jahre von vielen professionellen Ökonomen und Marxologen aufrechterhalten. Allerdings geht es dabei meistens um das Verhältnis zwischen der Durchschnittsprofitrate, wie sie in Band III dargestellt wird, und dem Mehrwert in Band I. Die Diskussion um dieses Detail reicht sogar noch weiter – vor die Veröffentlichung des dritten Bandes – zurück: Das lässt sich schon bei Engels ausführlich nachlesen.[5] Er hoffte, dass sich mit Veröffentlichung von Band III die scheinbaren Widersprüche zwischen Mehrwert und Durchschnittsprofitrate ein und für allemal auflösen würden. Doch die spätere Geschichte zeigt, dass sich Engels zu früh gefreut hatte: Zahllose Ökonomen marxistischer und nicht marxistischer Provenienz – darunter auch große Namen wie Joseph Schumpeter, Paul Sweezy und Joan Robinson – verstrickten sich über das Thema in langwierige Streitereien.[6] Es kann sein, dass die Diskussion in dieser Sache wichtig und bedeutend ist – immerhin berührt sie einen der Grundpfeiler der marxschen Ökonomie, namentlich die Werttheorie und den Mehrwert – doch letztlich ist diese zu akademisch und kleinteilig für die Unterstützer des „Arguments“. Ihnen ist vielmehr an der politischen Polarisierung der zwei Bände gelegen. Sie wollen beweisen, dass den „Bedenken gegen den Kapitalismus“ in Band III die Negation der „Zerstörung des Kapitalismus“ in Band I entgegenstünde, worin sich der „ideologische Wandel“ von Marx zeige. Diese Behauptung ist beispiellos in der Geschichte. Nicht ohne Grund: Das „Argument“ ist zu isoliert vom Rest des Werkes und die diese Position stützenden Beweise reichen nicht aus – selbst um Nicht-Marxisten zu überzeugen[7].
Denn eine einfache Tatsache ignorieren die Apologeten des „Arguments“: Die Entstehungsgeschichte des Kapital.
Aus der Zeit der Zusammenstellung der späteren zwei Bände des Kapital sind mehrere Anmerkungen von Engels über seine Arbeit an Marx Erbe zu finden. 1885, im Vorwort zum zweiten Band, erklärte Engels den Lesern, dass Buch III des Kapital (später unter der Bezeichnung Band III geführt) „[…] größtenteils 1864 und 1865 geschrieben[wurde]. Erst nachdem dies im wesentlichen fertig, ging Marx an die Ausarbeitung von Buch I, des 1867 gedruckten ersten Bandes. Dies Manuskript von Buch III bearbeite ich jetzt für den Druck”[8]. Im Vorwort des dritten Bandes, erschienen 1894, ließ Engels abermals verlauten: „Zwischen 1863 und 1867 hatte Marx […] die beiden letzten Bücher des Kapitals im Entwurf und das erste Buch in druckfertiger Handschrift hergestellt”[9].
Nun, wie sahen die Hauptpunkte des „Arguments“, die Abschnitte über Kreditinstitutionen, Trusts und Banken in Band III, im ersten Entwurf dann aus? Wurde der Charakter des ersten Entwurfs erhalten? Oder hat Engels dort im Zuge seiner Zusammenstellung insgeheim seine Gedanken an die Stelle jener seines alten Freundes gesetzt?
Wer sich Band III vorgenommen hat, weiß, dass sich die Abhandlungen über die Rolle der Kreditinstitutionen, der Aktienunternehmen und Banken in der modernen kapitalistischen Produktion hauptsächlich in Teil 5 finden lassen. Die Zeilen, welche von den Streitern für die „Annahme” zum Beweis von „Marx‘ Wandel in den späteren Jahren“ herangezogen werden, sind zumeist dem Kapitel 27 aus Teil fünf, Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion, entnommen. Wie Engels im Vorwort berichtet, waren gerade jene „Kap. 27 und 29 […] fast ganz nach dem Ms. gegeben, Kap. 28 dagegen mußte stellenweise anders gruppiert werden”[10].
