Marx‘ „Krisenhefte“ 1857/1858
Karl Marx, Exzerpte, Zeitungsausschnitte und Notizen zur Weltwirtschaftskrise (Krisenhefte) November 1857 bis Februar 1858. Bearbeitet von Kenji Mori, Rolf Hecker, IzumiOmura und Atsushi Tamaoka unter Mitwirkung von Fritz Fiehler und Timm Graßmann = Karl Marx, Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA). Vierte Abteilung: Exzerpte, Notizen, Materialien. Band 14 (MEGA2 IV/14). Herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Berlin/Boston 2017. Walter de Gruyter GmbH. IX/680 Seiten.149,95 Euro.
Das Erlöschen der europäischen Bewegungen von 1848/49 führte Marx bekanntlich auf die Erholung der Konjunktur, u.a. befördert durch Liquiditäts-Zufuhr aufgrund der Entdeckung von Gold in Kalifornien, zurück. 1850 schrieb er, eine neue Revolution sei nur möglich im Gefolge einer neuen Krise, sie sei aber auch so sicher wie diese. Letztere erwartete er zunächst für 1852, dann verschob er das Datum Jahr um Jahr bis 1855, denn er ging damals noch von einem fünf- bis siebenjährigen Zyklus aus. Nachdem all dies nicht eintraf, war er elektrisiert, als 1857 die erste Weltwirtschaftskrise ausbrach. Nach seiner bisherigen Auffassung konnten revolutionäre Konsequenzen nahe liegen, und dementsprechend stellten sich bei ihm wohl Hoffnungen ein. An Engels schrieb er im November 1857: „So sehr ich selber in financial distress, habe ich seit 1849 nicht so cosy gefühlt als bei diesem outbreak.“ (MEGA2 III/8: 193 = MEW 29: 207)
Marx war gerade an der Niederschrift seiner „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, verfasste Beiträge u. a. für die New-York Daily Tribune und begann jetzt ein weiteres Projekt, das ihn stark forderte. An Engels schrieb er im Dezember 1857: „Ich arbeite ganz colossal, meist bis 4 Uhr morgens. Die Arbeit ist nämlich eine doppelte: 1) Ausarbeitung der Grundzüge der Oekonomie. (Es ist durchaus nöthig, für das Publikum au fond der Sache zu gehn und für mich, individually, toget rid of the nightmare; 2) die jetzige Crisis. Darüber – ausser den Artikeln an die Tribune, führe ich blos Buch, was aber bedeutend Zeit wegnimmt.“ (MEGA2 III/8: 221 = MEW 29: 232)
Er habe „3 grosse Bücher angelegt – England, Germany, France.“ (Ebenda) In sie klebte er Ausschnitte und trug Exzerpte aus Zeitungen mit Nachrichten zur Krise ein, insgesamt 1526 Stücke auf 192 Manuskriptseiten, ca. ein Drittel handschriftlich. Meist handelt es sich um pure Wiedergabe, höchst selten mit eigenen Kommentaren. Benutzt wurden vor allem „Economist“, „Manchester Guardian“, „The Times“ und „Morning Star“. Erfasst ist der Zeitraum von Dezember 1857 bis Februar 1858. Marx nannte eine Zweckbestimmung: „Ich denke, dass wir about Frühling zusammen ein Pamphlet über die Geschichte machen, als Wiederankündigung beim deutschen Publico – daß wir wieder und noch da sind, always the same.“ (Ebenda) Aufgrund der Wortwahl „Pamphlet“ ist anzunehmen, dass nicht eine wissenschaftliche Untersuchung geplant war, sondern eine operative Broschüre zu politischem Zweck.
Daraus wurde nichts. Die Krise hatte keinerlei unmittelbar politische oder gar revolutionäre Konsequenzen. Im Vorwort zu seinem Buch „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von 1859 löste Marx die Verbindung zwischen Wirtschaftskrise und Revolution: Eine Gesellschaftsformation gehe nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, „und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (MEW 13: 9) Als Metapher für eine Revolution wird eine Geburt benutzt, nicht – wie bei Marx und besonders Engels in ihren politischen Schriften für weit weniger wichtige Ereignisse häufig – eine Explosion.
Das Pulver, das Marx in den drei Kontorbüchern (Heften) gesammelt hatte, zündete politisch nicht. Im Februar brach er seine Sammeltätigkeit ab. Aber jetzt noch vermerkte er im Rückblick: „Take all in all, so hat die Crisis wie ein braver alter Maulwurf gewühlt.“ (MEGA2 III/9: 75 = MEW 29: 286) Sie war nunmehr für ihn eine Durchgangsphase in einem Untergrabungsprozess der bürgerlichen Gesellschaft, der längst schon eingesetzt hatte und noch immer im Gange war.
Die „Krisenhefte“ verschwanden in Marx‘ Nachlass. 2017 wurden sie erstmals in der vierten Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe veröffentlicht.
Die Editoren dieses Bandes IV/14 der MEGA sind neben Rolf Hecker Wissenschaftler der japanischen Universität Sendai. Bis 2011 waren u.a. Michael Heinrich und Michael R. Krätke beteiligt.
Marx gab in der Regel die Fundstellen seiner Quellen nicht an. Dies wurde jetzt von den Editoren im Apparat nachgeholt. Sie wiesen, soweit vorhanden, auch die Benutzung der Exzerpte im Briefwechsel und in den Schriften von Marx und Engels nach.
Wenn Marx den mit der Sammeltätigkeit verbundenen Zeitaufwand erwähnte, so ergab sich dieser wohl auch aus dem Bemühen, von vornherein eine Systematik einzuhalten. Diese ist auf den ersten Blick einmal geographisch: Behandelt werden Frankreich, England hier auch „United States“, „Hamburg, Northern Kingdoms, Prussia, Austria (Germany)“, dann, im dritten Heft, noch einmal England, dazu – „Miscellaneous“ – China, Indien, „Australia and Colonies“. Das erste Heft trägt die Überschrift „1875 France“ und wurde vom 7. November bis zum 23. Januar 1858 geführt. Das zweite – „Book oft he Crisis of 1857“ – geht vom 11. oder 12. Dezember 1857 bis zum 23. Januar 1858, das dritte – „The Book oft he Commercial Crisis“ vom 2. Januar 1857 bis zum 20. Februar 1858.
Die Editoren untersuchen in ihrer Einführung (511-559) einen Zusammenhang von Marx‘ Sammeltätigkeit mit seinen sonstigen Aktivitäten 1857/1858. Er schrieb zehn Artikel für die „New York Daily Tribune“, allerdings „bleibt der Umfang der dafür benutzten Exzerpte verglichen mit dem Gesamtvolumen der Hefte eher begrenzt.“ (555) Gleiches gilt für seine Korrespondenz mit Engels, in der sich beide ausführlich über die Krise austauschten. In einen Artikel hat Marx „die Übersetzung von Briefpassagen“ und „die Paraphrasierung von Exzerpten“ aufgenommen. (532)
Relevanter seien die Beziehungen zwischen der Materialsammlung und den „Grundrissen“. In deren vor Ausbruch der Krise verfasstem Heft II sei eine Einteilung der Märkte – Geldmarkt, Rohstoff-, und Agrar- sowie Industriemarkt (521) – vorgenommen worden, die „in enger Beziehung zu der Gliederung der Krisenhefte“ stehe. (524) Dieser Rahmen habe aufgrund der empirischen Bestandsaufnahme erweitert werden müssen. Im Ergebnis werde in den Krisenheften der Zusammenhang zwischen den Märkten sichtbar. Ein nächster Zugriff darüber hinaus „hätte sogar die Zirkularität der Produktion erfassen müssen.“ (526) Dieser Weg werde in Heft IV der „Grundrisse“ geöffnet, das Marx im Dezember 1857 und Januar 1858 parallel zu den Krisenheften verfasste, bis hin zu einer Krisenerklärung „durch den Begriff der allgemeinen Überproduktion“. (527) Das „theoretische Problem, wie das Netzwerk der unterschiedlichen Teilmärkte in seinen Funktionen und Dysfunktionen agiert, und was seine Dynamik hauptsächlich bestimmt“, habe Marx „in den ‚Grundrissen‘, und zwar in den nach den Krisenheften verfassten Abschnitten, in Angriff genommen“. (556) Allerdings findet sich offenbar kein von diesem in den Krisenheften selbst formulierter Hinweis auf eine solche Verbindung zwischen den beiden Texten.
Gleiches mag für den von Marx nunmehr in den „Grundrissen“ vorgenommenen Übergang zu einem ca. zehnjährigen Krisenzyklus „aufgrund der Periodizität des fixen Kapitals“ (516) gelten. Auch hierfür brauchte er nicht die Krisenhefte. Es kann sich einerseits um eine theorieinterne Weiterentwicklung handeln und andererseits um die nachträgliche Erklärung der Tatsache, dass der Zyklus seit 1847 tatsächlich ein Jahrzehnt umfasste. In der „Einführung“ selbst wird darauf hingewiesen, dass theoretische Aussagen der „Grundrisse“ und von „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ sich nicht auf Angaben der Krisenhefte, die sie durchaus hätten stützen können, beriefen, sondern auf neueres Pressematerial und Parlamentsberichte. (570) Die Vermutung liegt nicht fern, dass die Sammlungen von 1857/1858 (anders als von den Bearbeitern angenommen) keine große Bedeutung für Marx‘ theoretische Arbeit hatten.
Eine digitale Version des nun gedruckt vorliegenden Bandes ist in Vorbereitung und wird dann unter dem jetzt noch nicht eingerichteten Link http://megadigital.bbaw.de/exzerpte/index.xql?heft=krisenhefte zugänglich sein. Zu den Vorteilen eines solchen Verfahrens gehört, dass im Nachhinein entdeckte Fehler noch korrigiert werden können. Am Beispiel der Einführung des MEGA-Bandes IV/14: S. 553, Fußnoten 101 und 102: „setze“ (statt „setzte“); S. 555, Fußnote 109: „van den Linden“ (statt „van der Linden“); S. 557, Zeile 40: „Randanstreichen“ (statt „Randanstreichungen); S. 570, Zeile 1: „appraching“ (statt „approaching“). In Zeile 9 von Seite 523 fehlt offenbar zwischen „Marx“ und „sieben“ das Wort „in“.
