In dieser Rubrik kommentieren wir einige ausgewählte Beiträge, die uns im Kontext linker Debatten wichtig erschienen. Im Mittelpunkt stehen dieses Mal Beiträge zum Marx-Jahr. (Red.)
Theorie und politische Praxis
Die ‚Marxjahre‘ 2017 und 2018 sind einerseits durch eine bis vor kurzem kaum vorstellbare Marx-Renaissance, andererseits durch eine gewisse Ratlosigkeit innerhalb der politischen Linken gekennzeichnet, die fast alle grundlegenden Fragen – von der nach dem Subjekt der Veränderung bis hin zur Organisationsfrage – betrifft. Der Marx gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift „Luxemburg“[1] geht es vor allem um Marx als Theoretiker und Praktiker der Veränderung, um den ‚politischen‘ Marx. Zahlreiche Autoren behandeln unter diesem Gesichtspunkt ein breites Spektrum von Fragestellungen. Während Alex Demirovic sich dem Marx’schen Wissenschaftsbegriff widmet, geht es in anderen Beiträgen um die Geschlechterfrage (Katja Kipping/Frigga Haug/Sylvia Federici), um die Rolle der Gewerkschaften (Hans-Jürgen Urban/Stefanie Hürtgen/Ralf Krämer), den Kampf um die Erhaltung des Planeten (Elmar Altvater). Die Klassenfrage in der politischen Praxis behandeln Bernd Riexinger und Ariel Salleh. Michael Heinrich stellt einen biografischen Zugang zum Verständnis des Marxschen Werks vor. Näher betrachtet wird hier der Beitrag von Michael Brie, der versucht, Marx für die aktuellen strategischen Debatten fruchtbar zu machen („…Vor Allem Revolutionär“. Marx und die Strategiefrage, 22-31). Ausgehend von der Tatsache, dass Marx, wie Engels am Grab des Freundes betonte, vor allem Revolutionär war, meint er: „Marx strategisch lesen heißt, ihn als Eingriff in die strategischen Diskurse seiner Zeit zu lesen.“(31) Diese Lektüre fängt Brie mit einer heftigen Kritik an: Marx habe „Menschenrechte …nur als Rechte von Privateigentümern“ verstanden, er habe mit seiner Gegnerschaft gegen Proudhon Positionen eingenommen, die „allein die politische Diktatur der Arbeiterklasse“ und einen „gesamtgesellschaftlichen Plan“ (26) als Weg zur Überwindung des Kapitalismus kannten, er habe Reformen im Kapitalismus als „Scheinreformen“ betrachtet, marktförmige Elemente im Sozialismus abgelehnt. Brie bezeichnet dies als „Strategie der Erzwingung“, im Gegensatz zu Proudhons „Strategie der Ermöglichung“ (28). Diese Kritik erstaunt, nicht nur weil der Kenner des Kommunistischen Manifestes sich erinnert, dass Marx am Ende ein veritables Reformprogramm aufstellt. In der von Marx verfassten Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) von 1864 (und Brie beschäftigt sich hier mit der IAA) wird die Durchsetzung des Zehnstundenbills als Sieg der „politischen Ökonomie der Arbeiterklasse“ gefeiert. Und weiter heißt es: „Ein noch größerer Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals stand bevor. Wir sprechen von der Kooperativbewegung, namentlich den Kooperativfabriken, dem Werk weniger kühner Hände.“ (MEW 16, S.11) Das klingt nicht nach „Scheinreformen“. Tatsächlich wird die Darstellung von Marx als kompromissunfähigem Reformgegner im zweiten Teil seines Aufsatzes zurückgenommen. Denn hier wird der rigide, an der „Vernichtung“ des Proudhonismus (27) arbeitende Marx plötzlich zu einem „verbindenden sozialistischen Intellektuellen“, dem es gelang, in der IAA Bündnisse mit Anhängern von Proudhon oder Blanqui zu schmieden, „das Weiterführende und strategisch Sinnvolle in jeder der unterschiedlichen Positionen auszumachen.“ (29) Brie verweist auf die Darstellung von Marcello Musto im gleichen Heft, der die Rolle von Marx in der IAA beleuchtet. Die faktische Führungsposition von Marx habe, so Brie, in dieser Fähigkeit bestanden: „Es sind seine Versuche, die Zentrierung auf die Arbeiterklasse mit einer Öffnung für breite antikapitalistische Allianzen zu verbinden, von denen wir heute lernen können.“ (30) Erst gegen Ende des Aufsatzes wird klar, dass Brie wohl eher die aktuelle Situation in der Linkspartei als die IAA im Auge hat: Marx habe da Erfolg gehabt, wo er politische Widersprüche als „unverzichtbare Elemente“ einer „revolutionären Realpolitik“ akzeptierte, er sei dort „gescheitert“ „wo er sie als alleinherrschende Ansichten“ durchsetzen wollte (31). Auch wenn, wie Musto meint, Marx in der Auseinandersetzung innerhalb der IAA später taktische Fehler begangen habe, hängt das nicht mit der von Brie beschworenen angeblichen „Strategie der Erzwingung“ zusammen. Marx hat vielmehr in seiner politischen Praxis gezeigt, dass analytische Klarheit politische Bündnisse nicht ausschließt, wie auch umgekehrt Kooperationen und offene Diskussionen nicht im Widerspruch zu Prinzipientreue stehen. Ob das so in der Linkspartei angekommen ist?