Folgen wir der Editions- und Entstehungsgeschichte des Kapital, so reicht schon dies aus, die Behauptung, „Band III des Kapitals sei die finale Schlussfolgerung von Marx und Engels nach jahrelanger Erforschung des Kapitalismus“ und „Band III des Kapitals ist die Anti-These von Band I“, zu widerlegen. Die Behauptungen wurden so übereilt in den Raum gestellt, dass man dabei schlicht die Tatsache übersah, dass verschiedene Bände des Kapital zur gleichen Zeit geschrieben wurden und nicht in Reihenfolge der Veröffentlichung.
III
Eigentlich könnte ich es also bei den oben vorgebrachten Ausführungen belassen. Doch gehen wir noch etwas genauer auf die von den Apologeten angeführten Textstellen ein. Nehmen wir entgegen der Ausführungen Engels einmal an, es verhalte sich doch so, dass Band III zeitlich nach Band I verfasst worden wäre und folgen den Vertretern der „Annahme“ noch etwas in ihrer Argumentation – wie stünde es dann um die Interpretation der relevanten Stellen in Band III?
Dazu sei zunächst jener Textabschnitt von Marx zitiert, auf den sich „die Annahme“ hauptsächlich stützt: „Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.”[11]
Diesen Absatz könnte man im Sinne einer „Selbstabschaffung“ verstehen. Sie wird von den Vertretern der „Annahme“ als Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus durch Aktiengesellschaften gedeutet. Doch wer die betreffenden Zeilen studiert, kann kaum zu den gleichen Schlüssen kommen. „In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit. Es ist dies Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion ein notwendiger Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten, aber nicht mehr als das Privateigentum vereinzelter Produzenten, sondern als das Eigentum ihrer als assoziierter, als unmittelbares Gesellschaftseigentum.”[12]
Es scheint, dass dieser Abschnitt kaum nach dem Geschmack der Apologeten des „Arguments“ sein dürfte, immerhin markiert für Marx die Aktiengesellschaft nur einen „Übergangspunkt“, nach der Eigentum nicht länger privates Eigentum individueller Produzenten, sondern „unmittelbares Gesellschaftseigentum” sein wird.
Auch die folgenden Ausführungen stützen bei genauer Lektüre nicht die Position der Apologeten: „Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. […] Alle Maßstäbe, alle mehr oder minder innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise noch berechtigten Explikationsgründe verschwinden hier.[…] In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlicher und als Privatreichtum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus Die kapitalistischen Aktienunternehmungen sind ebensosehr wie die Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten, nur daß in den einen der Gegensatz negativ und in den andren positiv aufgehoben ist. […] Die dem Kreditsystem immanenten doppelseitigen Charaktere: einerseits die Triebfeder der kapitalistischen Produktion, Bereicherung durch Ausbeutung fremder Arbeit, zum reinsten und kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem zu entwickeln und die Zahl der den gesellschaftlichen Reichtum ausbeutenden Wenigen immer mehr zu beschränken; andrerseits aber die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden, – diese Doppelseitigkeit ist es, die den Hauptverkündern des Kredits von Law bis Isaak Péreire ihren angenehmen Mischcharakter von Schwindler und Prophet gibt.”[13]
Marx drückt sich hier sehr klar aus: Der mit der Entstehung von Aktiengesellschaften verbundene ökonomische Wandel vollzieht sich innerhalb des Kapitalismus, er lässt die kapitalistische Produktionsweise selbst unberührt. An-statt sie zu überwinden, werden die Widersprüche und Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft nur auf eine neue Stufe gehoben. Daher die Bezeichnung der Abschaffung als „negativ“. Da der ökonomische Wandel durch Aktiengesellschaften überdies anzeigt, dass die kapitalistische Produktionsweise selbst ausgedient hat und sich substantielle Bedingungen für den Sozialismus herausbilden, handelt es sich um eine „Aufhebung“ des Kapitalismus.
