In Z 112[1] hatten wir die Rechtsentwicklung und den Rechtsruck innerhalb des bürgerlich-konservativen Lagers genauer untersucht. Gleichzeitig hatten wir festgestellt, dass eine Neuformierung der Linken nicht erkennbar war. Nicht nur die Partei Die Linke, auch die gesellschaftliche Linke insgesamt steckt in einer Orientierungskrise. Inzwischen haben sich die verschiedenen politischen Richtungen oder „Lager“ nach kurzer Unsicherheit wieder deutlicher formiert. „Jamaika“ kam nicht zustande. Stattdessen haben sich die Wahlverlierer CDU/CSU und SPD auf eine neue große Koalition verständigt. Wir hatten seinerzeit festgestellt, dass es im Wahlkampf nicht gelungen war, der Rechtsentwicklung eine überzeugende Alternative linker und solidarischer Politik entgegenzustellen. Wie steht es jetzt damit?
Die GroKo als Variante staatsmonopolistischer
Modernisierung: Der Koalitionsvertrag
Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU/SPD[2] ist nur unter größten Schwierigkeiten zustande gekommen. Sowohl auf Seiten der CSU (Landtagswahlen Bayern) als auch der SPD (Mitgliederentscheid) mussten spezifische parteipolitische Interessen in Rechnung gestellt werden. Weder Neuwahlen noch eine Unions-Minderheitsregierung waren für den ‚Block an der Macht‘ Optionen. Viele Probleme sind in dem Vertrag entweder ausgeklammert, an Kommissionen abgeschoben (Renten) oder nur formelhaft angesprochen. Mögliche bzw. wahrscheinliche Zielkonflikte werden ausgeklammert, vor allem was die Finanzierungsseite betrifft: Die vorgesehene (unzureichende) Steigerung von Modernisierungs- und Infrastrukturausgaben, Modernisierungssubventionen für Unternehmen, höhere Investitionen in Bildung und Forschung und Entwicklung, mehr Geld für die EU, Erhöhung der Rüstungs- und Entwicklungshilfeetats, mehr Steuermittel für Sozialversicherungen (u. a. Folge der ‚doppelten Haltelinien‘ bei Rente und Sozialbeiträgen) sind nur unter günstigen konjunkturellen Bedingungen kompatibel mit der weiter angekündigten „schwarzen Null“, der Senkung der öffentlichen Schuldenquote und Steuerentlastungen für mittlere und höhere Einkommen (partielle Abschaffung des ‚Soli‘). Die Wirkung absehbarer Zinssteigerungen und einer wahrscheinlichen globalen Konjunkturverlangsamung auf die öffentlichen Haushalte sind gar nicht ‚eingepreist‘. Viele der in Aussicht gestellten Maßnahmen stehen faktisch unter Finanzierungsvorbehalt: Die im Koalitionsvertrag auf S. 67/68 aufgezählten Ausgabeposten in den Bereichen Bildung, Familien, Wohnen, gleichwertige Lebensverhältnisse, internationale Verantwortung und Bürgerentlastung basieren auf dem „absehbaren finanziellen Spielraum“ (66), dessen Eintreten nicht sicher ist. Die Größe des geplanten Investitionsfonds zum Ausbau der digitalen Infrastruktur – eine der zentralen Modernisierungsmaßnahmen – hängt von den Versteigerungserlösen der 5G-Lizenzen (schnelles Mobilfunknetz) ab, deren Höhe in den Sternen steht. Der sozialdemokratische Finanzminister machte bei Vorlage des Haushaltsentwurfs 2018 deutlich, dass die ‚schwarze Null‘ absoluten Vorrang genießt. Er kündigte an, die in der Koalitionsvereinbarung in Aussicht gestellten Investitionen bis 2022 sogar zurückzufahren.
Der große Konsens betrifft die Modernisierung der Wirtschaft, wobei die Digitalisierung[3] zum Allheilmittel stilisiert wird. Stärker noch als in der Koalitionsvereinbarung von 2014 stützt man sich dabei auf staatliche Interventionen, wozu die gezielte Förderung von Zukunftsindustrien (darunter auch die „Sicherheits- und Verteidigungsindustrie …als Schlüsseltechnologie“, 59) gehört. Gezielte steuerliche Maßnahmen, Abschreibungsvergünstigungen, Forschungsförderung, aber auch der Aufbau von deutschen bzw. europäischen „Digitalkonzernen“ (61) gehören zu diesen Instrumenten. Dass der Aufbau bzw. die Erhaltung von vollständigen industriellen „Wertschöpfungsketten“ (am „Standort Deutschland“, 56) Gegenstand der Wirtschaftspolitik sein und zu diesem Zweck Wettbewerbs-, Planungs- und Umweltrecht angepasst werden sollen, ist ebenfalls ein staatsmonopolistischer Akzent. Man zögert, die insbesondere im Kapitel VI „Erfolgreiche Wirtschaft für den Wohlstand von morgen“ skizzierte Industriepolitik als ‚neoliberal‘ zu bezeichnen – die „soziale Marktwirtschaft“ wird zwar noch an einigen Stellen beschworen, in Wirklichkeit aber ist klar, dass die Koalitionäre die Modernisierung der Wirtschaft und die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit nicht den Marktkräften überlassen, sondern massiv staatlich fördern und gestalten wollen.
Ein wichtiges Element der Modernisierung ist die Arbeitsmarktpolitik im weitesten Sinne. Angesichts lauter werdender Klagen über drohenden ‚Fachkräftemangel‘ gehört die Verflüssigung des Arbeitsmarktes zu den Prioritäten des Papiers. Dies ist umso wichtiger, als auf diesem Gebiet die Interessen der Beschäftigten und der Unternehmen als gleichgerichtet dargestellt werden können. Vollbeschäftigung, Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen, bessere Kinderbetreuung, Integration von Arbeitslosen und teilweise auch flexiblere Arbeitszeiten entsprechen auch Forderungen von Beschäftigten und Gewerkschaften. Natürlich liegen die Probleme im Detail: Wer zahlt? Bescheidene Zugeständnisse im Bereich der sachgrundlosen Befristung und des Rückkehrrechts aus Teilzeitarbeit sind mit komplizierten einschränkenden Bedingungen versehen, das Thema Leiharbeit (Arbeitsnehmerüberlassungsgesetz) wird lediglich „evaluiert“ (52). Die von den Gewerkschaften eingeforderte Stärkung der Tarifbindung wird erwähnt (51), ohne aber Maßnahmen auch nur anzudeuten. Größere Vorhaben des Sozialabbaus scheinen allerdings nicht geplant, wenn man von fragwürdigen Maßnahmen zur Ausweitung der Midi-Jobs absieht (54). In den Kontext der Arbeitsmarktpolitik gehört auch das geplante – als SPD-Errungenschaft verkaufte – „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ (65). Arbeitskräftemigration soll strikt am „Bedarf unserer Volkswirtschaft“ orientiert sein – dafür sollen „nationale Regelungsmöglichkeiten für Zuwanderung“ (105) erhalten werden.