Jörg Goldberg
Marx und die SPD
Wenn selbst die „FAZ“ sich im Marx-200-Jahr dem Leben und Werk des Mitbegründers des wissenschaftlichen Sozialismus widmet, kann die SPD-Linke nicht abseits bleiben. Von daher ist es begrüßenswert, dass die in Dortmund erscheinende „spw“ in ihrem Heft 224[2] „200 Jahre Marx“ zum Schwerpunkt gemacht hat, zeigt es doch, dass sich die sozialdemokratische Linke noch längst nicht vom Sozialismus verabschiedet zu haben scheint. Dass die „spw“ schon in ihrem Namen auf die gleichnamige Zeitschrift Paul Levis Bezug nimmt, ein für die marxistische Linke in der SPD der Weimarer Republik wichtiges Periodikum, sei nur beiläufig erwähnt.
In der Einleitung zum Heft heißt es, dass es nicht der spw-Bezug zum Marx-Jahr sein kann, „einfach nur ein Nostalgie-Heft aufzulegen“. Marx sei „nicht nur als Ikone für die eigene politische Ahnengalerie und Identität zu pflegen“, sondern tatsächlich auch als moderner Denker zu nutzen. Der SPD als Gesamtpartei wird der unterstützenswerte Rat erteilt, „endlich wieder an einer klaren Einschätzung zu arbeiten, was eigentlich ökonomisch und gesellschaftlich um sie herum passiert“. (13) Und hierzu trägt dieses Heft sicher ein Stück bei. In fünf Beiträgen wird um das Verhältnis zur GroKo gerungen, die skeptisch bis ablehnend betrachtet wird. Die Mitglieder des Juso-Bundesvorstands Jan Dieren, Matthias Glomb und Jessica Rosenthal dazu: „Wir brauchen einen radikalen Aufbruch und einen fortschrittlichen Gesellschaftsentwurf“. Dazu benötigt die gesellschaftliche Linke ein Bündnis aller fortschrittlichen Kräfte, will sie die Fragen der Zeit verstehen und Antworten darauf erarbeiten. (7) Die parlamentarische GroKo-Gegnerin Hilde Mattheis fordert eine klarere Kante gegenüber der Union. (92ff) In vierzehn Beiträgen knüpfen Sozialdemokraten von Katarina Barley bis Uli Schöler an verschiedene Aspekte der Marx-Diskussion und Marxrezeption gestern wie heute an. Nicht jeder Beitrag dürfte sich uneingeschränkter Zustimmung erfreuen, aber allesamt zeigen sie, dass es auch in der krisenhaft durchgeschüttelten Sozialdemokratie der Gegenwart ein Bedürfnis nach programmatischer Rückbindung gibt. Je mehr Marx dazu beitragen kann, desto besser. Ansätze zu einer wieder bewusst sozialdemokratischer gestalteten Politik formuliert Dirk Meyer in seinen Leitideen für den Erneuerungsprozess der Sozialdemokratie. (81-88) Vieles davon ist anschlussfähig für gesellschaftliche Bündnisse unter Einschluss der Gewerkschaften.