Georg Fülberth
Zu Unrecht vergessen
Frank Fehlberg, Arbeitswert und Nachfrage. Die Sozialökonomik von Karl Rodbertus zur Einführung (= Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, Bd. 47), Metropolis-Verlag, Marburg 2017, 405 Seiten, 38,00 Euro
„Von allen ökonomischen Schriftstellern“ hab’ ich ihn „am liebsten, und ich kann ihn aus rein intellektuellem Vergnügen 100mal nacheinander lesen“, schrieb Rosa Luxemburg. Franz Mehring nannte ihn einen Mann, der es ehrlich meinte „mit der Arbeiterklasse …. Er hätte wohl ein besseres Schicksal verdient, als so gänzlich vergessen und verschollen zu sein …“ Gemeint ist Karl Rodbertus (1805-1875), der Theoretiker des junkerlichen oder kleinbürgerlichen utopisch-reformisti-schen Staatssozialismus, wie die marxistisch-leninistische Theoriengeschichtsschreibung den Ökonomen aus Pommern und Enkel des Physiokraten August Schlettwein sah. Nicht ganz zu Unrecht, schwebte Rodbertus als Repräsentanten des Grundeigentums doch ein harmonischer Bund zwischen seiner Klasse und den Arbeitern gegen das Kapital vor. Frank Fehlbergs Erinnerungen an den Gutsbesitzer von Jagetzow bei Demmin, den linksricardianischen Denker, der beeinflusst von aufklärerischen saint-simonistischen Gedanken seinen junkerlichen Nachbarn als Sonderling galt, sind erschienen im Band 47 der „Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie“. Das ist die verdienstvolle Buchreihe, mit der der Metropolis-Verlag die weitgehend vergessenen und verdrängten Teile der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaft dem Leser wieder zugänglich machen will.
Verdienstvoll auch, dass Fehlberg die Einzelaussagen der Rodbertusschen Sozialökonomik zusammenfasst und ein geschlossenes Bild der Lehre dieses frühen Kritikers des Kapitalismus zeigt, eine Systematik zumindest seiner zentralen Ideen. (29) Er will den Platz Rodbertus’ in der Geschichte des ökonomischen Denkens bestimmen. Und mit dem Blick zurück „einen Beitrag zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Lage“ leisten. (26) Er löst diesen Anspruch ein, ein Vorzug seines Buches. Ein weiterer ist, dass er neben den Originaltexten Rodbertus’ auch die wichtigste Literatur über seinen „Helden“ zu Rate zieht. Selbst die Rodbertus-Rezeption in der DDR, die verbunden ist mit dem Namen Günther Rudolph, der Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR gewesen war, bezieht er ein. Das ist in einer Zeit, in der Leistungen der DDR-Wissenschaft weitgehend verschwiegen werden, keine Selbstverständlichkeit. Fehlberg stellt in einem umfangreichen Fußnotenwerk viele Verbindungen zu anderen Ökonomen her und bietet so en passant eine Fundgrube theorienhistorischen Wissens. Dass dazu die Arbeiten von Marx und Engels gehören (30), ist zwingend. Auch den unbegründeten Vorwurf Rodbertus’, Marx habe ihn plagiiert, auf den Marx und Engels gelassen reagieren, spart Fehlberg nicht aus.
Der Bewertung der theoretischen Leistungen Rodbertus’ durch Fehlberg kann weitestgehend zugestimmt werden. Diskussionswürdig ist, dass er Rodbertus „einen frühen und eigenständigen Vertreter der historischen Schule“ nennt (67). Dieser sieht sich als kritischen Schüler David Ricardos, worauf Fehlberg selbst hinweist (106, 210). Tatsächlich ist Rodbertus in seiner politökonomischen Lehre Ricardo, dem Vollender der bürgerlichen Klassik, weit näher als der historischen Schule, deren Vertreter sich als Gegner der Klassik begriffen. Allerdings hat auch er seine „Stufentheorie“ – möglicherweise dies der Grund für Fehlbergs Urteil.
Kleinere Mängel sind einige unnötige Wiederholungen (es gibt auch sinnvolle) und Bewertungen, denen man nicht unbedingt folgen muss, so wenn er z.B. in einem Nebensatz Silvio Gesell für seine geldtheoretischen „Leistungen“ lobt.
Im ersten Teil (Theoretische Sozialökonomik) referiert Fehlberg die politökonomischen Grundfragen bei Rodbertus. Dieser bekennt sich 1842 zur Arbeitswerttheorie Ricardos, übernimmt auch deren Schwächen. Er kennt weder den Doppelcharakter der Arbeit noch den Zusammenhang zwischen dem Wert und dessen Erscheinungsform, dem Tauschwert. Rodbertus meint, es gäbe nur eine Art Wert, und dies sei der Gebrauchswert. Fehlberg erwähnt die Kritik von Marx an dieser „Seichtbeutelei“. Weshalb er Marx Wertauffassung aber „subjektivistisch“ nennt (87), ist unklar. Verdienstvoll ist, dass Rodbertus seine Sozialökonomik am Arbeitswert verankert. (78) So war er nahe daran, wie Engels schrieb, „dem Mehrwert auf die Spur zu kommen“. (MEW 35: 416) Marx bescheinigt ihm, „das Wesen der kapitalistischen Produktion durchschaut“ zu haben. (MEW 23: 554 Fn) Rodbertus begeht den Fehler der Klassiker, den Mehrwert mit seinen Erscheinungsformen gleichzusetzen. Die Lohnfrage stand im Zentrum seiner Kapitalismuskritik. Er lehnte Ricardos Lohngesetz ab und forderte höhere Löhne über das Existenzminimum der Arbeitenden hinaus. Aber auch in der Lohntheorie überwindet er nicht, was Frank Fehlberg übersieht, die Mängel der klassischen politischen Ökonomie, für die die Arbeit Ware und der Lohn der Preis dieser Ware ist. Erst Marx zeigte den Zirkelschluss und löste den Knoten. Dagegen bringt Fehlberg den Unterschied zwischen beiden Denkern treffend zum Ausdruck, wenn er schreibt, dass „der evolutionäre Sozialökonom Rodbertus Lohnerhöhungen einforderte“, und sich „der Sozialrevolutionär Marx für die Abschaffung der kapitalabhängigen Lohnarbeit“ aussprach. (116) Fehlberg schreibt richtig, dass Rodbertus über die Differentialrente Ricardos hinausgeht, der keine absolute Grundrente kannte. Bei der Darstellung der Marxschen Lösung der absoluten Grundrente unterläuft ihm der Fehler, den viele begehen, neulich erst Michael R. Krätke, der die Theorie der absoluten Grundrente aufgrund der Technikentwicklung in der Landwirtschaft gar für überholt hält. (Michael R. Krätke, Kritik der politischen Ökonomie heute, Hamburg 2017, S. 124) Sie unterstellen Marx, er habe die absolute Grundrente als das Ergebnis der niedrigen organischen Zusammensetzung des Kapitals in der Landwirtschaft betrachtet. Tatsächlich bringt dieser die Rente auf dem schlechtesten, noch genutzten Boden mit dem hohen Einsatz an lebendiger Arbeit in Beziehung. Aber das ist nicht die Ursache für die Existenz der absoluten Rente. Die Ursache ist das „bloße juristische Eigentum an Boden“, das dem Eigentümer die Macht gibt, „seinen Boden solange der Exploitation zu entziehn, bis die ökonomischen Verhältnisse eine Verwertung desselben erlauben, die ihm einen Überschuss abwirft …“ (MEW 25: 765) „Das Grundeigentum selbst hat die Rente erzeugt.“ (MEW 25: 763) Die im Vergleich zur Industrie relativ niedrige organische Zusammensetzung war nur deren Quelle. In der Krisentheorie bescheinigt Fehlberg Rodbertus tiefe Einsichten, die der Marxschen Diagnose ähneln (185) und hochaktuell sind. (175 ff) Den tiefsten Grund der Krise sieht Rodbertus im Privateigentum an Boden und Kapital. Obgleich alle großen Krisen „als Geldkrisen oder Börsenkrisen in Erscheinung (treten)“, müsse man festhalten, „dass auch sie nichts sind als Waarenkrisen …“, schreibt Rodbertus, ein Satz, den man den modernen „Krisenexperten“ des „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ ins Stammbuch schreiben möchte. Wie Sismondi ist auch Rodbertus der Meinung, dass die Nichtabsetzbarkeit der Produkte mit der Verteilung der Einkommen zugunsten der Produktionsmittel-Eigentümer, mit dem „Gesetz der fallenden Lohnquote“, der sich öffnenden Schere zwischen arm und reich, zu tun habe. In der dadurch im Vergleich zur Produktion zurückbleibenden Nachfrage sah der „Unterkonsumtionist“ Rodbertus, wie Fehlberg schreibt, nicht nur das Problem der Krise, sondern das des Kapitalismus generell. (198) Widersprüchlich sind die geldtheoretischen Auffassungen. Rodbertus sieht die Verdrängung des Geldes aus der Zirkulation durch den Kredit. (158) Genauer hätte er sagen müssen, dass die Geldware durch das Kreditgeld verdrängt wird. Das Papiergeld begreift Rodbertus als eine Anweisung auf Geldmetall, während dieses die richtige Anweisung auf Waren sei. (165 f). Andererseits habe Rodbertus die spätere Staatstheorie des Geldes von Georg Friedrich Knapp vorweggenommen. Nach ihr sei das Geld ein Geschöpf der Rechtsordnung. (161) Die Bankzettel ähnelten der Geldschöpfung aus dem Nichts. Die Wirkungen der Zettelbanken sieht Rodbertus positiv. Sie seien die „Wünschelruthen der Industrie“. Ihre Vorzüge seien höher als die Folgen einer „Zettelinflation“, glaubt er trotz des Lawschen Desasters, das er natürlich kannte. Die Grundschwäche – auf die Frank Fehlberg hätte hinweisen müssen – besteht darin, dass es Rodbertus nicht glückte, die Geldtheorie mit der Werttheorie zu verbinden. So bleibt Geld für ihn lediglich ein „Kommunikationsinstrument“ oder, was oberflächlich gesehen durchaus zutreffend ist, ein „Liquidationsmittel“ der Arbeitsteilung. (101, 163)
Die praktische Sozialökonomik Rodbertus’ (Teil II) liest sich wie ein Kompendium moderner linker Wirtschaftspolitik. Von Lohnsteigerungen, die sich am Produktivitätsanstieg orientieren, Arbeitszeitverkürzungen – damals allerdings nur von 12 auf 10 Stunden täglich (216) – und einer Begrenzung der besitzlosen Einkommen über staatliche Wirtschaftsinterventionen und die Verstaatlichung von Großbetrieben bis hin zur Regulierung des Bank- und Börsenwesens, der Erhebung einer Börsensteuer und einer europäisch ausgerichteten Sozialpolitik findet man Forderungen, die auch die heutige Linke unterschreiben kann. Das gilt weniger für das vorgeschlagene Arbeitsgeld, das die geldtheoretische Schwäche Rodbertus’ offenlegt und über das sich Marx und Engels belustigten. Rodbertus’ Katalog wirtschaftspolitischer Maßnahmen läuft auf eine Korrektur der ungerechten Einkommensverteilung mit Hilfe einer utopischen saint-simonistischen Zentralbehörde hinaus. Fehlberg nennt ihn daraufhin zumindest in Teilen „einen klaren Befürworter einer Zentralverwaltungswirtschaft.“ (211) Karl Rodbertus habe zwar Klassengegensätze festgestellt, lehnt aber Klassenkampf und Umsturz ab (243); seine angestrebte Harmonie zwischen Grundbesitz und Arbeit mute „blauäugig“ an (153). Sein Ideal: ein Sozialismus durch „friedliche Rechtsetzung“ (244) – sozialreformistische Attitüde, die ihn in eine Reihe mit Saint-Simon (1760-1825), Sismondi (1773-1842) und John St. Mill (1806-1873) stellt.