Wem die Zitate oben nicht zum Beweis ausreichen, dem sei zusätzlich Engels Einleitung in Band III ans Herz gelegt: „So kam man dahin, in einzelnen Zweigen, wo die Produktionsstufe dies zuließ, die gesamte Produktion dieses Geschäftszweigs zu einer großen Aktiengesellschaft mit einheitlicher Leitung zu konzentrieren. In Amerika ist dies schon mehrfach durchgeführt, in Europa ist das größte Beispiel bis jetzt der United Alkali Trust, der die ganze britische Alkaliproduktion in die Hände einer einzigen Geschäftsfirma gebracht hat. Die früheren Besitzer der – mehr als dreißig – einzelnen Werke haben für ihre gesamten Anlagen den Taxwert in Aktien erhalten, im ganzen gegen 5 Millionen Pfd.St., die das fixe Kapital des Trusts darstellen. Die technische Direktion bleibt in den bisherigen Händen, aber die geschäftliche Leitung ist in der Hand der Generaldirektion konzentriert. […] So ist in diesem Zweig, der die Grundlage der ganzen chemischen Industrie bildet, in England die Konkurrenz durch das Monopol ersetzt und der künftigen Expropriation durch die Gesamtgesellschaft, die Nation, aufs erfreulichste vorgearbeitet.”[14]
An dieser Stelle ist Vorsicht geboten. Hierbei handelt es sich exakt um das, was Engels später hinzufügte. Doch zu unserer Überraschung spricht er hier tatsächlich von „Expropriation“. Was in aller Welt geht hier vor sich? Hat Marx sich von seinen alten Ideen abgewendet, während Engels stur am „gewalttätigen Sozialismus“ festhielt? Und hat er – um seinen toten Freund zu ärgern – das Reizwort „Expropriation“ in seiner Einleitung hervorgehoben? Das passt allerdings auch nicht damit zusammen, dass die Anhänger der „Annahme“ Engels in seinen späten Jahren einen noch nachhaltigeren Sinneswandel attestierten als Marx. Was nun?
Die einzig sinnvolle Erklärung: Die Vertreter der „Annahme“ – verwirrt wie sie sind – haben sich in unentwirrbare Widersprüche verstrickt. Die Fakten legen nahe, dass Engels wie Marx auch in ihren späten Jahren nicht nur die „Selbst-Abschaffung“ des Kapitalismus, sondern auch die revolutionäre „Expropriierung“ propagierten; beide sahen in ihren Ausführungen die „Selbst-Abschaffung“ des Kapitalismus nur in begrenztem Rahmen von statten gehen und hielten daher die „Expropriierung“ letztlich für unausweichlich.
Und wer nochmal genau bei Marx und Engels nachschaut, wird feststellen, dass Sentenzen wie jene über die Selbstabschaffung und Expropriation des Kapitalismus sich nicht nur in den „späten“ Schriften finden, sondern auch, wenn man Band I und sagen wir die „frühmarxistischen“ Werke untersucht.
So heißt es z.B. in Kapitel 23 von Band I des Kapital: „Abgesehn hiervon bildet sich mit der kapitalistischen Produktion eine ganz neue Macht, das Kreditwesen, das in seinen Anfängen verstohlen, als bescheidne Beihilfe der Akkumulation, sich einschleicht, durch unsichtbare Fäden die über die Oberfläche der Gesellschaft in größern oder kleinem Massen zersplitterten Geldmittel in die Hände individueller oder assoziierter Kapitalisten zieht, aber bald eine neue und furchtbare Waffe im Konkurrenzkampf wird und sich schließlich in einen ungeheuren sozialen Mechanismus zur Zentralisation der Kapitale verwandelt. […] wo gewisse Kapitale so überwiegende Gravitationszentren für andre werden, daß sie deren individuelle Kohäsion brechen und dann die vereinzelten Bruchstücke an sich ziehn – oder geschehe die Verschmelzung einer Menge bereits gebildeter, resp. in der Bildung begriffner Kapitale vermittelst des glatteren Verfahrens der Bildung von Aktiengesellschaften – die ökonomische Wirkung bleibt dieselbe. Die gewachsne Ausdehnung der industriellen Etablissements bildet überall den Ausgangspunkt für eine umfassendere Organisation der Gesamtarbeit vieler, für eine breitre Entwicklung ihrer materiellen Triebkräfte, d.h. für die fortschreitende Umwandlung vereinzelter und gewohnheitsmäßig betriebner Produktionsprozesse in gesellschaftlich kombinierte und wissenschaftlich disponierte Produktionsprozesse.”[15]
Das Kreditsystem und die Aktiengesellschaften dienen der Zusammenfassung kleiner und verstreuter Kapitale. Denkt man das zu Ende, zeigt sich darin nicht auch eine Art von Selbstabschaffung? Warum heben die Apologeten des „Arguments“ Passagen in Band III hervor, die sie in Band I ignorieren?