Zugeständnisse an die SPD
Die Zustimmung der SPD zum Koalitionsvertrag stand – vor allem nach dem Sonderparteitag am 21. Januar – Spitz auf Knopf. Damit war der Bereich Sozial- und Arbeitspolitik zentral für das Gelingen der neuen GroKo – der Vertrag sollte eine „sozialdemokratische Handschrift“ tragen. In den Formulierungen des Vertrags aber setzte sich die alte SPD-Strategie fort: Es wird auf einzelne ‚Errungenschaften‘ verwiesen, ohne dass ein auf mehr soziale Gerechtigkeit zielendes Gesamtkonzept der Wirtschafts- und Sozialpolitik sichtbar würde. Solche ‚Errungenschaften‘ (darunter: paritätische Finanzierung der Krankenkassenbeiträge, Grundrente, Einschränkungen bei sachgrundlosen Befristungen) gibt es im Koalitionspapier tatsächlich. Sie werden von der SPD-Führung stolz als „Leuchttürme“ präsentiert und können für die Lohnabhängigen auch tatsächlich gewisse Vorteile bedeuten. Allerdings sind die beiden letzten Punkte mit so komplizierten Voraussetzungen verbunden, dass kaum einzuschätzen ist, ob sie relevante Verbesserungen für größere Gruppen bringen.
Viel wichtiger aber ist, dass zentrale gesellschaftliche Fehlentwicklungen (Wachstum des Niedriglohnsektors, Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung) nicht erwähnt bzw. auf Prüfaufträge abgeschoben werden. Ein Konzept für einen „neuen Zusammenhalt für unser Land“, wie es im Titel heißt, gibt es tatsächlich nicht, dafür eine Abteilung „Heimat“ im von Seehofer geführten Innenministerium. Der beschäftigtenfreundlich klingende Abschnitt V, „Gute Arbeit, breite Entlastung und soziale Teilhabe sichern“ addiert eine Vielzahl extrem kleinteiliger Maßnahmen, ohne die großen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen auch nur anzusprechen. Dies überrascht nicht, weil die SPD damit hätte einräumen müsste, dass sie dazu in der Vergangenheit selbst beigetragen hat.
Geradezu skandalös ist unter diesem Blickwinkel der Umgang mit dem Hauptthema der Koalitionsvereinbarung, der Digitalisierung. Auch wenn nachzuvollziehen ist, dass die GroKo-Parteien die Risiken der Digitalisierung nicht in den Vordergrund stellen wollten, wäre aber zumindest notwendig gewesen, eine Strategie des arbeits- und sozialpolitischen Umgangs mit diesem Thema wenigtens zu skizzieren. Stattdessen lesen wir: „Das Zeitalter der Digitalisierung wollen wir als Chance für mehr und bessere Arbeit nutzen.“ (51) Im Mittelpunkt stehen dabei Bildung und Weiterbildung – was sicherlich wichtig, aber vom Standpunkt der Beschäftigten, die den Veränderungsprozess nicht steuern, sondern nur auf ihn reagieren können, völlig unzureichend ist. Die Digitalisierung und ihre Auswirkungen erscheinen wie ein Naturvorgang. Fragen der Arbeitszeitverkürzung, der größeren Zeitsouveränität für die Beschäftigten werden nur insofern angesprochen, als es um mehr Flexibilität geht: Die „vielfältigen Wünsche und Anforderungen in der Arbeitszeitgestaltung“ der Unternehmen und der Beschäftigten werden auf eine Ebene gestellt, ohne das strukturelle Machtungleichgewicht in den Betrieben auch nur zu erwähnen. Die vorgeschlagene „flexible“ Regelung der Höchstarbeitszeit (52) würde elementare Schutzrechte der Beschäftigten beseitigen, ohne ausreichend neue, an die soziale Realität angepasste Haltelinien einzuziehen. Die von den Unternehmern seit Langem geforderte umfassende Deregulierung der Arbeitszeiten wird so in kleinen Schritten angegangen.
Reform der EU – Akzentverschiebungen
Die Reform der EU spielt in der Koalitionsvereinbarung eine prominente Rolle, ein Verdienst, das sich die SPD zugute hält. Hier sind deutliche verbale Akzentverschiebungen gegenüber 2013 festzustellen. Sah sich Deutschland 2013 noch in „Führungsverantwortung“, so kommt dieses Wort 2018 nicht mehr vor. Im Mittelpunkt steht die deutsch-französische Zusammenarbeit. Zugesagt werden mehr deutsche Finanzmittel, es gibt im Text einige Konzessionen gegenüber französischen Vorstellungen, die mehr Vergemeinschaftung von Ausgaben und Risikoteilung vorsehen. Die Formel lautet, „das Prinzip der wechselseitigen Solidarität stärken“ (6). Konkret wird ein europäischer Währungsfonds (9) erwähnt. Es zeigte sich aber schon in den ersten Wochen der Regierungstätigkeit, dass der konservative Flügel der CDU/CSU (auch unter Druck der AfD) nicht bereit ist, den französischen Vorstellungen entgegenzukommen. Lediglich bei der militärischen Zusammenarbeit (PESCO) und der Flüchtlingsabwehr besteht Bereitschaft zu Kooperation. Aufrüstung und Militarisierung von Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit sind Konsens. Darüber hinaus aber gibt es keinerlei Bereitschaft, nationale Interessen europäischen Prioritäten zu opfern. Wenn dafür noch ein Beleg notwendig gewesen wäre, ist dies die Tatsache, dass die Koalitionsvereinbarung den strukturellen deutschen Leistungsbilanzüberschuss noch nicht einmal erwähnt, obwohl im Anfang Mai vorgelegten Länderbericht Deutschland von der EU-Kommission auf das gegen Deutschland laufende Makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren (MIP) hingewiesen wird.
