1. Auf- und Abstiegsprozesse
Gehäufte Aufstiegs- und Abstiegsprozesse von Ländern bzw.
„nationalen“ Ökonomien und Regionen sind in den
letzten vier Jahrzehnten besonders auf-fällig gewesen und
haben die Machtverhältnisse auf Weltebene seither deut-lich
verändert. Das Phänomen der BRIC-Staaten (Schmalz 2006a)
seit einigen Jahren, vorher schon das der „ostasiatischen
Tiger“ und anderer Fälle einer-seits und das
Zurückfallen des subsaharischen Afrika, einiger Länder
des Na-hen Ostens und Lateinamerikas andererseits
repräsentieren die markantesten Beispiele. Das relative
Zurückbleiben von „altindustriellen“
Zentralländern (wie z.B. Großbritannien) ist ein
weiteres Element dieser gegenläufigen Prozesse.
2. Dependenz- und Regulationstheorien
Theorien der Entwicklung/Unterentwicklung bzw. der ungleichen
Entwicklung im Weltmaßstab hätten diese Tendenzen zu
erklären. Hier soll kurz der Frage nachgegangen werden,
inwieweit dependenz- und/oder regulationstheo-retische Ansätze
dies zu leisten vermögen.
Im Mittelpunkt der – im Übrigen sehr unterschiedlichen
– Dependenztheorien steht die Frage, ob und wie die
dauerhafte Unterordnung und vergleichsweise Unterentwicklung
bestimmter Länder und Ländergruppen (der Peripherie)
durch ihre ökonomisch-politischen Beziehungen zu den Zentren
zu erklären ist. Dabei spielen keineswegs nur die
Außenbeziehungen und „externen“ Faktoren eine
Rolle, sondern auch (schon vorher vorhandene) bzw. von außen
an-gestoßene, nun interne Faktoren, Strukturen und kollektive
Akteure. Die Hauptfragen beziehen sich auf Entstehung, Entwicklung
und Formverwand-lung von Abhängigkeit und Unterentwicklung,
kaum auf die Frage der „Ver-besserung“ des Status im
Weltsystem.
Die „Überwindung“ von
Abhängigkeit/Unterentwicklung wurde mehrheitlich in der
Abkoppelung vom kapitalistischen Weltsystem bzw. im Übergang
zum Sozialismus gesehen.
Die Regulationstheorie – von der es nicht minder viele
Varianten gab und gibt – war im Kern der Versuch, die
allgemein-abstrakte Kapitalismustheorie raum-zeitlich zu
konkretisieren sowie eine Handlungsdimension zu den
struk-turalistischen Komponenten hinzuzufügen. Mithilfe
variierender Akkumulati-onsregime und jeweils damit kombinierter
Regulationsregime sollten Stabilitäts-, Widerspruchs- und
damit auch Instabilitätselemente dingfest gemacht werden. Die
Hauptfrage war dabei, wie sich durch das Ineinandergreifen
be-stimmter Akkumulations- und Regulationsregime die relativ
dauerhafte Stabi-lität eines im Prinzip widerspruchsvollen und
krisenanfälligen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems
erklärt.
Fragen nach der aktuellen Transformation von Staatlichkeit (und
deren verän-derte Raumbezüge), nach politischen
Auseinandersetzungen und Kräftever-hältnissen wie auch
nach internationalen Beziehungen und Dimensionen war-en (und sind
teilweise noch) in vielen regulationistischen Arbeiten
gänzlich abwesend oder werden nur am Rande behandelt (Siehe
Becker 2003: 63, Brand 2003: 304ff.).
Beide Theorieansätze, die ganz unterschiedliche Fragstellungen
aufweisen (und sich daher auch nicht widersprechen), werfen die
einleitend in These 1 gestellte Problematik gar nicht explizit
auf.
Dennoch kann M.E. sinnvoll darüber nachgedacht werden, ob und
inwieweit sich mittels bestimmter Theorieelemente beider
Denkschulen die oben aufge-worfene Fragestellung weiter verfolgen
lässt.
3. Bedingungen von Aufholprozessen am Weltmarkt
Grundlegende Kategorien der Regulationstheorie können für
die eingangs aufgeworfene Fragestellung fruchtbar gemacht werden.
Zunächst soll zwi-schen unterschiedlichen Akkumulationsregimen
unterschieden werden:
kapitalistische Akkumulation und andere
Produktionsweisen;
produktive vs. finanziarisierte oder
handelskapitalistische Akkumulation;
extensive vs. intensive Akkumulation;
Introversion vs. Extraversion der Akkumulation (vgl.