Die gleiche Idee lässt sich auch in Marx früheren Schriften entdecken, wie in den Grundrissen von 1857-1858: „Das Wirken der Kapitalien als einzelner aufeinander wird so grade ihr Setzen als allgemeiner und Aufheben der scheinbaren Unabhängigkeit und selbständigen Bestehns der einzelnen. Noch mehr findet diese Aufhebung statt im Kredit. Und die äußerste Form, wozu die Aufhebung geht, die aber zugleich das ultimate Setzen des Kapitals in seiner ihm adäquaten Form das Aktienkapital.”[16]
„Erstens: Größe des Kapitals selbst vorausgesetzt, des in seiner Handkonzentrierten Kapitals, um Arbeiten von solcher Dimension und solchem langsamen Umschlag, Verwertung übernehmen zu können. Daher meist Aktienkapital, in welcher Form das Kapital sich durchgearbeitet hat zu seiner letzten Form, worin es nicht nur an sich ist, seiner Substanz nach, sondern gesetzt ist in seiner Form als gesellschaftliche Kraft und Produkt.”[17]
Bedeutet das nicht, dass Aktiengesellschaften die Selbstabschaffung des Individualkapitals in seiner finalen Form realisiert haben, da sie das Kapital nicht nur als Substanz voraussetzen, sondern auch als soziale Macht? Folgt man der Logik der Vertreter des „Arguments”, so müssten wir „Marx ideologischen Wandel“ vom Band III des Kapitals auf die Ökonomischen Manuskripte von 1856-1858 zurückdatieren. Denn es war das gleiche Manuskript, in dem das Wort „sprengen“ bereits auftaucht: „Niemand wird deswegen glauben, durch eine Börsenreform die Grundlagen des innren oder auswärtigen Privathandels aufheben zu können. Aber innerhalb der bürgerlichen, auf dem Tauschwert beruhenden Gesellschaft erzeugen sich sowohl Verkehrs- als Produktionsverhältnisse, die ebenso viel Minen sind, um sie zu sprengen. (Eine Masse gegensätzlicher Formen der gesellschaftlichen Einheit, deren gegensätzlicher Charakter jedoch nie durch stille Metamorphose zu sprengen ist. Andrerseits, wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie).”[18]
Wie in Band III des Kapitals taucht „Selbst-Abschaffung“ immer wieder zusammen mit „Sprengung“ auf, nur in diesem Fall erscheint es im so genannten „Frühwerk“ von Marx. Was für eine Überraschung! Wie sollen die Anhänger des Arguments das erklären?
Diese kleine Rückschau hilft, die folgenden Aspekte in einem klareren Licht zu sehen. Erstens fällt auf, dass er, entgegen der „Entdeckung” des „neuen Konzepts“ der Aktiengesellschaften durch Marx in seinen „späten Jahren“, diesem Phänomen schon recht früh seine Aufmerksamkeit widmete. Zweitens hatte er schon lange vorher die Rolle des Kreditsystems und der Aktiengesellschaften beim Übergang von kapitalistischer zu sozialistischer Produktionsweise zur Diskussion gestellt und damit nicht erst in seinen späten Jahren angefangen. Dazu kommt, dass Marx wusste, dass, obwohl sie erst Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewannen, Aktiengesellschaften schon sehr lange existiert hatten. So schrieb er über sie schon früh, dass sie „[e]ine der letzten Formen der bürgerlichen Gesellschaft“ seien. Sie „[e]rscheinen aber auch im Beginn derselben in den großen privilegierten und mit Monopol versehnen Handelskompanien.”[19] Am Ende dieser Ausführungen zeigt sich, dass die Argumente der „Annahme“ barer Unsinn sind. Ginge es nach ihnen, wären Aktiengesellschaften erst zur Zeit der Krise von 1866 das erste Mal aufgetaucht, sozusagen zur richtigen Zeit am richtigen Ort, sodass es zeitlich mit dem behaupteten ideologischen Wandel zusammenpasst. Nur dank dieses Novums habe Marx sich in einem bemerkenswerten ideologischen Schwenk von seiner Rede des „zu sprengenden Kapitalismus“ verabschiedet und nunmehr jener „Selbstabschaffung“ das Wort geredet. Lassen die Apologeten der „Annahme“ damit nicht jede Grundkenntnis von Wirtschaftsgeschichte sowie von der Höhe von Marx Verständnis der Ökonomie vermissen?[20]
IV
Wenn wir verschiedene Werke von Marx und Engels zu verschiedenen Zeiten nebeneinander legen, kommen wir genau zum gegenteiligen Schluss wie die Vertreter der „Annahme“: Marx und Engels haben „Selbstabschaffung“, „Abschaffung“ und „Expropriierung“ immer schon im gleichen Sinne verwendet. Das Argument, Band III des Kapitals sei die Anti-These zu Band I, entbehrt jeder Grundlage außer den frommen Wünschen jener Apologeten.