Sehr gut gefällt mir der Beitrag Uli Schölers: „Marx. Von Westphalen, Schöler – eine kleine Familiengeschichte“. (56-59) Über Lina Schöler, 1819 in Köln geboren, Tochter des Bruders des Ururgroßvaters Uli Schölers, des Mitherausgebers der Bände 1 und 2 der Schriften Wolfgang Abendroths, ist leider wenig bekannt. Schöler arbeitet spannend die enge Beziehung Lina Schölers zu Jenny Marx, geb. von Westphalen und Ehefrau Karls, sowie zu Friedrich Engels und Ernestine Liebknecht heraus. Jenny Marx nannte Lina Schöler, die 1891 in Koblenz starb, ihre „Herzensschwester“. Die politische Familienbindung der SPD zu Marx – die SPD sollte sie wieder zu ehren lernen.
Holger Czitrich-Stahl
„Authentischer Marxismus“?
Auch die aktuellen Marxistischen Blätter[3] widmen ihren Schwerpunkt dem 200. Geburtstag von Karl Marx. In seinem knappen Eröffnungsbeitrag nennt Dietmar Dath drei Punkte, durch die sich für ihn Marxens Werk vor anderen „Theorien gegen das Unrecht“ auszeichnet: Erstens habe Marx gezeigt, dass die Produktivität des Kapitalismus erst jene gesellschaftlichen Zustände geschaffen hat, die eine Überwindung des Kapitalismus möglich machen; zweitens habe er erkannt, welche soziale Klasse das „Unrecht“ abschaffen kann, diejenige nämlich, die nichts besitzt „außer ihrem Arbeitsvermögen, die also keine Arbeit anderer kommandieren“ kann. Drittens: „Klagen über das Unrecht helfen nicht, analytisch unterentwickelte Theorien über eine mögliche Welt ohne Unrecht helfen nicht: Das ist die Kritik der Ohnmacht der Utopie, die bei Marx die Kritik der Realität ergänzt.“ Hierzu wünscht man sich mehr Auskünfte. Gerade weil bereits Marx eine Reife der Produktivkräfte diagnostizierte, die einen Sozialismus ermöglichen würde, stellt sich die Frage, warum der Kapitalismus heute immer noch die herrschende Produktionsweise ist. Das Proletariat hat in vielen Ländern der Welt erfolgreich für die Verbesserung seiner Lage gekämpft, aber gerade deshalb haben seine Nachfahren bei einer Revolution etwas zu verlieren. Der allgemeine Hinweis auf die Stellung der abhängig Beschäftigten im Produktionsprozess genügt offensichtlich nicht. Vorwerfen kann man das dem Text wohl eher nicht. Es geht darin weniger um eine umfassende Analyse, sondern mehr darum, zentrale Thesen auf den Punkt zu bringen.
Holger Wendt führt sehr unterschiedliche Kritiken an Marxens Arbeitswerttheorie vor. Hans-Werner Sinn hält diese einfach für Ideologie, Paul Baran und Paul Sweezy dagegen glaubten, im Monopolkapitalismus entfielen die Voraussetzungen für ihre Geltung. Beide Kritiken sollte man nicht in einen Topf werfen. Merkwürdigerweise unternimmt Wendt keinen Versuch der Verteidigung; er scheint sich an ein Publikum zu wenden, das er in diesem Punkt nicht zu überzeugen braucht. Wendt will den Marxismus als theoretisches System haben. „Der Begriff ‚System’ verursacht einigen Marxistinnen und Marxisten Magengrimmen. Er wird assoziiert mit einem abgeschlossenen (…) Theoriegebäude.“ Wendt meint allerdings etwas Selbstverständliches, wofür der Ausdruck „System“ ein wenig hochgegriffen ist, nämlich den „Anspruch, die verschiedenen Aspekte einer wissenschaftlichen Weltsicht (…) konsistent aufeinander (zu) beziehen.“ Hier sollte man zweierlei auseinanderhalten: Wissenschaftspolitisch ist eine Bandbreite widersprüchlicher Positionen wünschenswert, sonst ist fachlicher Disput nicht möglich. Eine Theorie, die jemand vertritt, sollte Konsistenz beanspruchen, sonst wäre Disput nicht nötig. Wendts Forderung nach einem „authentischen Marxismus“ erzeugt nicht Magengrimmen, sondern Kopfschmerzen. Mit dem Begriff unterstellt Wendt eine konsistente Marxsche Theorie, was jedoch nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern bewiesen werden muss. Zudem müssen die Aussagen einer Theorie nicht bloß zueinander passen, sie sollten auch mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Und schließlich umfasst die unter dem Namen „Marxismus“ bekannt gewordene wissenschaftliche und politische Tradition viel mehr als nur das Werk von Marx. Konsistent ist sie sicher nicht.