Becker 2009: 89ff.).
In dieser Terminologie lässt sich mit einiger Sicherheit
behaupten, dass Auf-holprozesse im Weltsystem dann erfolgreich bzw.
schneller vonstatten gehen
wenn die kapitalistische Akkumulation die
nicht-kapitalistischen Formen der Produktion schnell aufsaugt oder
eindeutig unterordnet,
wenn die produktive Akkumulation über die
finanziarisierte oder bloße handelskapitalistische
obsiegt,
wenn die extensive zugunsten der intensiven Akkumulation
zurückged-rängt wird,
und wenn statt (passiver) Extraversion der Akkumulation
(hohe Abhän-gigkeit von Rohstoffexporten und
Importabhängigkeit von verarbeiteten Produkten, insbes.
Investitionsgütern) entweder in Richtung aktiver Ex-traversion
oder verstärkter Introversion (Binnenmarktexpansion)
voran-geschritten wird.
4. Richtungswechsel von Akkumulationsregimen
Da viele periphere Länder diese auf mehreren Ebenen
stattfindenden Akku-mulationsprozesse – aufgrund zu hoher
objektiver und subjektiver Barrieren - nicht in der angedeuteten
Weise verändern können, bleiben sie in peripherer
Position oder steigen sogar noch weiter ab. Daher ist es besonders
interessant zu fragen, vermittels welcher Regulationsregime und -
mechanismen ein de-rartiger Richtungswechsel in den
Akkumulationsregimen erreicht werden kann.
Bekanntlich werden vier grundlegende Regulationsdimensionen
genannt, die den gesellschaftlichen und individuellen
Reproduktionsprozess bestimmen: das Lohnverhältnis, das
Konkurrenzverhältnis, die monetäre Restriktion und die
ökologische Restriktion. Diese einzelnen Regulationsregime
oder -dimensionen weisen wiederum jeweils für sich
unterschiedliche Facetten auf. Alle vier sind durch staatliche
Eingriffe mehr oder minder direkt vermittelt.
Generell lässt sich wahrscheinlich die These vertreten, dass
bedeutende Auf-holprozesse (quantitativ und qualitativ) nur unter
Bedingungen einer relativ prosperitären und dynamischen
Weltmarktentwicklung denkbar sind.
Das Erreichen einer aktiven Extraversion der Akkumulation, die
gleichzeitig eine produktive und intensive sein kann (ostasiatische
Tigerstaaten), wird nicht selten von einer kleinen und sehr niedrig
bezahlten Lohnarbeiterschaft – mit extrem langen
Arbeitszeiten und sehr gefährlichen Arbeitsbedingungen –
getragen. Im Laufe eines dynamischen Akkumulationsprozesses mit
hohen Exportsteigerungsraten kommt es auch zu einer Intensivierung
der Akkumulation, zu bedeutenden Produktivitätssteigerungen
und einer Aus-dehnung des Binnenmarktes, was wiederum
Lohnsteigerungen einschließt bzw. erzwingt. Agrarreformen und
Produktivitätssteigerungen im Landwirt-schaftssektor
unterstützen diese binnenmarktorientierte Akkumulation durch
Arbeitskraftzufuhr und erhöhtes Nachfragepotential der
Landwirtschaft.
Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalen wird durch den
Staat über-wacht und gelenkt. Durch aktive Industrie- und
Technologiepolitik des Staates nicht zuletzt über gezielte
Kreditpolitik wird ein beständiger und starker Strukturwandel
der Produktionsstruktur im Sinne der Steigerung der
Welt-marktkonkurrenzfähigkeit und der Vertiefung des
Binnenmarktes forciert und begleitet. Wesentlich scheint eine
wechselseitige Abfolge von Introversion und Extraversion zu sein
sowie ein damit verbundener Übergang von passiver zu aktiver
Extraversion (vgl. hierzu schon, wenn auch in anderer Terminologie:
Menzel/Senghaas 1986: 138ff.).
Die monetäre Restriktion bezieht sich darauf, dass ein
erfolgreicher Verwer-tungs- und Entlohnungsprozess letztlich von
der Umwandlung der Waren in Geld abhängt, und dies erfolgreich
nur eintreten kann, wenn Inflation und Deflation, erst recht
Hyperinflation, vermieden werden. Nach außen begünstigt
eine unterbewertete Währung die Exportchancen und wirkt
zugleich als Schutz vor Importkonkurrenz auf dem heimischen
Binnenmarkt.