Wenn nach der Meinung von Marx und Engels der Kapitalismus aus historischer Perspektive unausweichlich durch den Sozialismus ersetzt wird, so gründet sich dies auf der „ökonomischen Notwendigkeit“. Es geht also weniger um „Ungerechtigkeit“, sondern um die objektiven Voraussetzungen für den Übergang, die durch den wirtschaftlichen Fortschritt innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise erst geschaffen werden.[21] Der Kapitalismus als Produktionsweise, dessen innere Triebkraft das Erstreben des höchstmöglichen Profits ist, erfüllt darin zugleich die historische Mission, die Ökonomie zunehmend zu vergesellschaften und die Entwicklung der materiellen Produktivität voranzutreiben. All dies geschieht als natürliche Konsequenz der ökonomischen Geschichte. Die kapitalistische Gesellschaft hat tatsächlich die Vergesellschaftung der Produktion vorangetrieben; auch die Konzentration und Akkumulation des Kapitals hat sich ständig ausgeweitet, genauso wie der Besitz von Produktionsmitteln mehr und mehr vergesellschaftet wurde. Letztlich hat sich so ein neuer ökonomischer Trend herausgebildet. Zu dieser Zeit kann nur durch die Umwandlung der Produktionsweise von der kapitalistischen zu einer in öffentlicher Hand, kontrolliert und organisiert durch die Gesellschaft selbst, die bereits erreichte große Produktivität geschützt und weiterentwickelt werden. Dabei handelt es sich um einen geschichtlichen Prozess, den der Kapitalismus unbewusst vorantreibt und vorantreiben muss auf dem Weg in eine zukünftige Gesellschaft. Hat der Kapitalismus diese historische Mission erfüllt, wird die ökonomische Notwendigkeit seiner Existenz verschwinden. Aus dieser Sicht ist die kapitalistische Produktionsweise von vorne bis hinten ein historischer Prozess der Selbstabschaffung. Dabei handelt es sich um einen zentralen Punkt aller drei Bände des Kapital.
Dass Marx und Engels „Selbst-Auflösung“ (oder Selbstabschaffung) in Band III häufiger benutzen, lässt sich auf deren Ansicht zurückführen, Aktiengesellschaften seien als ultimative Form der Selbstabschaffung der kapitalistischen Produktionsweise zu begreifen. Indem es sich an die Nachfrage der vergesellschafteten Produktion anpasst, sammelt das System der Aktiengesellschaften die verstreuten Kapitale ein und formt ein riesiges „gesellschaftliches Unternehmen“, in Ausmaß und Größe außer Reichweite für die vergleichsweise kleinen Betriebe und Unternehmen der Einzelkapitalisten. Im bis in die Kooperation und Organisation vergesellschafteten Prozess der Produktion wird der Privatkapitalist zum „bloßen Geldkapitalisten”[22]. „Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren”[23].Wird die materielle Grundlage des Privateigentums durch die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft selbst unterminiert, wird er als soziale Lebensform zu einem unnötigen Anhängsel der Produktion, welche objektiv die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit der neuen Produktionsweise auf Basis öffentlichen Besitzes anerkennt. Deswegen schreiben Marx und Engels resümierend auch, dass der „künftigen Expropriation durch die Gesamtgesellschaft, die Nation, aufs erfreulichste vorgearbeitet“ sei, und dass das Aktienwesen „eine Aufhebung der kapitalistischen Privatindustrie auf Grundlage des kapitalistischen Systems selbst ist“[24]. „Expropriierung” und „Abschaffung” verweisen bei Marx auf ein und denselben historischen Prozess.