Erosion des Parteiensystems
In Heft 112 hatten wir festgestellt, dass das Ergebnis der Bundestagswahl die weitere Erosion des bisherigen Parteiensystems anzeigte, wenn auch (noch) nicht so stark wie in anderen europäischen Ländern (S. 18). Wir hatten in diesem Zusammenhang gefragt, wieso die regierenden Parteien von der allgemein als gut empfundenen Wirtschaftslage im Jahre 2017 nicht profitieren konnten (S. 21 ff). Dabei wurde auf zwei Momente hingewiesen: (1) Die Verbesserung der Wirtschaftslage ist an größeren Gruppen der Bevölkerung vorbeigegangen, das Bewusstsein von Exklusion wurde akzentuiert. (2) Den Ansehensverlust der politischen und wirtschaftlichen Eliten und des Staates, wodurch der Glaube an die Steuerungsfähigkeit von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen überhaupt beeinträchtigt wird. Dieser Prozess wird im Übrigen für alle europäischen Länder konstatiert. Die starke Zunahme der sozialen Ungleichheit – die in der Bundesrepublik besonders ausgeprägt ist – wird durchgängig in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Sie geht mit einer wachsenden, von rechts ausbeutbaren Enttäuschung über den „Umverteilungsstaat“ einher, der diesen Prozess nicht abfedert, sondern selbst befördert.[4]
Die herrschenden Kreise haben die Grenzöffnung für Flüchtlinge 2015 und die Folgen als „Flüchtlingskrise“ wahrgenommen. Auch wenn dieser Begriff in der Koalitionsvereinbarung nicht vorkommt, wird durch die Formulierung „damit sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt“ (103) eingeräumt, dass es sich um einen Kontrollverlust handelte. Dies und die Folgen haben das vorhandene Gefühl mangelnder politischer Steuerungsmöglichkeit verstärkt.
Dazu trägt die Darstellung wirtschaftlicher und politischer Vorgänge in den Leitmedien und seitens der „Eliten“ und der Politik allerdings selbst bei. Ob es um die Regulierung der Arbeitsmärkte, um Sozialleistungen, um Renten, um die Haushalts- und Steuerpolitik geht: Immer wird – mehr oder weniger bedauernd – darauf verwiesen, dass ökonomische ‚Sachzwänge‘ Abweichungen vom neoliberalen Mainstream nicht erlaubten: Wer Entscheidungen als ‚alternativlos‘ darstellt, gibt implizit zu, dass er machtlos ist. Zumal eine mehrheitsfähige Reformorientierung nirgendwo erkennbar war. Das hat dem bisherigen Parteiensystem, das sich um die beiden großen Antipoden CDU/CSU und SPD gruppierte, ein Ende bereitet. Das Prinzip „Volkspartei“ ist in der Krise.
Die Position der „Volkspartei“ CDU/CSU ist massiv geschwächt. Ihre Integrationsfähigkeit nach rechts ist zwar noch vorhanden, hat aber nachgelassen. Rechtskonservative und marktradikale Strömungen innerhalb des konservativen Lagers verspüren Oberwasser.
Anders als die CDU wird die SPD auf absehbare Zeit offenbar nicht zur Führung eines alternativen politischen Blocks in der Lage sein. Noch mehr als in der vorhergegangenen Legislaturperiode begnügt sie sich mit der Rolle des Juniorpartners der CDU/CSU. Da sie in ihrer „Zukunftsdebatte“ von vornherein auf die Erarbeitung eines alternativen Reformkonzepts verzichtet, hat sie kaum Aussichten, wieder den Status einer mehrheitsfähigen Volkspartei zu erreichen.
Die Entwicklung des Parteiensystems signalisiert eine „Auszehrung“ der bürgerlich-parlamentarischen Repräsentativ-Demokratie, in der „politische Apathie und das Gefühl von Alternativlosigkeit“[5] zugenommen haben. Die stark ausgeprägte Sehnsucht nach Alternativen und nach Polarisierung droht sich in einem Anwachsen des reaktionären Protests zu entladen.[6]
Die AfD und die politische Rechtsentwicklung
Der mit dem Einzug der AfD in den Bundestag auch im ökonomisch führenden Land der EU sich bestätigende generelle Rechtstrend hat sich weiter fortgesetzt. Der Wahlerfolg von ÖVP und FPÖ in Österreich hat dort zu einer rechtskonservativen Koalition geführt, in der die FPÖ mit dem Innen-, Außen und Verteidigungsministerium zentrale Ressorts besetzt und den autoritären Umbau liberaler Demokratie in Europa beschleunigen und fortsetzen kann. In Italien gingen im März 2018 die „populistischen“ Parteien Movimento 5Stelle und Lega (Nord) als Sieger aus den Parlamentswahlen hervor. Die etablierten Parteien der rechten und linken Mitte wurden abgestraft und erhielten die Quittung für eine Politik des sozialen Stillstands des letzten Vierteljahrhunderts. Eine tragfähige Regierungsbildung ist in Italien gegenwärtig noch nicht abzusehen. Der Erfolg der sich selbst als politisch „illiberal“ verstehen Fidez unter Victor Orban in Ungarn war zu erwarten, fiel aber noch deutlicher aus als prognostiziert. Die abschüssige politische Bahn nach rechts setzt sich somit in Europa weiter fort.
Mit der großen Koalition ist die AfD zur Oppositionsführerin im Bundestag geworden. Seither muss ein weiterer Rechtsruck der Partei konstatiert werden, die innerhalb und außerhalb der Parlamente an einer systematischen Rechtsverschiebung des gesellschaftspolitischen Diskurses arbeitet. Bisher hat ihr dieser Kurs nicht geschadet; der nach wie vor vorhandene bürgerlich-konservative Flügel in Partei und Bundestagsfraktion hat der völkischen Rechten in der Außendarstellung nur wenig entgegen zu setzen.[7] Mit einem absehbaren Stellenpool von 300-400 Mitarbeitern allein in der Bundestagsfraktion, dem Aufbau alternativer Medienstrukturen in Form eines eigenen Parlaments-TV und der jetzt auf den Weg gebrachten zentralen Parteistiftung nutzt die AfD alle Möglichkeiten zur langfristigen Verankerung.