Die ökologische Restriktion bezieht sich auf die Erhaltung
bzw. nur nachhaltige Vernutzung nicht erneuerbarer Roh- und
Naturstoffe. Eine diese Restriktionen nicht genügend
berücksichtigende Politik (wie bis vor kurzem und teilweise
auch noch heute in China) kann das Wachstum durch parallel
steigende hohe ökologische und die menschliche Reproduktion
bedrohende Kosten konterkarieren.
Zu diesen Regulationsregimen müsste sicherlich noch die
Dimension der So-zial- und Altersicherung, der Ausgaben für
Gesundheit und vor allem für Bil-dung hinzugefügt werden.
Denn es ist kaum vorstellbar, dass ohne einschnei-dende
Veränderungen auch in diesen Bereichen ein dynamischer und
langfris-tiger Aufholprozess möglich ist.
5. Staat und Akkumulationsregime
Voraussetzung für die Realisierung dieser neuen Achse der
Akkumulation ist nicht nur eine dynamische Weltmarktkonjunktur
(dies gilt auch für die zu-rückbleibenden Länder),
sondern vor allem ein relativ autonomer und effi-zienter Staat,
wobei dieser als solcher auch ausnahmsweise – wie das bei den
Tigerstaaten Ostasiens zu einem erhebliche Teil der Fall war
– von außen (vor allem durch die USA aus Gründen
der Systemkonkurrenz) massiv unterstützt werden
kann.
6. Unterschätzung der Möglichkeit, Abhängigkeit zu
verringern
Das Konzept, einseitige, asymmetrische Abhängigkeiten vom
Weltmarkt bzw. vom Zentrum durch verstärkte Integration in
diesen Weltmarkt zu verringern oder abzubauen, ist den meisten
Dependenztheorien völlig fremd. Die mögli-chen
Handlungsspielräume für derartige Aufholprozesse wurden
in der Regel unterschätzt, da die einseitige Benachteiligung
auf dem Weltmarkt und durch einseitige Transferprozesse des
Auslandskapitals vermittelte Ausbeutung als feststehende, nicht
wesentlich veränderbare Größen wahrgenommen wurden
(vgl. im Überblick: Kay 1989).
7. Differenzierungen in Dependenztheorien
Im Unterschied zur Mehrheit der dependenztheoretischen Ansätze
und Analy-sen, bei denen die „Logik der
Kapitalakkumulation“ im Allgemeinen oder auf Welt- bzw. auf
Zentrumsebene alles in der Peripherie determiniert, die Formen von
Abhängigkeit zwar wechseln können, die Substanz und die
Ergebnisse aber dieselben bleiben und im Unterschied zur Betonung
der beständigen Reproduktion von externer Herrschaft, wird bei
Cardoso und Faletto das Ver-hältnis von externen und internen
Faktoren dialektisch gesehen. Die Folgen und Inhalte von
Abhängigkeit seien in Hinsicht auf Entwicklungsprozesse
durchaus unterschiedlich. So ist es ihrer Auffassung nach nicht
statthaft, für alle Fälle anzunehmen, „dass
Abhängigkeitsverhältnisse fortwährend und
notwendigerweise mehr Unterentwicklung und Abhängigkeit
erzeugen“ und „Möglichkeiten zur Veränderung
der Strukturen“ ausgeschlossen werden (Cardoso/Faletto 1976:
211). Es gehe darum, Erklärungsmuster zu finden, die zu
bestimmen erlauben, wie allgemeine Trends der kapitalistischen
Expansion sich in konkrete Beziehungen zwischen Menschen, Klassen
und Staaten der Peripherie umsetzen. Nur so könne erklärt
werden, wie z.B. zu unterschiedlichen Zeitpunkten Teile der lokalen
gesellschaftlichen Klassen sich mit ausländischen Interessen
verbünden oder in Gegensatz zu ihnen geraten, andere Formen
des Staates aufbauen und andere Ideologien vertreten, neue
politische Wege gehen und alternative Strategien zu formulieren
versuchen, „um den imperialistischen Herausforderungen in
bestimmten Augenblicken der Geschichte zu begegnen“ (ebd.:
219).