Die Leser mögen sich nun fragen: Muss der Wechsel der Produktionsweisen notwendig in Form einer „Expropriierung“ vonstatten gehen? Wäre ein friedlicher Übergang nicht der bessere Weg? Um das zu verstehen, müssen wir uns einen Kerngedanken von Marx und Engels vornehmen. Nach ihrer Theorie decken sich die objektiven Anforderungen der ökonomischen Entwicklung nicht mit den Interessen verschiedener Klassen. Der grundlegende Trend sozialer und ökonomischer Entwicklung erfordert objektiv den Ersatz der kapitalistischen durch eine sozialistische Produktionsweise, deren Produktionsmittel sich in öffentlichem Besitz befinden. Für die Kapitalisten ist das bekanntermaßen inakzeptabel, es steht ihrem Interesse als Produktionsmittelbesitzer entgegen. Es entsteht ein Konflikt zwischen den allgemeinen Interessen der sozialen Entwicklung und dem Partikularinteresse einer gewissen Klasse. Während Einzelne ihren Vorteil aus hohen moralischen Gründen zurückstellen mögen, so ist das einer ganzen Klasse nicht möglich. Dies ist der Grund, warum Marx und Engels glaubten, dass die „Abschaffung“ in Form der „Expropriierung“ vollzogen werden müsse. Beide glaubten, dass es im ureigensten Interesse der Arbeiterklasse läge, die Sozialisierung der Produktionsmittel anzustreben, dass sie die „Expropriierung“ in die eigenen Hände nehmen würden. Sie malten sich aus, dass die kapitalistische Produktionsweise aufhören würde, die gesellschaftliche Produktivität voranzutreiben und die Arbeiterklasse als Opfer dieser Entwicklung die Kapitalisten aus Eigeninteresse expropriieren würde, all das in Erfüllung ihrer historischen Mission, vorbereitet durch die „Selbst-Abschaffung“ des Kapitalismus. Dergestalt handelt es sich in Marx und Engels Augen bei „Expropriierung“ und „Selbst-Abschaffung“ um komplementäre Komponenten der historischen Entwicklung. Im Vorwort der ersten deutschen Auflage von Band I des Kapital schreibt Marx: „Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.”[25] Dieser Abschnitt kann hier als Beispiel für unsere Ausführungen gelesen werden.
In meinen Augen haben Marx und Engels es nicht vermocht, die tatsächliche Entwicklung der Geschichte theoretisch zu antizipieren. Die kapitalistische Produktionsweise hat zwar tatsächlich in großem Umfang die Sozialisation der Produktion vorangetrieben und objektiv nach einer Abschaffung dieser Produktionsweise verlangt; auch lässt sich dieser Trend an der Entwicklung und Veränderung der Weltwirtschaft in den Folgejahrzehnten nachvollziehen. In diesem Sinne behielten Marx und Engels also Recht. Doch ein Wechsel der Eigentumsverhältnisse, wie sie Marx und Engels vorhergesagt hatten, blieb in der historischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts größtenteils aus. Wie weithin bekannt, schenkten Marx und Engels der Frage, wer die Produktionsmittel besitzt, große Aufmerksamkeit und hielten es für den wichtigsten Aspekt von allen. Sie glaubten fest daran, dass eine Produktion mit hohem Vergesellschaftungsgrad ohne eine fundamentale Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und Übertragung der Produktionsmittel an die Öffentlichkeit nicht bestehen könne. Doch die Entwicklung zeigte, dass der hohe Vergesellschaftungsgrad der Produktion, welcher sich im Prozess seiner vermeintlichen „Selbstabschaffung“ gebildet hatte, auch ein massives Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums mit sich brachte. Auf der Basis dieser Expansion der materiellen Basis haben auch die arbeitenden Massen und „normalen Menschen“ einige Vorteile durch die Kämpfe der Arbeiterklasse und sozialdemokratischer Bewegungen erringen können. Letztere war aber zugleich als Bewegung dafür verantwortlich, der Arbeiterklasse das revolutionäre Bewusstsein und die historische Mission der „Expropriierung“ auszutreiben. Unter dem Eindruck dieser geschichtlichen Entwicklungen ist die Theorie von Marx, die ökonomische Expansion des Kapitalismus führe unweigerlich zur „Expropriierung der Expropriateure“, kaum mehr haltbar. Unter der Prämisse, jeder grundlegenden Revolution in den Besitzverhältnissen zuvorzukommen, hat die