Da die AfD allen Analysen zufolge einen größeren, sozial jedoch äußerst heterogenen Teil politisch unzufriedener Wählerinnen und Wähler an sich gebunden hat, droht dem herrschenden Eigentumsblock inhaltlich von hier keine Gefahr, denn entgegen mancher verbalen Äußerung ist von der AfD keine Politik zu erwarten, die an deren Grundvoraussetzungen etwas ändert. Die AfD fokussiert auf eine vor allem nationalistische Form der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die eine noch so rudimentäre Perspektive auf soziale Gegenätze und Antagonismen zugunsten homogenisierender nationaler Perspektiven ersetzen soll.
Nach wie vor umstritten ist die Frage der klassenpolitischen Basis der AfD: Scheint es mit Blick auf EU-Mitgliedschaft, Euro, Freihandelsabkommen etc. eher einen politischen Gegensatz zwischen AfD und dem herrschenden Block zu geben, so werden die überdurchschnittlichen Wahlergebnisse der Partei bei „Arbeitern“ als Beleg für die spezifische Anfälligkeit der „Unterschichten“ für die AfD gewertet. Offenbar müssen sowohl die möglicherweise veränderte Positionierung in Teilen der herrschenden Klasse als auch die Differenzierungen in der Arbeiterklasse stärker berücksichtigt werden.[8]
Die Union verfolgt in der Auseinandersetzung mit der AfD keine klare Linie. In einem Fraktionsbeschluss schließt sie gemeinsame parlamentarische Initiativen mit AfD und Linken gleichermaßen aus. Begründung: Eine prinzipielle Abgrenzung zur AfD sei nur durchsetzbar, wenn eine Äquidistanz auch zur Linken gewahrt werde. Offensichtlich gibt es schon heute eine (bisherige) Minderheit in der Fraktion, die eine solche prinzipielle Abgrenzung nach rechts in Zweifel zieht. Schon sehr bald wird sich nach den Landtagswahlen 2019 in mehreren ostdeutschen Bundesländern zeigen, ob die CDU der Versuchung widerstehen kann, einen Machterhalt durch Zusammenarbeit mit der AfD zu sichern.
Die wieder lautstärkere Wahrnehmbarkeit eines konservativen Flügels in der Union deutet auf Kräfte hin, die gezielt in diese Richtung arbeiten wollen. Was früher als „Berliner Kreis“ – unter anderem mit einem gewissen Alexander Gauland – firmierte[9], heißt heute „WerteUnion“ und versucht, dem konservativen Teil der Union stärker entgegen zu kommen – dies auch unter dem Eindruck der Koalitionsvereinbarung, die von dieser Richtung als zu großes Zugeständnis an die Sozialdemokratie gewertet wird. So ist es vor allem Symbolpolitik (Islamdebatte, Kruzifixe in den Amtsstuben, Heimatabteilung im Innenministerium), die zur Befriedung angeboten wird. Verlautbarungen des Schriftstellers Uwe Tellkamp und anderer prominenter rechter Intellektueller, die sich positiv auf die AfD-Diskurse zu „kulturelle Überfremdung“ und zum angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ beziehen, haben jedoch verdeutlicht, dass es im bürgerlichen Spektrum bis hinein in die gesellschaftliche „Mitte“ eine Strömung gibt, die sich von regierungsoffiziellen wirtschaftspolitischen Erfolgsbilanzen nicht länger einhegen lässt und Demokratie und kultureller Vielfalt mit aggressiver Geringschätzung begegnet. Der Union ist von rechts ein Konkurrent erwachsen, der genau dieses Feld konservativer, völkischer und faschistischer Einstellungsmuster in der Bevölkerung bearbeitet. Damit treten die z.T. krassen und dynamischen Konflikte zwischen konservativen Werthaltungen und wirtschaftsliberaler Realpolitik stärker zutage. Auf die Grundausrichtung der CDU/CSU als Garant optimaler kapitalistischer Verwertungsbedingungen wird dieser Konflikt jedoch nur marginale Auswirkung haben. Zumal Fachleuten zufolge dieses Spektrum der Union maximal zwischen 10 und 15 Prozent der CDU/CSU-WählerInnen umfasst. Was man also durch eine Rechtsverschiebung gewinnen könnte, würde man parallel in der Mitte verlieren und damit auch ungewollt Aufbauhilfe für eine siechende SPD leisten. Sollten jedoch die mit der marktradikalen Ausrichtung verbundenen Versprechen ökonomischer Prosperität für weitere Teile der bürgerlichen Mitte stärker in Frage gestellt werden, würde das gesamte Erfolgsmodell der einzig verbliebenen Volkspartei ins Rutschen geraten. Die Folgen wären aus heutiger Sicht unabsehbar.
Die SPD im Treibsand
Mit dem relativ knappen Mitgliedervotum von 66 Prozent (2013: 76 Prozent) kam die SPD schließlich in der (sehr kleinen) GroKo an. Dies und der darauf folgende Parteitag im April mit seinem ebenfalls knappen Wahlergebnis für die neue Parteivorsitzende Andrea Nahles offenbarten, welch tiefer Riss durch die Mitgliedschaft geht. Zudem zeigten Wahlumfragen, dass die SPD inzwischen bei einem Stimmenanteil von deutlich unter 20 Prozent angekommen war und zwischenzeitlich sogar von der AfD mit 16 Prozent überflügelt wurde.[10]
Andrea Nahles reagierte mit der Beteuerung, die Parteiführung habe „den Schuss gehört“[11] Dabei strebt die SPD eine Art Quadratur des Kreises an. Einerseits verspricht sie, „gut“ mitzuregieren und aus der Koalitionsvereinbarung das Beste zu machen – übrigens mit dem Agenda-Personal wie gehabt. Andererseits soll die nicht in das Bundeskabinett eingebundene neue Parteivorsitzende dem versprochenen Erneuerungsprozess Bewegungsraum verschaffen. Von einer Aufarbeitung der Vergangenheit wollte sie allerdings nichts hören, vor allem nicht, was Hartz IV betrifft. „Ich finde es falsch, sich an der Vergangenheit festzuklammern. … Ich möchte eine nach vorn gerichtete Debatte führen …“[12] Als ob das ein Gegensatz wäre! Die SPD-Führung verkennt, welch tiefe Verwerfungen und Verunsicherungen die gesamte Agenda 2010 erzeugt hat. Auf die nach den Spahn-Äußerungen zu den Tafeln, Hartz IV und Armut in Deutschland aufgeflammte breite Debatte reagierte sie hilflos. Das spontan entstandene Bündnis von über 30 Sozialverbänden und Organisationen, die mehr Leistungen für Bedürftige forderten und sich dagegen wandten, Arme gegen noch Ärmere auszuspielen, traf sie völlig unvorbereitet. Das Beispiel zeigt: Die SPD hat kein Thema, mit dem sie sich gegenüber ihren politischen Konkurrenten im Sinne von mehr sozialer Gerechtigkeit abgrenzen könnte.