Im dritten Teil (der Gesellschaftsstaat) würdigt Fehlberg Rodbertus als Politiker, geht ein auf dessen konträren Beziehungen zu Lassalle, seine großdeutsche Haltung, so seine Auffassung über die deutschen Kolonien und gibt Einblicke in die Rezeptionsgeschichte des Rodbertusschen Werkes. Von besonderem Interesse sind dabei die Beziehungen zwischen Rodbertusianern und Marxisten (293-322), aufschlussreich auch die inhaltlichen Verbindungen, die Fehlberg zwischen Rodbertus und Keynes zu erkennen glaubt. Beide seien Anhänger einer Theorie der effektiven Nachfrage und von Staatsinterventionen gewesen. Auch wenn sich Keynes nicht direkt auf Rodbertus bezogen habe, sei die geistige Verwandtschaft zwischen beiden Denkern offenkundig. (335, 350)
Frank Fehlberg gebührt Dank für seine lesenswerte Erinnerung an einen zu Unrecht vergessenen deutschen Humanisten und Ökonomen, der uns auch heute viel zu sagen hat. Denn dessen Intention, „alle Glieder der Gesellschaft möglichst gleichmäßig am Fortschritt der Produktivität teilhaben zu lassen“, so der Autor, „hat in Zeiten der zahlreichen individuellen und sozialen Krisen nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüßt.“ (366)
Klaus Müller
Integrativer Marxismus
Thomas Metscher, Integrativer Marxismus. Dialektische Studien. Grundlegung, Mangroven Verlag, Kassel 2017, 306 S., 25,00 Euro
Dass ausgerechnet ein protestantischer Theologe das fulminante Werk eines marxistischen Philosophen besprechen darf, hat womöglich etwas mit diesem Werk selbst zu tun. Immerhin trägt eines der 6 Kapitel ein Wort des Apostel Paulus: „Prüfet alles, das Gute behaltet.“ (1. Thess. 5, 21). Ein Wort aus der ältesten Schrift des sogenannten „Neuen Testaments“, das völlig angemessen auch als Untertitel zu Metschers neuestem Buch hätte stehen können: Integrativer Marxismus – Prüfet alles, das Gute behaltet. Jedenfalls ist es die Grundmaxime, mit der der Autor ein unglaublich weites Feld durchschreitet, um Antworten auf die Frage zu finden, wie konsistent und universal zugleich der Marxismus heute sein müsste, wenn er den globalen Herausforderungen unserer Gegenwart in Theorie und Praxis gerecht werden will. Und diese Herausforderungen sind exorbitant, denn: „Unverkennbar tritt die Welt in eine historische Entscheidungsphase, an deren Ende der Rückfall in vorzivilisatorische Lebensverhältnisse, wenn nicht die Auslöschung menschlich bewohnter Welt stehen kann.“ Aber Metscher wäre kein Marxist, wenn er nicht sofort hinzufügen würde: „doch auch der Beginn einer neuen, anderen Welt, die auf den Prinzipien der Kooperation, Gleichheit und eines hegenden Umgangs mit der Natur beruht.“ (25)
Weil ersteres immer wahrscheinlicher zu werden beginnt und letzteres zunehmend utopischer, aber auch alternativlos zu sein scheint, stehen Marxisten heute in einer Situation, in der sie gezwungen sind, den Marxismus neu zu konzipieren – nicht zu reformieren, sondern zu weiten. Und Metscher geht für dogmatisch Verengte sehr weit, wenn er sagt: „Die Ausarbeitung des Marxismus, die seine Zukunftsfähigkeit sichern soll, hat nicht allein durch die Aneignung des Universums überlieferten Wissens und überlieferter Kultur wie die Einarbeitung der Ergebnisse der positiven Wissenschaft zu erfolgen. Dazu gehört vielmehr, im vollen Umfang, die Verarbeitung auch nichtwissenschaftlicher Weltanschauungs- und Wissensformen: vom Alltagsbewusstsein und Sprache über Mythos, Religion bis zu den Künsten. Dabei geht es nicht allein und auch nicht in erster Linie um die Ausarbeitung des Falschen und ‚Ideologischen‘ in diesen Formen (dies gehört selbstverständlich immer dazu: die Kritik ist die Bedingung des Gewinns positiven Wissens), sondern gerade um das Herausarbeiten ihrer Wahrheitsmomente. In diesem Sinn ist ein Marxismus der Zukunft als eine Synthesis von Wissensformen zu konzipieren.“ (43) Prüfet alles, das Gute behaltet – Integrativer Marxismus. So ähnlich hat auch Lenin gedacht – und nicht nur im Blick auf die drei Quellen des Marxismus.
Nicht erst in dem vorliegenden Band hat sich Metscher für eine Konzeption eines integrativen Marxismus eingesetzt. Seine vielfältigen Verweise auf sein überaus opulentes Œuvre sind außerordentlich hilfreich, sein Insistieren auf einen kontextualen Gesamtzusammenhang marxistischer Theoriebildung adäquat einordnen und verstehen zu können. Doch in seinem neuen Werk, das ganz bewusst auch ältere Texte enthält, fokussiert Metscher seine theoretische Perspektive zugleich auf eine Frage, die von manchen Linken womöglich als „Querfront“ denunziert werden wird. Und diese heute alles entscheidende Frage lautet: Ist der Marxismus in der Lage in seiner eigenen Theoriebildung jene bündnispolitische Komponente zu verankern, die allein uns hoffen lassen darf, dass dem weltzerstörenden Imperialismus eine Kraft entgegenwirkt, die ihn nicht zum Ende der Menschheitsgeschichte werden lässt. Damit werden Metschers „Dialektische Studien“, wie er seine einzelnen Untersuchungen im Untertitel nennt, zugleich zu einer eminent politischen „Grundlegung“.
Im Zentrum dieser „Grundlegung“ steht, als könnte es gar nicht anders sein, die Dialektik, die heutzutage von anderen marxistischen Autoren bereits ins Exil der Philosophiegeschichte verabschiedet wurde. Für Metscher hingegen steht und fällt der Marxismus, erst recht ein integrativer Marxismus, mit eben jener Dialektik, die als eine geradezu ontologische Struktur natürlich das Sein und auch das Denken des Menschen bestimmt. Dialektik ist eine „Fundamentalkategorie“ (173), die zum Nukleus marxistischer Theorie und Praxis gehört. „Der entscheidende Schritt dialektischer Erkenntnis ist der des Erkennens der wechselseitigen Abhängigkeit des Einen vom Anderen, eines grundlegenden Reflexionsverhältnisses“, das sich auf einen „unendlichen Progress“ (186) bezieht und deshalb alles Dogmatische kategorisch ausschließt und kein statisches „Entweder – Oder“ (200) zulässt. Das aber heißt: die Dialektik führt in eine Expansion, kraft derer auch der Marxismusbegriff expandiert zu einem „Begriff von Marxismus, der neben dem Kernbereich der Wissenschaft auch Philosophie und Kunst umfasst – der Marxismus als Trias von Wissenschaft, Kunst und Philosophie“ (14).