kapitalistische Produktionsweise die Anforderungen derselben nach einer tieferen Vergesellschaftung durch eine ganze Anzahl kleinerer Teilreformen mehr oder weniger befriedigt. Daher hat sich – mehr unbewusst – eine grundlegende Transformation nach der Methode der graduellen „Selbstabschaffung“ vollzogen, welche die hauptsächlichen Tendenzen der ökonomischen Entwicklung der entwickelten Industrienationen im 20. Jahrhundert formte. Heutige Wissenschaftler sollten diese Realität anerkennen, auf die hilfreiche Methodologie von Marx und Engels Theorie zurückgreifen und jenseits der durch ihre Zeit begrenzten Erkenntnisse einen Blick auf die Weltwirtschaft werfen. Wir sollten vorsichtig und gründlich die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung nach Marx und Engels studieren, uns noch mal die inneren Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise vornehmen und das Geheimnis um die lang anhaltende Existenz und graduelle Evolution des Kapitalismus lüften. Ziel sollte ein neues Kapital sein, eines, das durch ökonomische Analyse den Veränderungen des Kapitalismus im 20. Jahrhunderts Rechnung trägt. Dies wäre der richtige Ansatz für eine wissenschaftliche Untersuchung. Beim „real existierender Sozialismus“, wie er im 20. Jahrhundert in Russland und in Osteuropa entstand, handelte sich hingegen um einen „Sozialismus ohne Gesellschaft“, in dem sich das zentralisierte politische System weit oberhalb der Gesellschaft platzierte. Als Leviathan in modernem Antlitz erwies er sich als maßloses Übel und hat grundlegenden Schaden angerichtet. Die Gründe dafür sind durch die historische Analyse der komplexen Wechselwirkung zwischen Weltwirtschaft und Politik zu eruieren.
Was nun abschließend den Standpunkt der Apologeten der „Annahme“ angeht: Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht an eine Abkürzung des Wegs zur Demokratie. Ich habe das Chaos in der akademischen Welt gesehen, das dadurch angerichtet wurde. Und doch liegt mir fern, alles auf die wohlmeinenden Anhänger der „Annahme“ zu schieben. Eher ist das unseriöse akademische Klima in China in Hinsicht auf das politische Umfeld verantwortlich zu machen. Der grobschlächtige Umgang mit marxistischer Theorie, der in den letzten Jahrzehnten der politischen Indoktrination geschuldet scheint, hat viele Menschen daran gehindert, sich auch nur mit kleinen Teilen marxistischer Grundlagen auseinanderzusetzen, vom Verständnis ganz zu schweigen. In China sind es Wissenschaftler gewohnt, Theorien unkritisch zu akzeptieren und sich an irgendwelchen Sachen festzuklammern, die zufällig ihren Geschmack treffen.[26] Auch wenn sich die Umstände im Laufe der Zeit geändert haben, bleibt die alte Gewohnheit und wird in einer neuen Weise genutzt, um es für das komplette Gegenteil politisch nutzbar zu machen.
Nachdem die alte Literatur mit einiger Kreativität neu eingeordnet wurde, konnte eine Mär wie die, „Band III des Kapital ist die Antithese von Band I“ und „Marx und Engels Sinneswandel in den späten Jahren“, viele Unterstützer finden. Das ist ein großes Problem. Tiefer gehend ist allerdings die Frage, ob ein so wackliges Gedankengebäude der ideologischen Rückversicherung dienlich, geschweige denn der schweren Aufgabe gewachsen sein kann, die Demokratie in China voranzubringen. Ganz zu schweigen von der „neuen Klasse“ an der Macht, die in Bezug auf die Moralisierung der Demokratiefrage unter Vorspiegelung marxistischer Wurzeln, wie ich sie geschildert habe, ihren eigenen Interessen folgt, anstatt Interesse und Vertrauen in Marx theoretisches Werk zu setzen.
[1] Dieser Artikel erschien zuerst in Übersetzung von Yu Feng auf Englisch in Issues of contemporary World Socialism, Vol. 1, 2014. Wir veröffentlichen hier eine gekürzte Fassung. Übersetzung aus dem Englischen: Alan Ruben van Keeken. Helmut Peters, Berlin, danken wir für Vermittlung und Kommentierung. (Red.)
[2] MEW 23, Berlin 1962, S. 791.
[3] Die Punkte, wie sie oben ausgeführt wurden, finden sich in Xin Zilings Fazit von „Der Fall der Roten Sonne. Erfolg und Verbrechen Maos in der Geschichte“, Verlag Shuzuofang 2007.