Im Beschluss des SPD-Parteitags vom April 2018 „Eine neue Zeit braucht eine neue Politik“[13] findet sich kein kritisches Wort zur Agenda-Politik der vergangenen 15 Jahre. Stattdessen richtet sich der Blick angestrengt nach vorn, denn die Zeiten haben sich ja geändert. Dabei werden zwei unterschiedliche Ebenen beziehungslos nebeneinander gestellt: Zum einen will die SPD in der Regierung „konkrete Verbesserungen erzielen“, ist sich aber „auch der Grenzen des Koalitionsvertrags bewusst“.[14]
Daneben will sich die SPD bis 2020 Zeit nehmen, Zukunftskonzepte auszuarbeiten, ohne klare Ziele zu benennen. Sie will über vier große Themenbereiche „debattieren“: eine ökologische und soziale Wirtschaftspolitik, die Zukunft der Arbeit, einen bürgerfreundlichen Staat und Deutschlands Rolle in einer sich rasant verändernden Welt. Ihr defensives Agieren in der GroKo – soziale Zugeständnisse nur in dem Maße, wie die gute Konjunktur sie hergibt – zeigt jedoch keinen Weg in diese Zukunft. Besonders gravierend ist, dass sie darauf verzichtet, die dramatische Ungleichheit der Vermögen und Einkommen wenigstens korrigieren zu wollen. Ihr fehlen soziale „Leuchtturmprojekte“, die sie von der CDU unterscheidbar machen, die Botschaft, die über die schlechten Verhältnisse der Gegenwart hinausweist.
Die Gewerkschaften zwischen GroKo
und Interessenvertretung
Anfang Oktober, als alles nach einer Jamaika-Koalition aussah, schrieb die FAZ ironisch: „Für die Gewerkschaften war die große Koalition ein Segen; Jamaika liegt ihnen besonders fern. … Der Ausgang der Bundestagswahl … ist auch ein Dämpfer für die Gewerkschaftsbewegung. Sie büßt eine große Koalition ein, die wie selbstverständlich viele ihrer Anliegen übernahm … Stattdessen herrscht nun Ratlosigkeit.“[15] Umso größer war in den gewerkschaftlichen Führungsetagen die Erleichterung, als sich dann doch wieder eine große Koalition abzeichnete.
Sie bleiben damit einer Struktur verhaftet, mit der sie 2008ff. im Sinne eines Krisenkorporatismus relativ erfolgreich gewesen waren und Selbstbewusstsein als „Krisenmanager“ gewonnen hatten.[16] Alles das hatten sie mit einer gewissen Wirkung in die Große Koalition der Jahre 2013 bis 2017 einbringen können. Symbolhaft stehen dafür der Mindestlohn und die „Rente mit 63“. Inkonsequenzen wurden bemängelt, aber generell schien die allgemeine Richtung zu stimmen.
Die mit dieser Koalition erreichten Erfolge waren dann allerdings Defensiverfolge. Letztlich bezahlten die Gewerkschaften dafür einen hohen Preis. Die weitere Prekarisierung der Arbeitswelt, die immer tiefere soziale Spaltung in der Gesellschaft, der Überdruss an einer Politik der scheinbaren Alternativlosigkeit und die Ausbreitung rechtspopulistischer Einstellungen in den Betrieben und bei Beschäftigten beispielsweise konnten sie so nicht aufhalten. Auf offensive Interessenvertretung orientierte linke Positionen, die auch gesellschaftspolitische Themen aufgriffen, hatte es in all diesen Jahren zwar durchaus auch stets gegeben, aber es waren Minderheitspositionen geblieben. Sie artikulierten sich auch nach der Bundestagswahl 2017, beispielsweise in den Sieben Thesen zu den Aufgaben einer offensiven Gewerkschaftspolitik in der IG Metall, einer Wortmeldung hauptamtlicher IG Metall-Funktionsträger oder in einem „Offenen Brief“ der NGG Bayern an den DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann.[17] Eine breitere Bewegung wurde daraus bisher aber nicht.