Und mehr noch: Diese „Trias“ eines dialektisch konzipierten Marxismusbegriffs eröffnet Perspektiven und Themenbereiche, die herkömmlicherweise ignoriert oder gemieden oder eskamotiert worden sind. „Felder theoretischer Erweiterung“ (139) nennt Metscher jene Komplexe menschlichen Lebens, die bisher fast ausschließlich zum Besitzstand von Idealismus, Existenzialismus und Religion gehörten. Aber wenn Zeugung, Geburt, Liebe, Glück, Leid, Krankheit und Tod „Grundtatsachen menschlichen Daseins“ (140) sind, dann gehören sie ebenso in den Reflexionshorizont marxistischen Denkens wie die sog. Sinnfrage. „Der Marxismus, will er mehr sein als eine bloß kritische Theorie – der Marxismus als philosophische Weltanschauung – kann solchen Fragen so wenig ausweichen wie den Erfahrungen, aus denen sie hervorgehen.“ (141) Auf dem „Terrain des Begriffs“ werden sie philosophisch wohl kaum zu beantworten sein, aber auf dem „Terrain der Kunst“ können sie einen Ort der Bewältigung finden. So ähnlich hat das übrigens auch Peter Hacks gesehen, als er seinen „Numa“ sagen ließ: „Wenn sich die Menschheit selbst gerettet hat, / muss sich der Mensch noch immer selber retten.“
Thomas Metscher ist bekanntlich nicht nur Philosoph, er ist Anglist und Germanist, er ist Kunst- und Kulturtheoretiker und wohlbekannt auch als ehemaliger Professor für Ästhetik. Und glücklicherweise spiegelt sich dieses multiple Wissenschaftsprofil auch in seinem Marxismusverständnis: Integrativer Marxismus. Zu dem gehört selbstredend auch die Auseinandersetzung mit der Religion, die für ihn fast unproblematisch ist, solange die Religion nicht Kriegs- und Herrschaftsdienst leistet. Weil zum Marxismus kein prinzipieller Atheismus gehört und weil es sich bei Theismus und Atheismus gleichermaßen um Glaubensfragen handelt, dürfen sie getrost Privatsache sein und bleiben. Für den Marxismus gilt allein das Wissen, auch wenn dieses Wissen an Grenzen gebunden ist, die nicht durch Glaubenssätze überschritten werden dürfen, sondern allein durch mehr Wissen. Ein „religionsförmiger“ Marxismus „deformiert sich zur Ideologie“ (145). Auch in diesem Zusammenhang wird Metschers unbedingtes Interesse an einer möglichst breiten und umfassenden Bündnispolitik deutlich: „Der Raum für ‚kommunistische Christen/Innen‘ ..., für jeden Glauben, der die sozialistisch/kommunistische Zielsetzung bejaht, muss seitens des Marxismus wie seiner Organisationen ohne Vorbehalt offen sein.“ (147)
Es ist auch dieses politische Interesse, dass Metschers Umgang mit dem Utopiebegriff bestimmt. Dabei geht es keineswegs um die Annullierung der Engelsschen „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, wohl aber um die heute immer bedrängender werdende Frage, was der Marxismus dem Imperialismus eigentlich entgegenzusetzen hat – außer Analyse und Kritik. Wir stehen vor und zum Teil auch schon mitten in einer Epochenkrise, die für die zivilisierte Menschheit in Barbarei oder gar im Exitus enden könnte. Der Kapitalismus hat eine Gesellschaft geschaffen, deren Sozialität zunehmend zu Makulatur wird. Die Entwertung aller zivilisatorischen Werte durch die „Vermarktung des Menschlichen“ (Lucien Sève) führt in der finanzgetriebenen Globalisierung in den „konvulsivischen Durchbruch einer ‚Un-Welt‘„ des Hieronymus Bosch. Und deshalb Metschers Frage nach der „konkreten Utopie“: Welche Welt- und Gesellschaftsbilder haben wir dem entgegenzusetzen? Welche „Konstruktion von Möglichem“ (158), welche alternative Perspektive auf das Zukünftige, auf eine andere, eine neue Kultur? Eine Perspektive, die auch anderen zur Orientierung werden könnte! Es klingt geradezu apodiktisch, wenn Metscher schreibt: „Ich plädiere für die Notwendigkeit einer solchen Utopie. Sie folgt aus der praktischen Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft als es die bestehende ist.“ Ich „plädiere dafür, das Moment utopischen Denkens in den Marxismus zurückzuholen – nicht im Sinn von ‚Rezepten für die Garküche der Zukunft‘, wie Marx spottend gesagt hat, sondern als Denken des geschichtlich Möglichen, im Hier und Jetzt möglich Gewordenen: der konkreten Utopie.“ (156)
Schon jetzt gibt es heftigen Einspruch gegen die Implantierung des Utopiebegriffs in den Marxismus (junge Welt 3./4. 02. 2018, S. 13). Aber dass es bei Metscher um den Weg zurück von der „Wissenschaft hin zur Utopie“ geht, davon steht in seinem Buch wirklich nichts. Ganz im Gegenteil: „Der Marxismus steht als wissenschaftliche Theorie auf dem Boden der Wissenschaften und des von ihnen erarbeiteten positiven Wissens.“ (44) Und er hat dabei alle Ergebnisse der positiven Wissenschaften kritisch und zugleich vorurteilsfrei zu verarbeiten und „kraft der Methode dialektischer Kritik das Wahre und Falsche, Brauchbare und Unbrauchbare sorgfältig zu scheiden“, um das Wahre und Brauchbare „in den Korpus marxistischen Wissens einzuarbeiten“ (42).
Dieser Metschersche Ansatz ist ebenso kühn wie notwendig. Aber es ist schon so: Die Dialektik bringt selbst den Marxismus zum Tanzen, denn Dialektik hat es nicht nur mit dem Widerspruch zu tun, sondern auch mit der integrativen Synthese, die die Wahrheit im Alten in die Wahrheit des Neuen aufhebt und in der Wechselwirkung selbst des Konträren neues Wirken erzeugt. Und Metscher zeigt in seinem großartigen Buch, dass das für alle Themenbereiche zutrifft, auch für Geschichte, Gesellschaft, Kultur, Ethik, Ideologie... Sein Projekt ist auf 4 Bände angelegt. Der erste liegt uns nun vor, und wir dürfen mit Spannung auf die Fortsetzungen warten, die vieles, was in der „Grundlegung“ nur in Abbreviationen zur Sprache gebracht werden konnte, entfalten und entwickeln wird. An einem Grundsatz freilich können wir uns schon jetzt festhalten. „Der Marxismus ist seinem Wesen nach eine emanzipatorische Theorie. Sein Ziel ist ein diesseitiges: reale Befreiung, ein von Angst, Gewalt und Not befreites Dasein auf der Basis menschlicher Gleichheit. Das bedeutet: Sozialismus als reale Demokratie. Für diesen Zweck sollten alle Kräfte, die sich diesem Ziel verpflichten, zusammentreten.“ (285) Für dieses politische Ziel hat Thomas Metscher ein grundlegendes theoretisches Werk vorgelegt.
Dieter Kraft
Harich und Lukács
Wolfgang Harich, Georg Lukács. Dokumente einer Freundschaft. Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs. Band 9. Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer, Tectum Verlag Baden – Baden 2017, 515 S., 39,90 Euro
Über 100 Texte, Briefe und Dokumente von Wolfgang Harich an, über und zu Georg Lukács werden in diesem Band präsentiert. Beginnend mit dem Zeitungsartikel „Georg Lukács sprach über Goethe“ spannt sich der Bogen bis zu den Rückblicken Wolfgang Harichs auf das Erbe Lukács‘ in der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. Heyer gelang es trefflich, hier ein weitgehend vollständiges Bild der direkten Äußerungen von Harich über Lukács zu zeichnen. Gegliedert wird das Schrifttum Harichs zu Lukács in zwei Teilen:
- Die ersten Jahre in der DDR, die Zeit von 1949 bis 1956 nehmen zwei Drittel des Platzes ein. In dieser Periode war Harich sowohl im Aufbau Verlag als auch in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie der Hauptansprechpartner für Lukács.
- Der zweite Teil, überschrieben mit „Späte Kämpfe“, umfasst jene Dokumente, Eingaben und Briefe, die sich mit Harichs Kampf für Lukács, für dessen „Rückkehr“ in die Öffentlichkeit der DDR, für eine neuerliche Rezeption seiner Werke beschäftigen.
Die in den Band aufgenommenen, bisher nicht gedruckten Texte, stammen aus dem Nachlass Harichs, der im Amsterdamer Internationalen Institut für Soziale Geschichte (IISG) aufbewahrt wird. Verglichen wurde zudem mit den Beständen des Lukács-Archivs in Budapest und des Aufbau Verlags in Berlin.
Auf mehr als einhundert Seiten führt Heyer in die Thematik ein. Zu Recht nimmt dabei die Hegel-Debatte in der DDR einen zentralen Platz ein. Lukács‘ Hegel-Verständnis stieß schon 1951, noch vor Erscheinen seines Buchs „Der junge Hegel“ in der DDR, auf Kritik der SED. Treffend kommentiert Heyer „Man könnte ja meinen, dass die SED anderes zu tun hatte, als ein ausländisches Buch zu kritisieren.“ (S.22) Aber auch die Diskussionen an der Humboldt Universität um Harichs Vorlesungen verliefen ähnlich. Niemand kannte sie, aber seine Kollegen kritisierten sie wegen der Nähe von Lukács und Harich. Die Vorwürfe gegen Harich gipfelten gar in einem Parteiverfahren.
Für Lukács und Harich war Hegel der prägnanteste Vertreter des bürgerlich-philosophischen Fortschritts seiner Zeit. Natürlich hatten Marx und Engels Hegel vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Auch wenn Hegel Idealist gewesen sei und den deutschen Idealismus zu seiner höchsten und vollendeten Form führte – sein Denken und seine Theorien waren fortschrittlich. Die Gegner der Lukács-Harichschen Hegel-Interpretation beriefen sich auf Stalin, der angeblich der Hegelschen Philosophie vorgeworfen hätte, „aristokratische Reaktion auf den französischen Materialismus und die französische Revolution“ gewesen zu sein. Harich hatte in seiner Hegel-Denkschrift 1952 nachgewiesen, dass es zwar vier Lesarten dieses Stalin-Diktums gab, aber keinen einzigen quellenmäßigen Beleg. Lukács und Harich waren sich in dem Bestreben einig, Hegel aus der Umklammerung Stalins, Shdanows und der SED zu befreien.