Auf 20 fulminanten Seiten umreißt Georg Fülberth Marxens Leben und Nachleben, indem er es in den jeweiligen historischen Kontext stellt. Fülberth nennt wichtige Voraussetzungen, die Marx vorfand: die um 1780 begonnene Industrielle Revolution und das Massenelend des Proletariats, die zahlreichen politischen Revolutionen der Epoche, die Arbeiterbewegung, die materialistischen ökonomischen Theorien von Smith und Ricardo sowie die Philosophie Hegels. Vor seiner Freundschaft mit Engels sei das Proletariat bei Marx nur eine philosophische Kategorie gewesen. Festgehalten habe er an der Annahme, die Arbeiterklasse würde durch die Umstände zur Revolution gezwungen werden, was bis heute eine Leer- und Schwachstelle im Parteimarxismus geblieben sei. Wie im Fall von Marx verfährt Fülberth in seiner Darstellung der Beiträge von Engels, Luxemburg, Bernstein, Lenin, Grossmann, Hilferding und anderen, wobei er unter anderem die Patriarchatskritik von Engels und Bebel hervorhebt. Fülberth nennt drei für die Menschheit existenziell wichtige Probleme, die ohne Marxens Einsichten nicht zu bewältigen seien: Ungleichheit, national und international, Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen sowie Kriege und Kriegsgefahren.
Klaus Müller setzt sich mit dem Begriff der Dienstleistung in der Marxschen bzw. marxistischen Theorie auseinander, der, wie er zeigt, in marxistischen Wörterbüchern in Ost und West vernachlässigt wurde. Er erörtert das Verhältnis von Ware und Dienstleistung sowie die Frage der Wert- und Mehrwertproduktion durch Dienstleistungen. Weitere Beiträge des Schwerpunkts behandeln die Themen Dialektik (Richard Sorg), politische Ethik (Thomas Metscher), Brechts Gedichtfragment zum Kommunistischen Manifest (Jenny Farrell) sowie „Mensch, Natur, Kapital und Befreiung“ (Wolfgang Jantzen). Wenn das runde Geburtsjahr vorüber ist, dann wird wieder mehr Zeit sein, nicht nur auf das Marxsche Werk zu blicken, sondern mit den in diesem Werk hinterlassenen Mitteln auf den Kapitalismus der Gegenwart.
Michael Zander
Marx 200: Paradoxe Situation?
Die Münchener Zeitschrift für Philosophie „Widerspruch“ bringt in ihrer Ausgabe 65 (Karl Marx 1818-2018)[4], eine Umfrage „Zur Aktualität des Denkens von Karl Marx“, an der 21 Philosophen und eine Philosophin zumeist aus der BRD beteiligt sind. Gefragt wurde, ob „der neue Typus von Theorie“, den Marx geschaffen habe, heute noch eine Herausforderung darstelle; ob es im Marxschen Theoriegebäude „grundlegende Einsichten“ gäbe, die heute noch tragfähig seien oder ob es sich höchstens um einen „Steinbruch“ handele, wo dies und das vielleicht noch interessant sein könne; ob das Marxsche Denken „Perspektiven auf die Zukunft“ enthalte, die gegenwärtig „aufgenommen und weitergeführt werden können“. Die Redaktion bilanziert einleitend die großen Geburtstage von Marx 1918 und 1968 – Einweihung des Marx-Engels-Denkmals durch Lenin 1918 in Moskau; Studentenrevolten 1968 in Berkeley, Paris, Berlin, Prag und Tokio – hier wie da das Bedürfnis und der Wille, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern. Heute dagegen, zu einem 200. Geburtstag, „wird Marx von den Theoretikern und Intellektuellen als Interpret des Kapitals gefeiert; aber nur von den wenigstens als der Weltveränderer, der er doch ausdrücklich hatte sein wollen.