So lag es durchaus in der Logik dieser Fixierung auf korporatistische Aushandlungsprozesse, dass die Gewerkschaften nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungsgespräche sofort für eine neuerliche große Koalition plädierten. Schon auf der Basis der Sondierungsgespräche erklärte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann: „Diese große Koalition ist in der Summe besser als das, was wir mit Jamaika jemals erreicht hätten.“[18] In diesem Sinne empfahlen die Gewerkschaften den SPD-Mitgliedern, für die Aufnahme von Koalitionsgesprächen zu stimmen. Reiner Hoffmann machte sich auf dem SPD-Sonderparteitag im Januar energisch dafür stark und bescheinigte dem Papier sogar ein „Potenzial für einen Politikwechsel in Europa“.[19] Den Koalitionsvertrag vom Februar dieses Jahres bewerteten die Gewerkschaftsspitzen dann weitgehend einhellig nach dem Motto: Im Prinzip ok, das Beste, was wir derzeit kriegen können, aber es gibt auch noch Schwachstellen und offene Fragen, da werden wir weiter Druck machen.[20]
Trotzdem: Die vorsichtig positive Bewertung des Koalitionsvertrags hatte auf den ersten Blick eine gewisse Berechtigung. Ein paar soziale Zugeständnisse für die Lohnabhängigen waren schon drin (siehe oben). Diese „Pluspunkte“ waren aber mit allerlei Fragezeichen, Einschränkungen und Vorbehalten versehen. Manches war reine Absichtserklärung unter Finanzierungsvorbehalt. Zudem handelte es sich in vielem um Teil-Reparaturen an Schäden, die die vorherigen Regierungen, auch Rot-Grün, überhaupt erst verursacht hatten. Außerdem gab es eine lange Latte von „Minuspunkten“, worauf z.B. die IG Metall hinwies: „Steuerliche Maßnahmen, die die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung reduzieren, finden sich nicht. Dagegen soll die schwarze Null weiter als Haushaltsziel gelten. Notwendige Zusatzinvestitionen in Infrastruktur und Bildung unterbleiben daher.“
Der IG Metall-Kurzcheck konstatierte eher resignativ: „Derzeit ist keine politische Mehrheit erkennbar, die mehr für die Beschäftigten bringt.“[21] Man müsse folglich die GroKo „treiben und bei weitergehenden Forderungen nicht nachlassen“.[22] Das ist zweifellos richtig, aber auch zu wenig und verweist auf drei Probleme:
· Die Gewerkschaften haben derzeit kein weiter gehendes ökologisches und soziales Reformkonzept.
· Sie profilieren sich zu wenig als Bewegungs- und Konfliktorganisationen.
· Und sie müssten sich auch überzeugend für mehr Demokratie und gegen Rechtsentwicklung engagieren.
Gewerkschaften brauchen ein weiter gehendes Reformkonzept: Das Ergebnis der Bundestagswahl und die Grundlinien der GroKO als staatsmonopolistische oder neoliberal-etatistische Modernisierung müssten es den Gewerkschaften nahe legen, ihre bisherige Politik-Agenda – so wie sie sie gegenüber der vergangenen GroKo vertraten - kritisch zu überprüfen und neu zu bestimmen. Das erst recht vor dem Hintergrund des Eindringens von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in die gesamte Gesellschaft. Soziale Sicherheit bleibt weiter wichtig. Aber es geht um mehr. Es geht um soziale Gerechtigkeit und um eine Politik, die dem Auseinanderdriften der Gesellschaft, der sozialen Ungleichheit und Spaltung entgegenwirkt. Mit diesem Auseinanderdriften sind antidemokratische Tendenzen vorprogrammiert. Soziale Einheit muss zum Gegenstand einer gewerkschaftlichen Reformkonzeption werden. Auch die Art, wie die GroKo zustande kam, zeigt: Es fehlt an einer mehrheitsfähigen demokratischen, sozialen und ökologischen Reformorientierung. Die Gewerkschaften stehen da nicht alleine in der Verantwortung, aber sie sollten sich als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses begreifen, der diese Konzeption entwickelt und wirksam macht. Das geht weit hinaus über einzelne Kritikpunkte an der Koalitionsvereinbarung.
Gewerkschaften als Bewegungs- und Konfliktorganisation: Das derzeitige Agieren der Gewerkschaften ist Teil einer gesellschaftlichen Asymmetrie: Dem Klassenkampf von oben steht eine „Orientierungskrise von unten“ gegenüber. Das betrifft auf unterschiedliche Weise auch Sozialdemokratie und Linke. Im Agieren der Gewerkschaften gegenüber der GroKo offenbart sich eine extreme Staatsfixierung, die mit einer langfristigen Entpolitisierung einhergeht. Die Regierungspolitik wird kritisiert, begrüßt, bewertet, es werden weitergehende Maßnahmen von ihr verlangt. Das geschieht weniger über kämpferische Interessenvertretung, stattdessen mehr über korporatistische Aushandlungsprozesse. Den Verhältnissen angemessen wäre, wenn die Gewerkschaften ihr politisches Profil schärften und ihr politisches Mandat wahrnehmen würden.[23] Sie müssten „die parteipolitisch ungebundenen KollegInnen ebenso wie die parteipolitisch aktiven KollegInnen bei Linken, Grünen, Union und SPD“ hinter gemeinsamen Forderungen vereinen.[24] Dabei würde es aber „einem offensiven Politikansatz nicht gerecht“, wenn sie die gesellschaftspolitischen aktuellen Fragen „auf betriebliche und tarifliche Auseinandersetzungen“ reduzierten. Offensive Gewerkschaftspolitik müsste „ein gesellschaftspolitisches Mandat für sich reklamieren“.[25] Es müsste also darum gehen, die gewerkschaftlichen Forderungen durch eigene Aktionen und Initiativen kämpferisch zu vertreten und dazu passende Ideen zu entwickeln.
Gewerkschaften als Teil einer breiteren demokratischen Bewegung: Die Gewerkschaften brauchen eine inklusive Klassenpolitik. Ökonomische und soziale Interessen ihrer Mitglieder und der Lohnabhängigen zu vertreten gehört zu ihren Kernaufgaben. Aber Sozialpolitik alleine reicht nicht aus.[26] Sie sind auch gefordert, sich als (Mit-)Akteur einer gesellschaftspolitischen Demokratisierungsbewegung zu positionieren. Zur sozialen Inklusion gehört auch politische und kulturelle Inklusion. Politische Inklusion meint, für mehr demokratische Teilhabe zu streiten, der um sich greifenden Demokratieverachtung entgegen zu wirken. Kulturelle Inklusion meint, den von der neoliberalen Globalisierung erzeugten Strukturbrüchen, der Entwertung von demokratischen Regeln und kultureller Diversität solidarische Alternativen entgegenzustellen.
Das bedeutet auch: Die Gewerkschaften müssen die gesellschaftliche Rechtsentwicklung und das Eindringen des „Rechtspopulismus“ auch als Problem in den eigenen Reihen erkennen und dagegen aktiv werden. Klassen-, Anerkennungs- und Identitätsfragen müssen in ihrem Zusammenhang aufgenommen und beantwortet werden, durch Antirassismus und eine progressive Migrationspolitik.