[4] Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus. Berlin 2009.
[5] Siehe MEW 25, Berlin 1968, S. 7ff.
[6] Siehe Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Stuttgart 2005; Joan Robinson, An Essay on Marxian Economics (the 2d edition), The Macmillian Press 1966; Paul M. Sweezy, The Theory of Capitalist Development, Monthly Review Press, 1970. Zur Diskussion siehe Ian Steedman & Paul M. Sweezy (eds.), The Value Controversy, London 1987.
[7] Um nur ein Beispiel zu nennen: In Band II seiner History of Socialist Thought nutzt G.D.H. Cole jeden Nachweis, um Marx ökonomischer Theorie die Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Allerdings bot sich der Widerspruch zwischen dem ersten und späteren Bänden nicht dafür an. Im Gegenteil. Er führte aus, dass „wenn etwas über sie [die späteren Bände des Kapital] gesagt werden kann, dann dass sie Marx’ Theorie in einigen Punkten ausbuchstabieren, ohne dass sie etwas essentiell Wichtiges hinzufügen würden.“ G. D. H. Cole, A History of Socialist Thought: Volume II, London 1963, S. 297.
[8] MEW 24, Berlin 1963, S. 10.
[9] MEW 25, Berlin 1968, S. 11.
[10] Ebd. S. 13.
[11] Ebd. S. 452.
[12] Ebd. S. 453.
[13] Ebd. S. 452-457.
[14] Ebd. S. 453f.
[15] MEW 23, Berlin 1962, S. 656f.
[16] MEW 42, Berlin 1983, S. 559.
[17] Ebd. S. 436.
[18] Ebd., S. 93.
[19] Ebd. S. 42
[20] Fehler wie diese finden sich überall im berühmten „Fazit” von Herrn Ziling Xin. Das ist nicht nur beizeiten unfreiwillig komisch, sondern oft auch sehr ärgerlich. Nur um ein Beispiel herauszugreifen: Geht es nach Herrn Xin, waren Marx und Engels richtiggehende „Maschinenstürmer“, die deren Einsatz in der großen Industrie ablehnten, weil sie den Arbeitern die Jobs streitig machten. Herrn Xin zufolge „hätten die beiden verlangt, dass Fabrikbesitzer „um die Beschäftigung und den Lebensunterhalt der Arbeiter zu erhalten, auf den Einsatz neuer Maschinen und besserer Technik verzichten sollten, was Wachstum und sozialen Fortschritt behindert hätte. Hier werden wir Zeuge der Geburt von Marx und Engels utopischem Sozialismus.“ Selbst jene, die nur bestimmte, populäre Texte marxistischer Literatur gelesen haben, sollten wissen, dass Marx und Engels die Hoffnung auf eine Emanzipation der Arbeiterklasse immer auf die Entwicklungspotentiale der modernen Industrie gründeten und nichts von den „kleinbürgerlichen Denkern“ hielten, welche dieser gegnerisch gegenüberstanden. Wo verlangen die Autoren jemals, dass die „Fabrikbesitzer keine neuen Maschinen und Techniken einführen sollen“? Danach kommt man nicht umhin sich zu fragen, ob Herr Xin überhaupt einmal einen Blick in die Originalwerke von Marx und Engels riskiert hat.
[21] Viele Menschen halten keine großen Stücke auf die Marx-Lektüre, aber für sie ist klar, dass der „langbärtige Deutsche“ eine utopische Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung aus Hass auf den Kapitalismus erträumte und die Realisierung derselben via einer gewaltvollen Revolution predigte. Diese Art von Unverständnis ist nicht besser, als einen Hirsch ein Pferd zu nennen, wie ein bekanntes chinesisches Sprichwort sagt.
[22] MEW 25, Berlin 1964, S. 452.
[23] Ebd., S. 454.
[24] Ebd.
[25] MEW 23, Berlin 1962, S. 16.
[26] In einem weiteren Sinne mag dies auf die chinesische Kultur in toto zutreffen. Chen Danqing, ein Künstler, enthüllte einst das Charakteristikum unserer Kultur in den ihm eigenen derben Worten: „Wir Chinesen haben keine Prinzipien…, wir nehmen, was wir verdammt noch mal für nützlich halten. Der Rest wird zerstört.“