“ (11) Wenn dies, wie die Redaktion konstatiert, auch die Antworten auf die Umfrage nahelegen, so könnte das natürlich auch daran liegen, wen man denn da um seine Meinung gebeten hat. Hier stehen die einen gegen die anderen. Der gerade von uns gegangene Elmar Altvater hält Marx für jene, die ernsthaft die widersprüchliche Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft – vielleicht wäre besser von Gesellschaften zu sprechen – begreifen wollen, immer für eine Herausforderung; „für die bloßen Interpreten der Zeitläufte“ sicher nicht. Er nennt – Frage zwei – die Marxsche Theorie „immer noch einzigartig und modern“ – keineswegs ein „Steinbruch“, und er verweist auf die Analyse von Ware, Arbeit, Wertbildung. „Perspektiven auf die Zukunft“? Den Gesamtzusammenhang denken, um „mit der alten Scheiße“ aufzuräumen (14-16). Wolfgang Fritz Haug argumentiert mit anderen Akzenten in die gleiche Richtung. Er plädiert für „historisch-praktischen Materialismus“, das Stellen der „Marxfrage“ nach einer „Produktionsweise, die im Dienst der gesellschaftlichen Menschheit steht, statt Mensch und Erde zu ihrem Spielball zu machen“ und er kann sich zu Recht „kein der Zukunft und … der Wahrheit“ verpflichtetes Denken vorstellen, „das die Grundimpulse und (weiterzuentwickelnden) Erkenntnismittel des Marxschen Denkens in den Wind schlägt“ (39/40). Macht es demgegenüber Sinn, konservativ-ordoliberale katholische Wirtschaftsethiker wie z.B. Karl Homann und Ingo Spies mit den gleichen Fragen zu belästigen, die ihnen – wie ihre ausführliche Antwort zeigt – nichts sagen? („Sozialismus gescheitert“, „allenfalls Unbelehrbare…“, „Marx als Politiker …out“, „kapitale Fehler“, „nicht Klassenkampf – gelebte Sozialpartnerschaft“, „nicht nur falsche Diagnose –Demagoge“ usw.) Unabhängig davon: Die meisten der Interventionen – und ihre Bündelung – sind mit Gewinn zu lesen. Überraschend: Kein – wenn ich es richtig sehe – Philosoph aus der DDR wurde hier befragt. Denen hätten die von der Redaktion gestellten Fragen durchaus etwas gesagt.
André Leisewitz
Arbeiterklasse und die Rechte
Die Zeitschrift Wildcat meldet sich nach einem Jahr zurück. Die ihrem Selbstverständnis nach operaistische, syndikalistische Zeitschrift macht Heft 101[5] mit einem wie üblich ungezeichneten Aufsatz zu „1916/21 – die verpasste Weltrevolution“ auf. Die Negativbewertung der Oktoberrevolution als „militärische Machtübernahme durch eine Minderheit, aber noch mit Lernprozessen der Massen synchronisiert“ (4) ist nicht neu. Uneins ist man sich in der Bewertung. Auf Macht zu verzichten und allein auf Lernprozess zu setzen scheint nicht akzeptabel. Der Artikel verweist auf die bei Linken nicht nur in der Sozialdemokratie vorhandene Furcht der Führer vor den Massen (7), findet aber auch keine Antwort. Vergessen wird, dass die unperfekte bolschewistische Revolution 70 Jahre lang kommunistische wie nationale Befreiungskräfte motivierte, nichtkommunistische Linke wie Kapitalismus herausforderte, inspirierte und zu Widerspruch zwang. Erfreulich bleibt die Offenheit des Artikels, sein Blick auf ungelöste Fragen, die zugleich an die angeblich ebenso verpasste Weltrevolution 1965/80 weitergegeben werden.
