Es ist unbestritten, dass in den letzten Jahrzehnten die psychischen Belastungen und Erkrankungen in den Betrieben deutlich zugenommen haben. Hinterfragt werden muss jedoch die Aussage des Autors, dass in den Arbeitswissenschaften weitgehende Einigkeit darüber besteht, „dass Arbeitsbedingungen einen wesentlichen Faktor bei der Krankheitsentstehung spielen können“. Dagegen spricht die Aussage des wissenschaftlichen Mentors der IGM-Kampagne „Tatort Betrieb“, Prof. A. Oppolzer von der Uni Hamburg. In einem Vortrag bei der IGM-Konferenz „Gute Arbeit – 20 Jahre Tatort Betrieb“ 2009 in Mannheim erklärte er, dass lediglich rund 20 Prozent aller psychischen Erkrankungen arbeitsbedingt seien (als Resultat vergleichender Untersuchungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen). Diese Aussage deckt sich mit meinen jahrzehntelangen betrieblichen Erfahrungen als Betriebsrat in einem Metallgroßbetrieb auf dem Gebiet des betrieblichen Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutzes. Denn die meisten psychisch erkrankten Kolleginnen und Kollegen haben die Anfälligkeit bzw. die Erkrankung selbst bereits in jungen Jahren mit in den Betrieb gebracht. Das ist kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Im Gegenteil. Denn im Betrieb ergeben sich dann drei Entwicklungsmöglichkeiten: Die Erkrankung geht zurück, sie bleib oder sie verstärkt sich.
Folgende Erfahrungen habe ich dabei gemacht:
· Es lohnte sich, dass der Betriebsrat die Einhaltung der Arbeitszeit kontrolliert und Überstunden nur im Ausnahmefall – möglichst mit Freizeitausgleich – zustimmt. Überstunden sollten einen höheren Preis haben als nur geldliche Zuschläge: nämlich personelle Aufstockung überlasteter Abteilungen durch Auslerner oder Neueinstellungen.
· Die Beschäftigtengeneration, die seit der Jahrtausendwende in den Betrieb kam, hat ein geringeres gewerkschaftliches Bewusstsein und zeigt weniger Rückgrat, wenn es darum geht, gesetzliche und tarifvertragliche Rechte in Anspruch zu nehmen und auch einmal Nein zu sagen. Umso wichtiger ist die persönliche, kollegiale Vorbildrolle der gewerkschaftlichen Vertrauensleute und der nicht freigestellten Abteilungsbetriebsräte in ihren Abteilungen bei der Einhaltung der Pausen und Arbeitszeiten sowie der Abwehr von Überforderungen. Dort, wo gewerkschaftliche Vertrauensleute mit ihren Kolleginnen und Kollegen offen psychische Belastungen ansprechen und bekämpfen, über Ausbeutung und Konkurrenzverhalten aufklären, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad hoch ist, gibt es die wenigsten Probleme. Notfalls wird „Dienst nach Vorschrift“ gemacht. Eine gewisse Kultur des Widerstandes ist vorteilhaft auch für die eigene Gesundheit.
· Bewährt hat sich, wenn bei wiederkehrenden Gefährdungsanalysen die psychischen Belastungen auf freiwilliger, vorerst anonymer Basis mit einbezogen werden. Betroffene können dann auf Wunsch persönliche oder kollektive Gespräche mit einem neutralen Beauftragten oder Betriebsrat anstoßen, um Missstände aufzuklären und abzustellen.
· Einarbeitungspläne sowohl für die Neuen als auch nach Langzeiterkrankung bieten einen guten Schutz vor Überforderung.
· Gut vorbereitete Personalplanungsgespräche zwischen Betriebsrat, Personalabteilung und Vorgesetzten können Überlastungen rechtzeitig erkennen und mittelfristig vermeiden.
Der Hinweis des Autors, für mehr freie Tage zur Vorbeugung bzw. Regeneration der Arbeitskraft zu kämpfen, ist richtig. Aber bitte nicht auf eigene Rechnung durch Lohnverzicht, wie mit der EVG im letzten Jahr und jetzt mit der IG Metall vereinbart. Denn die bisherige Urlaubsdauer in der Metall- und Elektroindustrie steht seit Anfang der 80er Jahre bei sechs Wochen. In der Zwischenzeit hat sich dort die Produktivität mehr als verdoppelt und die Arbeitsintensität ist stark angestiegen. Notwendig ist eine Verlängerung des bezahlten Urlaubs um mindestens eine Woche für alle.