Die Linke in der Orientierungskrise
In Z 112 hatten wir geschrieben: „Die Verluste bei Arbeitern und Arbeitslosen müssen für die Linke, die soziale Gerechtigkeit und Verteidigung von Lohnabhängigeninteressen auf ihre Fahnen geschrieben hat, als Warnsignal verstanden werden.“ (S. 27) Das „Warnsignal“, verbunden mit den Erfolgen der AfD, hat in der Linkspartei zu einer bis heute andauernden Eskalation der Konflikte um Orientierung und Identität der Partei geführt. Dabei wird auch die Frage kontrovers diskutiert, auf welche Wählergruppen sich die Partei konzentrieren soll.
Prominent steht die Flüchtlingspolitik im Zentrum dieser Debatte. Was vordergründig als persönlicher Konflikt zwischen Personen, vor allem zwischen der Partei- und der Fraktionsvorsitzenden inszeniert wird, ist tatsächlich eine fundamentale inhaltliche Richtungsauseinandersetzung, bei der es um eine linke Antwort auf die kapitalistische Globalisierung geht. Die Art, wie dieser Konflikt medial ausgetragen wird, gefährdet inzwischen das linke Projekt ernsthaft. Der Konflikt verheddert sich dabei häufig zwischen falschen Alternativen. „Die Linke braucht einen neuen Aufbruch, einen dritten Weg zwischen den falschen Alternativen der Renationalisierung und des humanen Kosmopolitismus.“[27]
„Offene Grenzen“ oder „regulierte Migrationspolitik“ sind dabei nur Schlagworte, hinter denen die Frage nach einer linken Antwort auf die kapitalistische Globalisierung steht, die auf Zustimmung stößt sowohl bei denjenigen, die die Globalisierung als Erweiterung ihrer Lebenschancen erleben als auch bei denen, die von den negativen Seiten dieser Globalisierung betroffenen sind. Dabei sind zwei Konsequenzen mit zu bedenken.
Linke Politik kann sich nicht in der noch so klugen Anrufung der politischen Entscheidungen von Parlament und Regierung erschöpfen. Wir haben oben auf den (real begründeten) Vertrauensverlust in die Steuerungskapazität der Politik hingewiesen. Dieser wird natürlich auch jene treffen, die sich darauf beschränken, ein ‚Umsteuern‘ in dieser oder jener Frage zu fordern. Eine Politik, die ihre Alternativen nur als Forderungen an die staatliche Ebene ausdrückt, unterliegt dem gleichen Glaubwürdigkeitsverlust wie die herrschenden Kräfte und wird im schlimmsten Fall als Teil des Problems, als Teil des „Establishments“ angesehen. Diese Fehler machen bereits SPD und Grüne zur Genüge. So spricht einiges für den Befund, die Linke habe „die Imagination einer andere, einer besseren Welt verloren“. Sie sei „nur noch auf dem Papier, in den Grundsatzprogrammen, antikapitalistisch oder sozialistisch.“[28] Für politische Kräfte, die die Entwicklungsrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändern wollen, ist aber entscheidend, ob ihre Ideen ‚die Massen ergreifen‘. So wichtig Koalitionen und Parlamente auch sind – tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft sind ohne breite soziale Bewegungen nicht denkbar.
Das auch bei den Lohnabhängigen verbreitete Gefühl des politischen ‚Kontrollverlusts‘ wird aktuell stark mit der Globalisierung verknüpft, obwohl dies nicht die einzige Ebene ist, auf der sich Interessen als ‚Sachzwang‘ verkleiden. Da liegt der Rückgriff auf die nationalstaatliche Ebene nahe, ein weites Einfallstor für alle Varianten von Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Wenn nun selbst Teile der Linken einen Gegensatz zwischen Nationalstaat und Internationalisierung unterstellen, dann öffnen sie das Tor noch weiter: Globalisierung ist ein politisch gesteuerter und steuerbarer Prozess. Gesteuert wird er aber von den Nationalstaaten – die politische Eingriffsebene ist die nationalstaatliche. Politisch durchsetzungsfähige Bewegungen entwickeln sich aus national jeweils unterschiedlichen Konfliktkonstellationen, sie müssen aber mit der Perspektive internationaler Solidarität verbunden werden. Auch hier empfiehlt sich ein Blick ins Kommunistische Manifest: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“
Ein positives Beispiel für diese Zusammenhänge war die Bewegung gegen das Freihandelsabkommen TTIP, die dieses nicht nur zu Fall bringen, sondern zeitweilig auch den Diskurs über internationalen Handel bestimmen und eine relativ breite gesellschaftliche Koalition zustande bringen konnte.[29] Es wurde gezeigt, dass im nationalen Rahmen starke Bewegungen den Globalisierungsprozess beeinflussen können. Entscheidend für die Durchsetzungsfähigkeit der politischen Linken sind nicht die jeweiligen parlamentarischen Konstellationen. Es geht darum, in Bewegungen aller Art das Bewusstsein dafür zu fördern, dass Veränderungen durch das aktive Engagement der Betroffenen möglich, dass sie nicht (oder nicht ausschließlich) von wie auch immer gearteten staatlichen Entscheidungen zu erwarten sind. Was die Linke mit ihrer Verankerung in heterogenen Milieus betrifft, so bleibt richtig, was wir in Z 112 schrieben: Diese Heterogenität, die die klassenmäßige Zerklüftung der Gesellschaft von heute widerspiegelt, „setzt eine gegen jeden Irrationalismus resistente Strategie voraus, die die Interessen der unterschiedlichen Gruppen berücksichtigt und auf einen gemeinsamen antikapitalistischen Nenner zu bringen versucht.“ (S. 28) Dies dürfte die zentrale Anforderung an eine zeitgemäße sozialistische Politik sein.
[1] Jörg Goldberg/André Leisewitz/Jürgen Reusch/Gerd Wiegel, Das Ergebnis der Bundestagswahlen 2017: Ursachen der Rechtsentwicklung (Teil I), in: Z112 (Dezember 2017), S. 18-32.
[2] Die Seitenverweise im folgenden Abschnitt beziehen sich auf den Text des Koalitionsvertrags für die 19. Legislaturperiode: „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Download unter https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1.
[3] „Digitalisierung ist der ökonomische Basistrend unserer Zeit“ (56). Das Wort „digital“ erscheint im Text mehr als 350 Mal, es gibt keinen Bereich, in dem Digitalisierung nicht als Problemlöser angepriesen wird.