Der Topos „Furcht vor den Massen“ bestimmt einen Großteil der aktuellen Artikel, wenn in die betriebliche Realität geschaut und nach dem Einfluss „rechter Kollegen“ und Ideologien gefahndet wird. Schnell werden die Berichterstatter an diversen Arbeitsplätzen fündig. Sie hören rassistische Äußerungen, abfällige Bemerkungen, sehen oft ganz normale Zusammenarbeit derselben „rechten“ Kollegen mit ihren migrantischen Arbeitskollegen. „Fast überall wird massiver Rassismus festgestellt, aber von Einzelfällen abgesehen nicht als die monolithische ‘böse Identität’, die er in vielen antirassistischen Diskursen darstellt, sondern wesentlich widersprüchlicher, fließend, vielfältig gespalten - eher Ausdruck von Schwachsinn und Verzweiflung als von gefestigten Herrenmenschen-Ansichten.“ (68) Die Autoren freuen sich immerhin, dass ihre Betriebsreporter konstatieren: „Die Erfolge der AfD und anderer Faschos bringen offenbar Leute dazu, einiges neu zu bedenken.“ (68) Unverkennbar aber ist die Schwäche der Gegenkräfte, es sind zu wenige, die sich Sprüchen und Argumenten von rechts entgegenstellen, auch die Antworten müssten konkreter werden.
Eine breit angelegte Sammelbesprechung deutscher und französischer Titel zeigt sich unzufrieden, weil sie von den Buchautoren nichts „Revolutionäres“ erwarten kann. Immerhin, die Wahlerfolge von AfD, Trump und Front National zwingen Linke, sich wieder mit ArbeiterInnen zu beschäftigen (82). Bücher von Didier Eribon, Christian Baron, Frank Hertel, Oliver Nachtwey, Friederike Behl, Klaus Dörre u.a. stehen im Mittelpunkt.
Interessanter ist die Besprechung zweier bislang nur auf Französisch vorliegenden Werke von Christophe Guilluy (La France périphérique. Comment on a sacrifié les classes populaires, 2015) und Gérard Mauger/Willy Pelletier (Hrsg., Les classes populaires et le FN. Explications de vote, 2016). Der FN ist im Unterschied zur AfD bereits lange politisch aktiv und erzielt konstant hohe Wahlergebnisse auch unter Arbeitern. Seine Besonderheit ist die enge und flexible Verbindung von sich sozial gebenden Losungen und Lösungsansätzen mit neoliberalen Konzepten. Ausgrenzung „fremder“ Teile der Gesellschaft ist die Antwort des FN auf vermeintlich begrenzte Ressourcen, die zuallererst den Franzosen zugutekommen sollen. „Der Erfolg des FN erkläre sich nicht aus einer ‘Ideologie’, die Wählerbedürfnisse repräsentiere, sondern eher aus der Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler Menschen aus der Arbeiter- und den Mittelklassen. Von ihrem Gefühl, nicht die Politik bestimme die Lage, sondern Wirtschaft und Finanzwelt, profitiere in erster Linie der FN.“ (92) Er sei in der Lage, sich anzupassen, den Wählern nach dem Munde zu reden und grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens aufzuwerfen. Der FN sei deshalb gefährlich, weil nicht sein Programm, sondern seine „moralisierende Rhetorik“ mobilisiere.
Die Lektüre der beiden Bände erinnert die Rezensenten daran, dass sich die eigentliche traditionelle Arbeiterpartei, die PCF, zweifach bei den Wählern unbeliebt gemacht hat. Sie vergessen der Partei nicht die Mitregierungszeiten 1981/84 und 1997/2002, in der sie enttäuschte. Gleichzeitig habe sie sich in den letzten beiden Jahrzehnten „nicht mehr vorrangig an die populären Klassen“ gewandt. „Vielmehr will sie ‘die Gesellschaft in ihrer Diversität’ repräsentieren – auf Kosten des Kampfs gegen die Ausbeutung. Arbeiter und Angestellte wurden im Apparat zugunsten von Studierten immer mehr an den Rand gedrängt.“ (92) Auf einmal gibt es eine neue „Arbeiterpartei“, den FN.
Bleibt die Frage, irrt die Klasse oder hat die organisierte Linke versagt und versucht, jetzt die Scherben aufzukehren?
Stefan Bollinger
[1] LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Berlin, H. 2/3-2017.
[2] spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 224, Dortmund 2018.
[3] Marxistische Blätter, Essen, Heft 3/2018.
[4] Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, H. 65 (2017), „Karl Marx 1818-2018
[5] Wildcat 101, Winter 2017/2018, Köln.