Heyer warnt eindringlich vor einer Verflachung der Analyse. Die Vermischung von Partei-Auftrag und eigenen Theorien sei kein Spezifikum des Denkens von Lukács, ganz im Gegenteil bezeichne es einen charakteristischen Zug des fast schon typischen Agierens im Koordinatensystem des real existierenden Sozialismus. Ohne Unterwerfung keine eigene Meinung, ohne Opportunismus keine Opposition – eine merkwürdige, aber durchaus treffende Formel. Die Biographien von Lukács und Harich (bis 1956) zeigten an, beide mussten zuerst von der Partei akzeptiert werden, dieser helfen, Loyalität beweisen, um dann partielle Kritik üben zu können. Begriffe wie „Kaderphilosophie“ (Kapferer) oder naive Abrechnungen (von Neubert über Wolle bis zu Herzberg und Maddeis) würden da nicht weiterhelfen, meint Heyer.
Was der Herausgeber zum Schweigen der Intellektuellen 1956/57 ausführt, überrascht, da es eher an die problematische Sicht in Walter Jankas Essay vom Herbst 1989 unter dem Titel „Schwierigkeiten mit der Wahrheit” erinnert. Es gab damals nur wenige Zeitgenossen, die Jankas Wertungen widersprachen. Zu diesen zählte Wolfgang Harich mit seinem 1993 publizierten Buch „Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit”. Glücklicherweise hat Janka sich selbst nicht auf seine Erinnerung verlassen. Er ging noch in die plötzlich offenstehenden Archive. In dem Buch „Die Unterwerfung”, das kurz nach seinem Tode erschien, ging er auf Archivquellen ein, die seinen Wertungen von 1989 direkt widersprechen. Harich nahm das noch mit freudiger Erregung zur Kenntnis. Über die bei dem Prozess 1957 anwesende Anna Seghers hatte Janka in seinem Essay von 1989 geschrieben: „Anna Seghers sah betroffen zu Boden ... sie schwieg. Und sie schwieg auch nach dem Prozess ... Selbst Ulbricht hätte es nicht gewagt, sie verhaften oder belästigen zu lassen. All das wusste sie. Trotzdem blieb sie stumm.” In Jankas letztem Buch wird aus einem MfS-Papier zitiert: „Anna Seghers ging nach dem Abschluss der Urteilsverkündung nach vorn, um Janka noch einmal einen aufmunternden Blick zuzuwerfen.” Ein Unterleutnant Paroch hatte am Tag zuvor informiert: „Hierbei konnte ich eine empörte Haltung von Seghers, Weigel und auch teilweise von Bredel feststellen.” Bechers Kritik am ZK der SED in seiner Rede auf der 29. Tagung im November 1956 wurde nicht veröffentlicht. Sie liegt als „parteiinternes Material“ im Archiv. Auch zu seinen Stalin verherrlichenden Gedichten äußerte sich Becher. Seine tiefgründige Selbstkritik wurde allerdings erst im Jahre 1988 im Heft 3 von „Sinn und Form“ veröffentlicht.
Nicht ganz schlüssig sind die Ausführungen Heyers zu Harichs Kontakten mit dem Ostbüro der SPD. Harich wünschte in der Krisensituation Anfang November 1956 Kontakte zu führenden Sozialdemokraten in Bonn. Zu diesem Zwecke hatte er am 2.November 1956 den Stellvertretenden Vorsitzenden der West-Berliner SPD, Josef Braun, aufgesucht, der ihm Kontakte zur „Baracke“ in Bonn zusagte. Beim Besuch am folgenden Tag stellte ihm Braun den Genossen Alfred Weber aus Bonn vor, der gelegentlich in Berlin weile. Am 6. November traf Harich Weber in dessen Villa im Grunewald. Er wurde da auch mit einem jungen Mann namens „Siegfried“ bekannt gemacht, der für die SPD in der Hochschulgruppenarbeit tätig sei. Weber überreichte ihm eine Broschüre, die einen Artikel der „SED-Opposition“ über den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus enthielt. Harich entdeckte auf der Broschüre den Stempelaufdruck „Ostbüro der SPD“. Letzte Gewissheit, dass er von Braun zum Ostbüro gelenkt worden war, erhielt Harich, nachdem die beiden ihm ihre Telefonnummern diktiert hatten. Sie bestanden darauf, dass Harich sich diese in verschlüsselter Form ins Notizbuch einträgt. Auch sollte er bei Anrufen nur seinen Vornamen nennen. In einem 23 seitigen Schreiben vom 28. März 1980 hatte Harich Willy Brandt dazu zutreffend mitgeteilt, dass er von Josef Braun in einen Kontakt mit dem Ostbüro der SPD förmlich hineingeködert worden sei. Dadurch habe sein Schritt gegen sein eigentliches Wollen einen nach der Verfassung und den Gesetzen der DDR kriminellen Charakter erhalten. Rein politische Gespräche hätten ihm vielleicht einen Parteiausschluss aus der SED eingebracht, so aber erhielt er die hohe Strafe von 10 Jahren Zuchthaus. Brandt antwortete bezogen auf die Vorgänge im Jahre 1956 ausweichend. Er könne sich daran nicht mehr erinnern. Er schlug Harich ein Gespräch mit Egon Bahr vor. Von einer Entschuldigung der SPD ist nichts bekannt. Vollständige Aufklärung schaffte Manfred Rexin am 8. Februar 1999 vor der Historischen Kommission der SPD Berlin. Er wies nach, dass Josef Braun jener hochangebundene SPD-Informant für die HVA war, den Marcus Wolf in seinen Memoiren „Freddy“ nannte. Das bedeutet aber, dass nicht führende Vertreter der SPD Harich in Kontakt mit dem Ostbüro gebracht hatten, sondern das MFS. Harich und seine Mitstreiter mit ihren für die SED-Führung unbequemen Reformvorschlägen konnten so kriminalisiert und isoliert werden. Führende Schriftsteller und Künstler konnten sich dadurch, dass das Ostbüro mit im Spiel war, sich nicht offen mit dem „Kreis der Gleichgesinnten“ solidarisieren.
Der Band 9 des Harich-Nachlasses ist ein wichtiger Baustein für eine noch zu schreibende historisch-kritische Darstellung der DDR-Geschichte. Bei einer zweiten Auflage sollte ein sachlicher Fehler korrigiert werden. Der Geschichtsprofessor, mit dem Harich befreundet war, hieß Joachim Streisand, nicht wie im Buch (einschließlich Personenverzeichnis) ausgewiesen – Jürgen Streisand.
Siegfried Prokop
Geschützte Schutzlosigkeit. Konturen einer Philosophiepolitik
Enno Rudolph, Wege der Macht. Philosophische Machttheorien von den Griechen bis heute. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist-Metternich 2017, 153 S., 24.90 Euro
Im Fall der Macht ersetzt das Bescheidwissen das Wissen. Ein unwissendes Alltagswissen weiß über ein soziales Phänomen, über eine bestimmte politische Motivation ganz und gar Bescheid: über Macht. Immer wieder werden jedoch auch Theorien der Macht angehäuft und immer wieder vergehen sie irgendwie spurlos. In der Antike wurde einmal befunden, alles Streben nach Macht sei leer, es gebe keine Macht. Das statuierte in der Nachfolge Epikurs der überaus ernst zu nehmende Denker Lukrez, der auch Nietzsche zutiefst beeinflusste. Monografien zum Thema der Macht sind daher das vermutlich Riskanteste, was sich das Philosophieren zumuten kann und darf.
Wird dies bedacht, so mag gewarnte Leser der Monografie von Enno Rudolph mit erstaunter Erleichterung auf die folgenden Erstsätze stoßen: „Gelingende Ironie ist angewandte Souveränität. Solange jemandem diese Souveränität nicht streitig gemacht wird, hat er Macht – je nachdem, im Kleinen oder im Großen, direkt oder indirekt. Die Macht der Ironie verdankt sich der Ironie der Macht.“ Endlich. Statt der sterilen sozialwissenschaftlichen dogmatisch und kryptodogmatisch dozierenden Diskurse – am Schluss ist die Rede von „der sterilen Methodik der zeitgenössischen Systemtheorie“ (147) – darf nun offenbar wieder das belebende Getränk der Ironie getrunken werden, solange es dem Geist jene Nüchternheit verschafft und erhält, von der einst Montaigne forderte: Um nicht einzusinken, müsse man „glisser le monde“, müsse man die Welt durchgleiten. Ohne sich auf Montaigne zu beziehen, scheint Rudolph dies zu tun, Texte der Macht und Ansprüche auf sie zu durchgleiten im Bewusstsein des ironischen Grundzugs der Macht. Dabei gelingen aphoristisch entlarvend leuchtende Sätze wie: „Das Jüngste Gericht war das Ultimatum der Religion, solange sie an der Macht war. Die Terroristen gleichen apokalyptischen Reitern […] Sie rauben Allah die letzte Chance zu beweisen, dass Gott doch noch nicht tot ist.“ (147)
Leicht macht es seinen Lesern der Verfasser indes nicht. In einer präzise zuspitzenden und raffenden Prosa wird er mit dichten Deutungen Platons, Thukydides', Hobbbes' Machiavellis, Shakespeares, Kants, Rousseaus Rawls', Benjamins, Blumenbergs, Heideggers, Cassirers, Nietzsches, Habermas' und Rortys konfrontiert. Deutungen, die meist Umdeutungen darstellen und den Leser nicht – wie es der Mainstream zu tun pflegt – mit dem überraschen, was er bereits kennt. Das Buch bildet zudem das Gegenteil des in der Philosophie gern gepflegten Stils der Umständlichkeit. Es bietet unumständlichen Stil. Dies alles in einer Besprechung zu referieren würde Enno Rudolphs geistvolle Präsentation mit dem Frischhaltebeutel einer referierenden Repräsentation überziehen, die er weder verdient noch nötig hat. Der Rezensent wählt daher einen anderen, riskanteren Weg, der dem absichtlich riskanten Unternehmen des Verfassers gerechter wird. Es sei daher eine Vermutung darüber aufgestellt, welche Einsicht dem Buch zugrunde liegt und danach sei an ausgewählten Beispielen demonstriert, wozu ihm Platon, Kant und so fort letztlich dienen.