In diesem Sinne handelt es sich bei einem solchen Verständnis
von Depen-denztheorie – ebenso wie bei der Regulationstheorie
– um einen Versuch der Konkretisierung und Historisierung der
allgemeinen Kapitalismusentwicklung (hier in seinem Verhältnis
von Zentren und Peripherien). In diesem Sinne schlägt G.
Gereffi eine analytische Differenzierung der unterschiedlichen
Ab-hängigkeitsformen vor und versucht, daraus differierende
Entwicklungsva-rianten abzuleiten. Wesentlich ist auch bei seinem
Versuch einer theoretischen Synthese, dass internationale,
nationale und lokale Ebenen in ihren Interde-pendenzbeziehungen in
unterschiedlichen zeitlichen Perioden untersucht wer-den. Je nach
Art nationaler Institutionen und sonstiger jeweiliger Bedingungen
sieht er wichtige Unterschiede im „dependency
managment“. „Dieser Ansatz richtet seine Aufmerksamkeit
auf die Fähigkeit der einheimischen Institutionen, die
äußeren ökonomischen Ressourcen produktiv und
selektiv im Dienst lokaler Interessen einzusetzen.” (Gereffi
1994 : 42)
8. Faktoren, die Aufstiegsprozesse begünstigen und
ermöglichen
Theoretische Erklärungsansätze für die aktuellen
Auf- und Abstiegsprozesse im kapitalistischen Weltsystem, die Frage
der Determinanten der gegenwärti-gen weltweiten
„ungleichen Entwicklung“ und deren mittelfristige
Perspektiven sind verhältnismäßig rar und
keineswegs widerspruchsfrei. Nicht selten werden recht
unterkomplexe Theoriekonstrukte präsentiert, z.B. bei
Wallerstein, der diese Frage häufig mit dem Verweis auf die
militärische Stärke von einzelnen Staaten und das
Ausmaß der Handelsübervorteilung, die dadurch
ermöglicht wird, ‚erledigt’. (Belege bei: Imbusch
1990.49ff;78ff.)
Auszugehen ist von den Charakteristika des gegenwärtig
vorherrschenden Modells kapitalistischer Entwicklung und den mit
dieser Phase verbundenen globalen Verteilungsverhältnissen von
ökonomischen, politischen und militä-rischen Ressourcen.
Die Ansätze zu einer neuen internationalen Arbeitstei-lung,
die mit Momenten der Deindustrialisierung (Tertiarisierung) in den
Met-ropolen und einer (zunächst) arbeitsintensiven
Industrialisierungswelle in ein-zelnen Entwicklungsländern
(Schwellenländer), dann in Enklaven von anderen
Entwicklungsländern begannen, fallen in die 1960er und 1970er
Jahre, also schon vor den Beginn der „eigentlichen“
neoliberalen Globalisierung. Ab Mitte der 1970er und Anfang der
1980er Jahre haben sich diese Prozesse verstärkt und auf ein
qualitativ anderes Niveau, auch bezüglich mancher
Indust-rialisierungsprozesse in Schwellenländern, gehoben. Von
der bloßen Auslage-rung arbeitsintensiver und/oder
ökologisch schädlicher Produktionssparten vollzog sich
nun der Übergang zur „globalen Produktion“, d.h.
zur weltweiten Aufteilung einzelner Produktionsabschnitte eines
integralen Endprodukts; die-ses dezentralisierte, globale
Verarbeitungssystem bezieht periphere, semiperi-phere und zentrale
Länder gleichermaßen ein. Dabei sind die verschiedenen
Produktionsabschnitte und Glieder der Wertschöpfungskette von
der Rohstoffproduktion über die einzelnen Verarbeitungsstufen,
Verpackung, Werbung, Vermarktung, Planung, Forschung &
Entwicklung in der Regel – nach einem sich verändernden
Muster – in verschiedenen Län-dern/Produktionsstandorten
lokalisiert (Bair 2010). Aber auch in dieser Periode fanden die
Prozesse der Verteilung verschiedener Wertschöpfungsteile in
der Peripherie sehr ungleich statt.
Welche Faktoren und Zusammenhänge waren es nun, die für
diese unter-schiedlichen Entwicklungsweisen hauptsächlich
verantwortlich waren?