[4] Vgl. die instruktive Studie von Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2017. Kaelble verweist darauf, dass die zunehmende soziale Ungleichheit kaum noch aus einer Klassenperspektive wahrgenommen wird, was er ganz zu Recht mit der Erosion und massiven Schwächung der sozialen Milieus und Akteure der Gewerkschaften und politischen Linken in Verbindung bringt. Der Verlust dieser Optik rückt zwangsläufig die politischen Eliten und den Staat als Akteure und damit auch als Adressaten wachsender Enttäuschung in den Vordergrund. Da der Nationalstaat der Rahmen ist, innerhalb dessen eine sozialpolitische Abfederung wachsender Ungleichheit erwartet wird, können dessen Öffnung und als „Kontrollverlust“ erfahrene oder kommunizierte Prozesse leicht zum Ansatzpunkt rechter, nationalistischer, rassistischer Demagogie werden. Die Heitmeyer-Studien über die „Deutschen Zustände“ haben im Übrigen zur Genüge gezeigt, dass diese Prozesse gerade auch in der konkurrenzorientierten „gesellschaftlichen Mitte“ wirksam sind – Hintergrund dafür, dass die AfD in ganz unterschiedlichen Segmenten der Gesellschaft reüssiert.
[5] Peter Reif-Spirek, Die SPD in der GroKo-Falle – Notizen nach einer vorhersehbaren Niederlage, in: spw 5/2017, S. 6.
[6] Oxi-Redaktion, Die letzte Bundesregierung der guten alten Zeit, in: oxiblog, 7.2.2018; https://oxiblog.de/die-letzte-bundesregierung-der-guten-alten-zeit-groko-merkel/.
[7] Der Parteivorsitzende Gauland fordert, wieder Stolz auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen sein zu dürfen; der Fraktionsvorsitzende aus Sachsen-Anhalt, Poggenburg, hält eine lupenreine rassistische Nazirede zum Aschermittwoch, nach der er zwar zurücktritt, aber durch einen Parteifreund desselben völkischen Flügels ersetzt wird; AfD-Parlamentarier machen in Wort und Schrift den Parlamentarismus verächtlich und Abgeordnete, die die Kanzlerin ob ihrer Flüchtlingspolitik als „Merkelnutte“ die „jeden reinlasse“ oder eine syrische Familie als „Vater, Mutter und zwei Ziegen“ bezeichnen, werden zu Vorsitzenden des Haushalts- bzw. Rechtsausschusses des Bundestages gewählt.
[8] Vgl. Thomas Sablowski, Hans-Günther Thien, Die AfD, die ArbeiterInnenklasse und die Linke – kein Problem?, in PROKLA 190, März 2018.
[9] Vgl. Albrecht Maurer, Der „Berliner Kreis“ der CDU, in: Z 90 (Juni 2012), Konservatismus unter Modernisierungsdruck, S. 60ff.
[10] Handelsblatt 30.4.2018.
[11] „Wir haben den Schuss gehört“. Interview mit Andrea Nahles, Frankfurter Rundschau 12.4.2018.
[12] Ebd.
[13] „Eine neue Zeit braucht eine neue Politik“. Beschluss Nr. 4 des außerordentlichen Bundesparteitags der SPD in Wiesbaden, 22. April 2018; https://www.spd.de/partei/aobpt2018wiesbaden/. Nachfolgende Zitate aus diesem Beschluss.
[14] Zur umfassenden Kritik der Koalitionsvereinbarung siehe das entsprechende Themendossier der Linksfraktion im Bundestag unter https://www.linksfraktion.de/themen/dossiers/koalitionsvertrag-2018/.
[15] FAZ 7.10.2017.
[16] Stefan Schmalz, Das Ende des Niedergangs? Deutsche Gewerkschaften in der Krisenperiode seit 2008, in: Z 100, Dezember 2014, S. 153. Ausführlicher dazu: Stefan Schmalz/Klaus Dörre (Hrsg.), Comeback der Gewerkschaften? Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspektiven. Frankfurt/Main 2013; Frank Deppe, Gewerkschaften in der Großen Transformation, Köln 2012. Siehe auch den halbjährlichen „Streikmonitor“ in Z, aktuell in dieser Ausgabe.
[17] Sieben Thesen zu den Aufgaben einer offensiven Gewerkschaftspolitik in der IG Metall, S. 1. Download unter: http://www.labournet.de/category/politik/gw/selbstverstaendnis/ und: https://bayern.ngg.net/artikel/2018/offener-brief-an-den-dgb-bundesvorsitzenden-reiner-hoffmann/.
[18] Handelsblatt 15.1.2018.
[19] Neues Deutschland 21.2.2018.
[20] Siehe z.B. die Bewertung des Koalitionsvertrags durch die IG Metall unter https://www.igmetall.de/groko-schwarz-rote-regierungsbildung-27010.htm.
[21] Ebd.
[22] Siehe. Oxi-Redaktion: „Wir werden die Koalition treiben“: Die Gewerkschaften und die GroKo nach dem SPD-Basisvotum, in: oxiblog 6.3.2018; www.oxi.de
[23] Vorschläge in dieser Richtung: Hans-Jürgen Urban, Kampf um die Hegemonie: Gewerkschaften und Neue Rechte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2018, S. 103ff.; ders.: Perspektiven sozialstaatlicher Politik nach der Bundestagswahl. Anforderungen an die Gewerkschaften. Folienvortrag auf dem Debattenforum WISSENTransfer, 27.10.2017.
[24] NGG Bayern: Offener Brief, a.a.O. (FN 4).
[25] Sieben Thesen zu den Aufgaben einer offensiven Gewerkschaftspolitik in der IG Metall, S. 1. Download unter: http://www.labournet.de/category/politik/gw/selbstverstaendnis/.
[26] Urban, a.a.O., S. 104 und 109f.
[27] Oliver Nachtwey, Die Linke: Für die vielen, nicht die wenigen, in: Die Zeit, 6/2018, 2.2.2018.
[28] Ebd.
[29] Eine solche Koalition zeigte sich u.a. auch bei den Hamburger G20-Gipfelprotesten. Vgl. die umfangreiche Dokumentation: attac (Hrsg.), Die Gipfelproteste in Hamburg. Global gerecht statt G20, Frankfurt/M. Dezember 2017.