Zunächst die Vermutung: Keine Bevölkerung schafft es, einer Regierung, wie begründet auch immer, vorzuschreiben, was sie tun und zu unterlassen hat. Ebenso vermag keine Regierung, wie mächtig und listig auch immer, der Bevölkerung dauerhaft und allseitig vorzuschreiben, was sie tun und zu unterlassen hat. Folglich ist Herrschaft weder von unten noch von oben im Sinn einer strikten Über- und Unterordnung möglich. Herrschaft bildet ein Dilemma. Trotzdem scheint es keine Gesellschaft ohne beanspruchte Monopolisierung von Gewalt geben zu können. Wie also lässt sich das Dilemma der Herrschaft lösen? Nicht durch Herrschaft, verstanden als regelförmiges System sozialer Unterordnung. Dies nämlich ist faktisch die Antwort der positivistischen Sozialwissenschaft. Herrschaft vermag nicht – und explizit formuliert ist dies sofort evident – das Herrschaftsdilemma zu lösen, denn sie ist deren Teil. Der Verfasser lässt sich darauf nicht ein und verwendet das Wort Herrschaft nicht. Er geht davon aus, dass die Weise, wie mit dem Herrschaftsdilemma umgegangen wird, genau das ist, wovon das Buch handelt: Macht. Soll also Macht den doppelten Herrschaftsanspruch von oben und von unten so am Leben erhalten, dass das Dilemma nicht destruktiv wirksam wird? Nehmen wir an, dass es darum gehe, dann ist es aussichtslos, dass Macht allein dies leisten kann. Was aber kann Macht hierbei leisten? Der Verfasser lässt einleitend erkennen, dass mit dem Thema der Macht im Kontext der offenen Herrschaftsfrage noch andere Größen aufgerufen sind: Souveränität, Recht, Moral, Vernunft. Wie lassen sich diese vier Begriffe und die Macht verstehen, so dass sie in ein Bezugsgefüge gebracht werden können, das die offene Herrschaftsfrage weniger offen sein lässt? Manche waren und sind der Ansicht, dass dieses Bezugsgefüge objektiv im Sinn von über-personal sein müsse. Wenn es so wäre, droht dann aber nicht eine Art Determinismus, der die Gestaltbarkeit der sozialen Beziehungen negiert und dessen Anspruch sich totalitär auswirkt? Das gesamte Buch durchzieht die Abwehr sozialen Determinismus, für welche die Sozial- und Geschichtsphilosophie Hegels steht. Somit ist die Entscheidung gegen eine überpersonal verstandene Macht klar und grundlegend. Macht sei personal, wird als „die Fähigkeit, andere seinen Interessen gefügig zu machen“ definiert (10f.), und was als notwendige Zusammenhänge von Macht konstruiert werde, entspringe „ursprünglich einem kontingenten Zusammenwirken personaler Mächte“, das heißt es handele sich um „Projektionen der personalen Macht auf historische und soziokulturelle Phänomene […], die durch ihre Schablonisierung den Schein einer absoluten Entwicklung annehmen, an die mancher Hegelianer heute noch glaubt“ (11). Macht sei „ein naturgegebener Vektor“, „eine Naturgabe, ein Talent“ (14). Mit dieser Annahme opponiert er gegen den geläufigen Anti-Naturalismus der Sozialwissenschaften.
Leitend für Rudolphs Konzeption des gesuchten Bezugsgefüges ist eine personale und kommunikative Verbindung von Macht und Ironie zur Souveränität, bei der nicht ausgeschlossen werden dürfe, dass Moral und Vernunft Mitspieler sind. Es sei zwar in der Ironie der Macht begründet, dass das Recht machtabhängig sei, sofern und solange Macht zur souveränen Geltungssetzung werde. Vernunft und Moralität jedoch können verhindern, dass das Herrschaftsdilemma scheinbar vollständig gelöst werde, nämlich auf totalitäre Weise. „Ein totalitärer Regent duldet keine Ausnahmen von der herrschenden Ideologie – ausgenommen diejenigen, über die er selbst befindet“ (13). Machtabhängiges Recht könne und solle daher menschenrechtskonforme Geltung besitzen.
Es zeichnen sich also durchdachte Konturen zu einem Umgang mit dem Herrschaftsdilemma ab. Diese Konturen blieben jedoch abstrakt, wenn sie nicht in Verhältnis gesetzt würden zum makrohistorischen Ereignisverlauf. Mithilfe zweier Phänomene gelingt dem Verfasser eine erhebliche Verstärkung und Vertiefung jener Machtkonturen, nämlich durch Einbeziehung der Phänomene von Säkularisierung und Philosophiepolitik. Säkularisierung wird verstanden als der „Prozess des vollständigen Geltungsentzugs von im metaphysischen Sinn transzendent deduzierten, insbesondere religiös legitimierten kulturellen Normen“ (13). Erscheint Säkularisierung irreversibel, so wird mit Philosophiepolitik der Nachweis beansprucht, dass Philosophie politischer ist als ihr Ruf. Beispielsweise haben Rousseau und Kant „beide in intellektuellem Widerstand gegen die herrschende Monarchie“ Philosophie in den Dienst politischen Interesses gestellt (13).
Nochmals, eine Verbindung von Ironie, personaler Macht und politischer, geltungsbestimmender Souveränität ergibt die eine Seite der Milderung des Herrschaftsdilemmas. Diese Milderung vermag jedoch nur dann vor Totalitarismus zu schützen, wenn sie Vernunft und Moral einschließt. Ob und wie Vernunft und Moral hierbei zu Wort kommen, ist Sache der Philosophiepolitik. Auf den Seiten 63 bis 73 liefert der Verfasser, wenn nicht eine Grundlegung, so doch eine grundlegende Analyse, wie Philosophiepolitik unter den Bedingungen von Säkularisierung, Aufklärung und Revolution möglich ist. Mit Recht ist Kant dabei Ausgangs- und Bezugspunkt. Kant nämlich weiß, was zu meiden ist, nämlich zunächst eine Revolution, die zu Feindschaftsverfestigung und Feindesvernichtung ausholt. (Die geschah in Frankreich mit der politischen Justiz der Prairiral-Gesetze von 1794 und der Terreur blanche nach dem Thermidor.) Sodann ist eine Geschichtsphilosophie zu meiden, die Aufklärung und Säkularisierung als Analogie zur versprochenen heilsgeschichtlichen Erlösung der Menschengattung konstruiert. Drittens ist, damit eng verbunden, nicht nur eine Religionsanalogie, sondern ein Wiedererstarken der Religion selbst zu meiden. Dies sind die Verneinungen. Wie sehen die Bejahungen aus? Konvergenz von Vernünftigkeit und Bürgerlichkeit. Während Rousseau seinen Versuch, Mensch und Bürger zu versöhnen, wegen der Selbstermächtigung der Regierung in einem volkssouveränen Staat wieder aufgab, möchte Kant, wie Enno Rudolph betont, weitergehen. Gesellschaftliche Klassen sind nicht als Feinde zu behandeln, sondern „als Kontrahenten eines diskursiven Räsonnements der Vernunft“ (65). Kant setze auf Fähigkeit und Bereitschaft zu gesellschaftlichem Lernen und dabei auf „Wandel durch kritische Inklusion“ (65). Das aber setzt eine Regelung eines Phänomens voraus, das mit Aufklärung und Säkularisierung als Faktum unweigerlich verbunden ist: weltanschauliche Pluralität im Sinn einer Vielfalt „verschiedener Lebensentwürfe und normativer Orientierungen“ einschließlich der damit verbundenen Konflikte (70). Wenn John Rawls als ein zeitgenössischer Kant-Nachfolger unterstellt, die Fliehkräfte des Pluralismus würden von der Integrationskaft des menschlichen Gerechtigkeitssinns reguliert, so sei ihm entgangen, „dass sich der Gerechtigkeitssinn eines jeden menschlichen Individuums von dem eines jeden anderen mindestens so sehr unterscheidet wie der Geschmack“ (69).
Der Verfasser bleibt unerbittlich. Er anerkennt Rawls' Konzept der „civil disobedience“ zur Behebung ungerechter Freiheitsverteilung im Namen der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls. Widerstand könne sich jedoch auch gegen diese Grundsätze selbst wenden. Habermas, der zweite heutige Erbe Kants, bemängele an Rawls die Unveränderlichkeit der Gerechtigkeitsgrundsätze, ohne die kommunikative Kompetenz als unhinterfragbare Voraussetzung zeigen zu können. Wie geht es dann weiter? Es komme darauf an, den Pluralismus nicht nur als Faktum und Norm, sondern als ein Gut zu betrachten, „weil er ein Bewusstsein von der Unverzichtbarkeit weltanschaulicher Toleranz generiert.“ Damit ist der Verfasser bei dem Denker, dem er das letzte Wort gibt, bei Richard Rorty. Dieser aber weise auf den „konstruktiven Skeptizismus“ von David Hume zurück und definiert: „Skepsis ist eine politische Tugend des Verzichts auf die Einflussmacht in der Zeit nach dem Geltungsverlust universaler Prinzipien“ (73).