Wesentlich scheinen vor allem fünf Faktoren zu sein, die
ihrerseits eng zusam-menhängen und jeweils für sich
genommen vielfältige Facetten aufweisen:
a) Das Vorhandensein eines relativ effizienten und kohärenten
Staates bzw. Staatsapparats – auf der Basis eines
vergleichsweise stabilen Klassen-kompromisses; ob dies durch die
Globalisierung entscheidend relativiert wurde und eine
„Netzwerkfähigkeit“ privater Akteure den Einfluss
des Staates „stärker als bisher angenommen“
eingeschränkt hat, muss zumin-dest für erfolgreiche
Aufsteigerländer bezweifelt werden. Sicherlich ist in diesen
Fällen der „Nationalstaat“ immer noch mehr als
„nur noch ein Akteur unter vielen“ – wie Kappel
anzunehmen scheint (Kappel 2010: 20).
b) Die Durchführung von Agrarreformen, die zu spürbaren
Steigerungen der Agrarproduktivität führten und die
Landwirtschaft in die Lage versetzten, ein zunächst
„einseitiges Leistungsverhältnis“ (Werner Hofmann)
gege-nüber dem urban-industriellen Sektor zu
begründen.
c) Das Vorhandensein von bestimmten, gut verwertbaren Ressourcen
(seien es Arbeitskräfte in großem Umfang, Rohstoffe oder
Kompetenzen im technologischen und wissenschaftlichen
Bereich).
d) Wichtig ist das Ausmaß und die Beschleunigung von
Qualifikationspro-zessen bei einem wachsenden Teil der
Bevölkerung sowie ein markanter Anstieg der Ausgaben für
Forschung und Entwicklung (Kappel 2010: 30f.).
e) Schließlich ist die Bereitschaft wichtig, zu einer
zunächst beschränkten, subordinierten Kooperation mit
ausländischen Kapitalen bzw. entwickelten kapitalistischen
Staaten zu kommen, von der man hofft (und wie man sieht, nicht ohne
Berechtigung), dass sie sukzessive in eine tendenziell
wechselseitige, die anfänglich großen Asymmetrien
abschleifende, Interdependenzbeziehung umgewandelt werden
kann.
Zwar flossen Ressourcen und know-how sowie Technologie von
außen in die jeweiligen Länder, was sich in
Aufholprozessen niederschlug. Dies geschah aber praktisch in allen
Fällen vor dem Hintergrund eines stabilen und relativ
effizienten Staates, der den Ressourcenzufluss dosieren,
kanalisieren und konditionieren konnte. So konnte eine Art
Tauschgeschäft eingegangen wer-den, bei dem der Zugang zu
einem großen Absatz- und Arbeitsmarkt gegen den fast
kostenlose Transfer von Technologien getauscht wurde, wie dies
of-fenbar im Falle der Volksrepublik China gehandhabt wurde
(Schmalz 2006: 33). Nur auf dieser Basis und von diesem Fixpunkt
aus konnten verwertbare Ressourcen in jener Dynamik genutzt werden,
wie es z.B. in China, Indien, aber auch schon vorher in
Südkorea zu beobachten war (vgl. neuerdings Schmalz/Ebenau
2011).
Hinzu kommt die Art und Weise, wie Lernprozesse staatlicherseits
vorbereitet, ausgewertet und schließlich in klare und
verbindliche Orientierungen umge-setzt werden. In neueren Arbeiten
über die VR China als „lernendes autoritäres
System“, als eindrucksvolles Beispiel für „Policy
Experimentation“ oder expe-rimentierende Politikgestaltung
wird hervorgehoben, „dass es sich … um einen in der
Wirtschaftsverwaltung dezentral organisierten Staat handelt. Ein
ausgeprägter wirtschaftspolitischer Wettbewerb zwischen
regionalen Regierungen gehört zu den wichtigsten
Antriebskräften für Innovation und Wachstum…
Dezentrale Reforminitiativen und lokale Reformexperimente, durch
die beständig neue Optionen hervorgebracht werden und die im
Erfolgsfall in landesweite politische Programme
übergeführt werden, bildeten die dominierende
Vorgehensweise in Chinas Politik zur
Wirtschaftsreform.“
Die koordinierende und steuernde Funktion eines Staates bzw. einer
Regierung in einem solchen Falle bezieht sich auch auf die
Aushandlung der Be-dingungen des Austauschs mit externen Akteuren
sowie auf die Verknüpfung der Außeneinflüsse und
Außenverflechtung mit der internen Ökonomie und den
internen Akteuren (und zwar auf verschiedenen Ebenen, d.h. der
Unter-nehmensebene, der Ebene der Arbeitskräfte, der Ebene der
Weiterbildung und Entwicklung von Fähigkeiten etc.). Diese
Verknüpfungen mussten so beschaf-fen sein, dass sie zu keiner
Marginalisierung oder deutlichen Unterordnung der jeweiligen
Ökonomien in Schwellenländern führten, sondern dass
die internen Kräfte von dieser Kooperation, die immer unter
Kontrolle blieb, auch sichtbaren Nutzen ziehen konnten. Das
heißt auch, dass in gewissem Umfang sich auch z.B.