Schlussendlich reicht es nicht aus, allein im Betrieb die psychischen Belastungen anzugehen, denn sie kommen überwiegend aus dem gesellschaftlichen Umfeld (z.B. aus Familie, Schulen, Wohnverhältnissen, von Leitbildern oder Medien). Es handelt sich also um eine gesellschaftliche Aufgabe.
Ich füge eine Anmerkung zum Tarifabschluss der IG Metall 2018 hinzu, der in Z 113 noch nicht kommentiert werden konnte, da der in verschiedenen Beiträgen thematisierte Arbeitskampf noch nicht abgeschlossen war. Bei den meisten Bewertungen kommt eine Sache zu kurz: Die Freistellungen (8 Tage pro Jahr) werden überwiegend durch Lohnverzicht bezahlt. Wenn wegen Schicht, Kinderbetreuung oder Pflege jemand 8 Tage pro Jahr zuhause bleiben möchte, bezahlt sie/er davon 6 Tage aus eigener Tasche durch den Verzicht auf das „tarifliche Zusatzgeld“ in Höhe von 27,5 Prozent eines Monatseinkommens, was einer durchschnittlichen jährlichen Entgelterhöhung von rund 2 Prozent entspricht. Das ist ein Bruch mit der bisherigen Position der IGM hinsichtlich Freistellungen. Bisher war klar, dass Freistellungen beispielsweise für berufliche Weiterqualifizierung oder mehr Urlaub (aus welchen Gründen auch immer) vom Unternehmen bezahlt werden müssen. Folgerichtig wurden bezahlte Freistellung bei Erkrankung von Kindern (bis zu 5 Tage pro Kind und Jahr) und der Bildungsurlaub (5 Tage im Jahr in den meisten Bundesländern) auf gesetzlicher Grundlage durchgesetzt. Und im Manteltarifvertrag gibt es bezahlte Freistellungen beispielsweise bei Umzug, Geburten, Heirat und Todesfällen in der Familie.
Wenn jetzt ein(e) Schichtarbeiter(in) 8 zusätzliche freie Tage nehmen will, um sich von der Schichtarbeit besser zu erholen, bezahlt er/sie 6 davon selbst; die beiden anderen Tage bezahlt der Unternehmer. Wenn dieses Verfahren Mode wird, kann das zur Folge haben, dass künftig Urlaubserhöhungen oder Freistellungen überwiegend selbst finanziert werden müssen.
Neben einer Entgelterhöhung wäre eine Forderung nach einer Woche mehr Urlaub für alle der bessere Weg gewesen, weil dann auch die Frage der Bezahlung, des Urlaubsgeldes und des Personalausgleiches geklärt wäre. Und es gäbe keine Einschränkungen. Diese Forderung hatte im Vorfeld der Tarifrunde bereits in der Gr. Tarifkommission von Baden/Württemberg eine nicht geringe Rolle gespielt. Sie wäre ein Beitrag zur Arbeitszeitverkürzung mit Lohn- und Personalausgleich geworden, was dringend notwendig und machbar wäre – unabhängig von den verschiedenen Wochenarbeitszeiten in Ost und West. Die aktuelle Urlaubsdauer (6 Wochen) steht im Bereich der Metall- und Elektroindustrie seit Anfang der 80er Jahre. In der Zwischenzeit hat sich dort die Produktivität mehr als verdoppelt. Die Arbeitsintensität wurde deutlich erhöht. Beides geht auf Kosten der Gesundheit der Beschäftigten. Deshalb ist ein längerer Erholungsurlaub nötig, um die Arbeitskraft zu regenerieren.
Die IG Metall ist nicht die erste Gewerkschaft, die in Sachen Freistellungen bzw. Urlaub unternehmerfreundliche Wege geht: Vor einem Jahr hatte die Eisenbahnergewerkschaft EVG bereits einer Wahl zwischen mehr Geld oder mehr Urlaub zugestimmt.