Mit seinen ausgedehnten Überlegungen zu Benjamin, Nietzsche, Cassirer, Blumenberg und Rorty antwortet der Verfasser nicht mehr auf die Frage, wie personale Macht und Souveränität mit Moral und Vernunft verbindbar sind. Platon und Kant bieten dafür Modelle. Die weiteren Überlegungen antworten auf eine nicht ausdrücklich gestellte Frage. Als Formulierung dafür sei vorgeschlagen: Welche kulturelle Konstellation gehört zu jener Verbindung von personaler Macht und Vernunft und welche Konstellation scheidet aus? Zugehörig ist Säkularisierung. Ausscheiden sollen, wie uns Nietzsche lehre, Essentialismus und Dualismus. Das Buch schwingt in eine Atmosphäre der Reflexion aus, die das Denken davor bewahren will, Verbindungen personaler Macht und Vernunft in objektiven Strukturen erstarren zu lassen, die etwa bei Benjamin drohen oder gar in Heideggers Legitimation des nationalsozialistischen Totalitarismus münden. Weil dieses Urteil mit seinem eigenen Anspruch auf Zutreffen nicht verhindern kann, in Objektivität auszulaufen, deshalb könnte es am Ende eine Ironie meinen, die gedanklichen Schutz der Schutzlosigkeit aussetzten und dieser wiederum mit jenem begegnen möchte.
Bernhard H. F. Taureck
Faschismus in den Niederlanden
Peter Romijn, Der lange Krieg der Niederlande. Besatzung, Gewalt und Neuorientierung in den vierziger Jahren, Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 293. S., 15,00 Euro
Als die Niederlande am 5. Mai 1945 von der Besatzung der Deutschen befreit wurden, war dies für das Land nur bedingt ein Ende des 2. Weltkriegs. Denn als Kolonialmacht wollten die Niederlande in Indonesien noch einen Herrschaftsapparat gegen Japan und die indonesische Befreiungsbewegung verteidigen. Auf die niederländische Paradoxie, Opfer einer Gewaltherrschaft gewesen zu sein und eine Gewaltherrschaft gegenüber den Indonesiern ausgeübt zu haben, macht Peter Romijn vom Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidforschung (insituut voor oorlog-, holocaust- en genocidstudies, NIOD) in seiner Darstellung aufmerksam, ohne die einzigartigen Verbrechen der Deutschen in den Niederlanden zu relativieren. Romijns Text basiert auf einem Vortrag am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts und wird in der dortigen Reihe verlegt. Er stellt die Geschichte der Besatzung der Niederlande aus niederländischer Perspektive dar. Neben der Auflistung der Verbrechen der Deutschen zeigt er dadurch auch, wie die historisch neutralen Niederländer gespalten waren zwischen den Polen des Paktierens mit den Deutschen, um Schlimmeres zu verhindern (Politik des kleineren Übels) und der Option des Widerstands. Die deutsche Verfolgung der Juden traf die Niederlande besonders hart: „In kaum einem anderen Land war die antisemitische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten so 'effizient' wie in den Niederlanden.“ (103) Die „Opferquote“ lag bei 79 Prozent. Als Gründe führt Romijn fehlende Fluchtmöglichkeiten aufgrund der geographischen Lage, die Populationsdichte der Niederlande, die kaum Versteckmöglichkeiten zuließ, das Versagen des Verwaltungsapparats und die fehlende Solidarität der Exilregierung an. Bedingt durch seine Forschungsbiographie untersucht Romijn besonders das Agieren des niederländischen Verwaltungsapparats und das Verhalten der Bürgermeister. Zum Ende des Krieges verschob sich der Schwerpunkt des Sich-Verhaltens gegenüber den Deutschen hin zum offenen, oftmals bewaffneten Widerstand, was von den Nazis mit brutalem Terror beantwortet wurde. Der Widerstand wurde unterstützt von den Alliierten, aber auch von der Exilregierung in London, an deren Spitze Königin Wilhelmina stand. Nach dem Krieg setzte sich die Königin wieder an die Spitze, ohne sich von Ministern oder dem ehemaligen Widerstand in ihre Politik hineinreden zu lassen. Romijn würdigt auch den kommunistischen Beitrag zum Kampf gegen die deutschen Besatzer: „Die Kommunisten erbrachten große Opfer im Kampf gegen die Deutschen, und ihre Partei verkörperte den Glauben an eine gerechtere Nachkriegsordnung.“ (209) In der Nachkriegszeit wurde die CPN dann aus weltpolitischen Gründen schnell marginalisiert. Niederländische Nazis waren organisiert in der Nationaal Socialistische Beweging NSB, ab Ende 1941 die einzige erlaubte politische Vereinigung in den Niederlanden. Ihre Geschichte ist eng verknüpt mit dem Namen ihres Vorsitzenden Anton Mussert. Mussert biederte sich dem Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart an und wurde für seine Kollaboration mit der deutschen Verwaltung als einer von 149 Tätern zum Tode verurteilt. Musserts Urteil gehörte zu den 40, die auch vollstreckt wurden. Unmittelbar nach dem Krieg internierte die niederländische Verwaltung in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung zwischen 120.000 und 150.000 Nazi-Kollaborateure. Doch schon Mitte 1947 waren nur noch 25.000 inhaftiert – die Freigelassenen sollten resozialisiert werden, durften jedoch bis Ende der 50er nicht an Wahlen teilnehmen. In den 50ern wurde die niederländische Bindung an Deutschland ökonomisch wichtiger und die Verfolgung der deutschen Täter stockte aus diplomatischen Gründen. Ebenfalls aus diplomatischen Gründen, insbesondere der Einbindung in die UN, verzichteten die Niederlande nach heftigen Kämpfen und zum Teil extremer Gewaltanwendung im Dezember 1949 auf ihren Anspruch auf Indonesien. Die niederländischen und indonesischen Verhandlungspartner vereinbarten, „die Frage der Kriegsverbrechen auf sich beruhen zu lassen und keine gegenseitige Strafverfolgung einzuleiten“ (182). Romijn stellt das lange gepflegte niederländische Selbstbild in Frage, nachdem die niederländischen Truppen in Indonesien einen gerechten Krieg gekämpft hätten. Der Jenaer Historiker Norbert Frei versucht in einem angehängten Interview erfolglos, mit seinen Fragestellungen Romijns Weigerung einer Relativierung der deutschen Kriegsverbrechen zu durchbrechen, indem er beispielsweise fragt, ob die Deutschen nicht ein europäisches Einigungsprojekt geschaffen hätten, wäre da nur nicht die ausufernde Gewalt gewesen. Romijn bleibt aber im Gespräch wie in seinem Text dabei, die deutsche Besatzungs- und Vernichtungspolitik nicht gegenüber anderen Konflikten und Kriegshandlungen verblassen zu lassen. Der Faschismus ist auch in der Geschichte der Niederlande singulär.
Christoph Horst
KPD-Verbot
Josef Foschepoth, Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 492 S., 40 Euro
61 Jahre nach dem Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 17.08.1956 legt der Freiburger Historiker Josef Foschepoth eine neue Studie zum KPD-Verbot vor. Anlass ist der jetzt mögliche Zugang zu den Geheimakten der Bundesregierung aus den 1950er Jahren und zu den Beständen der KPD und SED im Koblenzer bzw. Berliner Bundesarchiv.
Foschepoth untersucht, ob die Bundesregierung politischen Druck auf das Verfahren ausgeübt hat und ob verfassungsrechtliche und gesetzliche Bestimmungen verletzt worden sind, wenn ja, in welchem Umfang und mit welchen Folgen (10 f.). Die materielle Verfassungswidrigkeit des Verbotes, wie sie von der KPD im Prozess selbst vorgetragen wurde, nämlich der Verstoß gegen höherrangiges, vorkonstitutionelles Recht (Potsdamer Abkommen und Lizenzierung der KPD durch die alliierten Siegermächte) sowie das damalige Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes bleibt unberücksichtigt. Dementsprechend werden maßgebliche politische und juristische Kritiker wie z. B. Wolfgang Abendroth und Helmut Ridder nicht einmal erwähnt.
Folgt man dem Mainstream unter heutigen Historikern und Juristen, dann war der Prozess gegen die KPD ein rechtsstaatlich einwandfreies, nach seinem politischen Sinn jedoch überflüssiges, zumindest aber zweifelhaftes Verfahren. Das BVerfG habe aufgrund der rechtlichen Prämissen nicht anders entscheiden können, nachdem die Bundesregierung den Verbotsantrag gestellt hatte. Inzwischen hat das BVerfG mit seinem Urteil vom 17.01.2017 selbst festgestellt, dass zu einem Parteiverbot ein verfassungswidriges Programm nicht ausreicht, sondern dass die Partei auch über das Potential zu dessen Realisierung verfügen muss. Bei Anwendung dieses Grundsatzes hätte die KPD im Jahr 1956 wohl kaum verboten werden können.