ausländische Direktinvestitionen den Bedingungen und
Wün-schen des gastgebenden Landes und seiner Regierung
anzupassen hatten, wie es umgekehrt natürlich auch – vor
allem im technologisch-wissenschaftlichen Bereich – zu
Anpassungs- und Lernprozessen seitens der jeweiligen
Bevölke-rungssegmente, die in solche neuen
Industrialisierungsprozesse involviert waren, kam. Obwohl diese
Kooperationsformen zum Teil in Gestalt von „freien
Exportzonen“ begannen, setzten sie sich in der Regel in einer
zunehmenden Verflechtung mit der aufnehmenden Ökonomie in
sukzessiver und kontrollierter Weise fort, was in vielen
Fällen zu jener von der CEPAL als
„Endogenisierung“ von wissenschaftlich-technologischen
Kenntnissen bezeichneten lokalen Aneignung und Internalisierung
solcher Fähigkeiten geführt hat. Dies ist
möglicherweise die zentrale Bedingung dafür, dass eine
untergeordnete Position sukzessive relativiert und nach bestimmten
Zeitfristen auch verlassen werden kann, so dass schließlich
eine relativ gleichberechtigte Position gege-nüber
ausländischen Partnern eingenommen werden kann.
Aus „geliehenem“, „konditioniertem“
Wachstum wird mittels Endogenisierung, d.h. innerer Verarbeitung
dieser Impulse, allmählich genuin eigene Stärke, mittels
der die jeweiligen Aushandlungsbedingungen mit auswärtigen
Partnern/Konkurrenten jeweils neu definiert werden
können.
Bei großen Ländern der Peripherie oder Semiperipherie
– wie z.B. China – sind dabei die staatlich gelenkten
außenwirtschaftlichen Absicherungen (Vermeidung von
Leistungsbilanzdefiziten, Erzielung hoher
Exportüberschüs-se, Devisenmarktinterventionen,
Kapitalverkehrskontrollen etc.) zwar sehr wichtig für das
Gelingen dieser Strategie; die interne Kontrolle und Förderung
einer hohen Investitionstätigkeit, die Kreditlenkung und
-konditionierung sowie die Schaffung von Einkommen über diese
Mechanismen scheinen aber noch grundlegender für den
erstaunlichen Aufholprozess dieses Landes gewe-sen zu sein (Herr
2011: 47ff), wobei dieser allerdings – bei der gleichzeitig
immer marktförmiger werdenden Gesellschaft – mit schnell
wachsender Einkom-mensungleichheit und extremer sozialer
Unsicherheit für große Teile der Be-völkerung
‚bezahlt’ wurde (Naughton 2007: 217ff.).
Es scheint, dass eine breit und differenziert angelegte
Regulationstheorie de-rartige ineinander greifende Mechanismen der
Begleitung und Steuerung von aufholenden und sich verändernden
Akkumulationsregimen in der Peripherie fokussieren und angemessen
bearbeiten könnte.
9. Sind die „Aufholmodelle“
verallgemeinerbar?
Solche Aufstiege in der Hierarchie der Weltökonomie –
wie wir sie gegenwärtig im Fall von China und Indien sehen
(zuvor bei den Tigerstaaten und davor bei Japan) – sind nicht
nur weltpolitisch und weltwirtschaftlich von höchster
Bedeutung, sondern natürlich auch entwicklungstheoretisch
interessant. Bei den Ländern der Peripherie, wo die
aufgezeigten strategisch wichtigen Va-riablen nicht oder nur
schwach oder in geringer Zahl vorkommen bzw. reali-sierbar sind,
wird es nicht zu einem „catch-up“ (oder Aufholprozess)
kommen können, sondern es werden relative Stagnation oder
sogar Rückfallprozesse vorherrschen. Die Abwesenheit solcher
entwicklungsförderlichen Faktoren und Mechanismen kann aus
ganz unterschiedlichen Gründen resultieren: der geringen
Größe des Landes, dem niedrigen vorkolonialen
Entwicklungsstand, der besonders räuberischen kolonialen
Vergangenheit, der Abwesenheit oder schwachen Ausprägung
zentralstaatlicher Traditionen, der besonderen Domi-nanz
ausländischer Investoren (mit eindeutig negativer
Gesamtwirkung), oder sogar der Anwesenheit fremder oder eigener
militärischer Opponenten auf den betreffenden nationalen
Territorien etc. (vgl. Kennedy 1996: Kap. 10). Neben diesen
historischen und politischen Unterschieden und Ausgangsniveaus sind
freilich auch Typologien von Entwicklungsländern nach ihrer
Exportstruktur und ihrem Technologieniveau möglich und
notwendig, wenn man differierende Aufstiegschancen im Weltsystem
abschätzen will (Kappel 2003).
Hinzu kommt: Wenn Aufstiegsprozesse im Weltsystem auf mittlere und
län-gere Sicht von Abstiegsprozessen begleitet waren (also in
gewissem Sinne Nullsummenelemente in sich trugen), so ist dies
wahrscheinlich in noch stär-kerem Maße im Hinblick auf
andere periphere Länder der Fall; vor allem, wenn es sich um
große periphere Länder handelt, die den Aufstiegsprozess
schaffen. Dass heißt, den Aufstieg Chinas und dessen
Präsenz auf wichtigen Exportmärkten, den USA und der EU,
spüren wichtige Konkurrenten wie z.B. Südkorea oder
Mexiko jetzt schon sehr wohl, da sie zum Teil ähnliche
Pro-duktionsniveaus und -sparten, ähnliche Exportprodukte wie
der aufholende Champion aufweisen. Sie müssen auf irgendeine
Weise auf diese Bedrohung ihres eigenen Aufstiegs reagieren (durch
Verlagerung von Produktion nach China u. a.). Teilweise aber sind
auch weniger entwickelte Länder – also
Nicht-Schwellenländer – betroffen, sofern diese z.B. mit
chinesischen Industriepro-dukten in anderen Ländern der
Dritten Welt oder sogar der „Ersten Welt“ in Konkurrenz
um Marktanteile treten wollen. Deren Chancen scheinen ange-sichts
des Gewichts und der Massivität von solchen Aufholprozessen
fast völlig aussichtslos zu sein.
Ob das „Modell China“ daher auf längere Sicht
einen ungeteilten positiven Widerhall in der Peripherie finden wird
(wie dies trotz aller angedeuteten Ge-fahrenmomente für manche
doch wohl noch beobachtet werden kann), muss abgewartet werden.
Dies wird davon abhängen, ob mit dem Aufstieg Chinas und
Indiens grundsätzliche Machtverschiebungen auf dem Weltmarkt
einher-gehen werden, die auch den übrigen Ländern der
Peripherie zugute kommen können, was meines Erachtens –
auf mittlere Sicht - nicht sehr wahrscheinlich ist. Zwar mögen
zunächst durch das Auftreten neuer globaler Akteure
größere Spielräume für schwächere
Länder der Peripherie entstehen. Aber nicht zu übersehen
ist, dass ein großer Teil der Handels- und
Direktinvestitionsbezie-hungen zwischen China und Afrika/
Lateinamerika den traditionellen Mustern des Verhältnisses von
Zentrum und Peripherie folgen. Damit aber, so scheint es, werden
durch die rasante Industrialisierung Chinas Nischen und Potenziale
auf dem Weltmarkt von aufstrebenden semiperipheren Ländern
besetzt, die unter anderen Bedingungen auch von anderen
Peripherieländern hätten ge-nutzt werden können
(Vgl. differenziert zu dieser Problematik: Goldberg 2010 sowie
Sevares 2011).
Damit beantwortet sich die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der
zuletzt genannten Fälle des „Aufholens“. Diese
Aufholprozesse sind – wegen der Besonderheit und den
spezifischen Hintergründen des Aufstiegs und wegen der damit
selbst neu geschaffenen Fakten in der Weltwirtschaft – nicht
oder nur im geringen Maße wiederholbar oder
übertragbar.
Dies schließt allerdings nicht aus, dass in anderen Perioden
und Zeiträumen (in der Zukunft) andere Varianten von
Aufstiegs- und Abstiegsprozessen im kapitalistischen Weltsystem
auftreten können.
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