Dem tritt Foschepoth entgegen. Das KPD-Verbot war „politisch gewollt und daher rechtlich notwendig“ (272). Er beschreibt akribisch und belegt durch Archivmaterialien, wie BVerfG und Bundesregierung unter Bruch von Gesetzen und Verstoß gegen elementare Verfassungsgrundsätze der Gewaltenteilung, des rechtlichen Gehörs, der Gleichbehandlung und des fairen Verfahrens das Ziel durchsetzen, die Kommunisten aus dem öffentlichen Leben der Bundesrepublik endgültig zu verbannen. Das Urteil des Verfassungsgerichts ist damit selbst verfassungswidrig. Die Strategie und Taktik zwischen dem Gericht und der Prozessvertretung der Bundesregierung wird in geheimen Besprechungen abgestimmt. Der Verfassungsrichter Stein führt eine illegale Vernehmung durch und das manipulierte Protokoll dient als Beweismittel im Prozess. Allein dieser Vorgang und seine (teilweise faksimilierte) Dokumentation nehmen 41 Seiten des Buches ein. Begleitend zum Prozess werden mit gerichtlicher Ermunterung Polizeiaktionen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen in extensiver Form durchgeführt. Das BVerfG, das sich als „Hüter der Verfassung“ versteht, übernimmt – anfangs etwas widerwillig – die Rolle eines Vollzugsorgans der Bundesregierung. Man kann davon ausgehen, dass nicht alle Richter aufgrund ihres Selbstverständnisses diese Rolle akzeptiert haben. Um sie gefügig zu machen, wird den Richtern des Ersten Senats schließlich im Sommer 1956 angedroht, ihnen das Verfahren gesetzlich zu entziehen, wenn sie bis Ende August 1956 nicht abschließend entschieden hätten. Da kapituliert das BVerfG und fällt termingerecht das gewünschte Urteil. Dieses Gesetz ist als „Lex KPD“ in die Geschichte eingegangen.
Zum Mainstream gehört ebenso der Mythos der „antitotalitären Äquidistanz“1 als sinnstiftende Ideologie der Bundesrepublik. Er soll seinen Ausdruck unter anderem in den gleichzeitigen Verbotsverfahren gegen die KPD und die offen nazistisch auftretende Sozialistische Reichspartei (SRP) gefunden haben. Demgenüber beschreibt Foschepoth den antikommunistischen Nationalismus als das politisch-ideologische Fundament der Bundesrepublik (15). In der Tat hat die Bundesregierung beide Verfahren im November 1951 eingeleitet, gegen die SRP allerdings nicht freiwillig. Als die SRP im Mai 1951 bei den Landtagswahlen in Niedersachsen auf Anhieb 11 Prozent erreichte, forderten die Westalliierten energische Schritte gegen die SRP. Weil man dem außenpolitischen Druck nachkommen musste, entschied sich die Bundesregierung für das Verfahren gegen die SRP. Justizminister Dehler (FDP): Wenn sich ein Verbot der SRP nicht vermeiden lässt, dann sollte auch die KPD verboten werden. Ein solches Verfahren hatte Dehler bereits im Februar 1950 als eine der ersten Aufgaben des noch zu gründenden Verfassungsgerichts bezeichnet.
Der Autor versteht seine Arbeit als „erste wissenschaftliche Erforschung des KPD-Verbots“ (467). Dies scheint ein wenig zu hoch gegriffen. Eine juristische Arbeit will sie sicherlich nicht sein. Foschepoth sieht das KPD-Verbot als Teil des „nationalen Konflikts um die doppelte Staatswerdung Deutschlands“ (19), als Teil des „Kalten Bürgerkrieges ... von Deutschen gegen Deutsche“ (18). Die Auffassung, dieser „Kalte Bürgerkrieg“ sei Anfang der 1970er Jahre durch einen „historischen“ Kompromiss (20) mit der doppelten Staatswerdung von BRD und DDR beendet worden, werden all diejenigen, die seither Opfer staatlicher Verfolgung und Diskriminierung geworden sind, nicht teilen, wenn auch in einem anderen Verständnis von „Kaltem Bürgerkrieg“ als Foschepoth.
Dass das KPD-Verbotsverfahren von Gesetzesverstößen und Rechtsverletzungen bestimmt war, haben die Vertreter der KPD bereits während des Prozesses geltend gemacht. Das Verdienst der Arbeit von Foschepoth besteht darin, diese auf der Basis neu zugänglicher Quellen untermauert zu haben.
Heribert Peters
„Wende und Anschluss“
Günter Benser, Die vertanen Chancen von Wende und Anschluss. Es bleibt eine offene Wunde oder Warum tickt der Osten anders? Verlag am Park in der edition ost Verlag und Agentur, Berlin 2018, 200 Seiten, 14,99 Euro
Die Anzahl der Buchpublikationen zur deutschen Vereinigung von 1990 ist beträchtlich. Um der Komplexität des Themas, ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Seite gerecht werden zu können, wird für derartige Darstellungen oft die Form des Sammelbandes gewählt: Autoren unterschiedlicher Provenienz betrachten die Vereinigung und ihre Folgen ausschnittsweise und schätzen sie fachlich ein. Die Herausgeber der Bände bemühen sich dann im einleitenden oder im Abschlusskapitel um eine Synthese.
Die Zahl der Monografien zur Thematik lässt sich dagegen mit der Hand abzählen. Jüngst hat sich Günter Benser dieser Mühe unterzogen. Der prominente DDR-Historiker – vor knapp 10 Jahren hat er seine Geschichte der ostdeutschen Republik veröffentlicht – beginnt die Darstellung des historischen Ablaufs mit einem Kapitel “Erstarrung in der DDR und eine orientierungslose Führung“. Es folgen Kapitel über die Aktivitäten der Bürgerbewegungen im Herbst 1989, über „die chaotische Öffnung der Staatsgrenze“, die Verhandlungen um eine Vertragsgemeinschaft DDR-BRD um die Jahreswende 1989/90, über den „Jubel in den nationalen Taumel“ und zur „Einheit als Sturzgeburt“. Weitere Buchkapitel sind der Demontage des materiellen und intellektuellen Potentials der DDR gewidmet.
Es geht Benser nicht nur um eine Rekonstruktion der dramatischen Ereignisse. Der Impetus seiner Analyse lässt sich am Untertitel seines Buches erkennen: Er lenkt die besondere Aufmerksamkeit des Leser auf Seiten des Vereinigungsprozesses, die Auskunft darüber geben können, warum der nicht so verlief, wie sich das seine Befürworter in Ost und West gewünscht hatten, warum er bei den zwischen Elbe-Saale und Oder wohnenden Deutschen offene Wunden hinterlassen hat, weshalb die 1990 propagierte Angleichung des Osten an den Westteil des Landes bis heute nicht gelungen ist. Benser ist dadurch in der Lage, eine Antwort auf die Fragen all jener, – insbesondere junger – Deutscher zu geben, die heute mit den Folgen der Ungereimtheiten der Vereinigung zurechtkommen müssen. Damit grenzt sich der Autor ganz bewusst von jenen üblichen Darstellungen des Einheitsprozesses ab, die dessen problematische Züge weitgehend unterdrücken bzw. die Schuld an den nicht zu leugnenden Defiziten des Einheitsprozesses allein bei den ehemaligen DDR-Bewohnern suchen.
Benser ist nicht nur um eine ausgewogene Darstellung bemüht. Er stellt bei der Behandlung der „Wende“ regelmäßig die Frage „Was wäre wenn?“ Was wäre geschehen, wenn diese oder jene Entscheidung nicht so, sondern anders oder früher gefallen wäre. Es sind dies die Fragen, wie sie die Alternativgeschichte stellt, eine wissenschaftliche Forschungsmethode mit deren Hilfe ausgelotet werden kann, welche der historisch gegebenen Möglichkeiten von den damals Handelnden ergriffen wurden bzw. welche zu ergreifen sie versäumten. Ohne Zweifel bietet der deutsche Vereinigungsprozess für die Anwendung dieser Forschungsmethode besondere Voraussetzungen. Benser hat sie konsequent benutzt. Bis Anfang November 1989 sind die versäumten Entscheidungen, die vertanen Chancen fast ausnahmslos bei der SED-Führung zu finden. Benser deckt sie gnadenlos auf. Seit Beginn des ersten Halbjahres 1990 seien sie, so Benser, jedoch fast vollständig bei den westdeutschen Politikern, bei der Kohl-Regierung zu finden. Deren – aus heutiger Sicht – Fehlentscheidungen, ob absichtlich gefällt oder im Einigungsrausch unzureichend durchdacht getroffen, bewirkten in Ostdeutschland Verkrüppelungen und Zerstörungen, die bis heute nachwirken. Sie werden von Benser ebenso rücksichtslos, auch hinsichtlich ihrer mittel- und langfristige Folgen, beschrieben.
Günter Benser, der in seiner Wissenschaftsfunktion – er arbeitete am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und übernahm 1989 dessen Leitung – selbst unmittelbar in den Strudel jener Ereignisse gerissen wurde, die er in seinem Buch beschreibt, hat allen Versuchungen, seine Darstellung als Gegenrechnung aufzumachen, widerstanden, hütet sich vor pauschalen Verurteilungen bzw. unverdienter Rechtfertigung der damals Handelnden. Das ist ihm auch deshalb gelungen, weil er mit großer Sorgfalt und in einem achtunggebietenden Umfang die im vergangenen Vierteljahrhundert zur Thematik entstandene Literatur ausgewertet hat: Publikationen anderer um Seriosität bemühten Fachkollegen, Memoiren der Leiter von Umwandlung und Abwicklung betroffenen DDR-Institutionen in Wissenschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft; Bücher in denen Befragungen auch des einfachen Bürgers zur „Wende“ in der DDR vorgestellt und auswertet und Interviews mit den damals politisch Verantwortlichen gemacht wurden; Dokumentenpublikationen, die über die Haltung der führenden Politiker in Ost und West zu den Ereignissen und Entscheidungen der Jahre 1989/90 Auskunft geben. Nicht nur Bücher und wissenschaftliche Zeitschriften hat Benser ausgewertet, er hat sich auch die Mühe gemacht Zeitungen vom „Neuen Deutschland“ bis zur „Frankfurter Allgemeinen“, von der „jungen Welt“ bis zum „Rheinischen Merkur“ nach lesenswerten Beiträgen zum Thema deutsche Einheit zu durchforsten.
Neben den „Wendeereignissen“, die in entsprechenden Darstellungen wiederholt ihren Niederschlag gefunden haben, wenn auch selten so kurz und präzise dargestellt wie bei Günter Benser, enthält seine Publikation auch einige Kapitel über Seiten und Momente des Einigungsprozesses, die der interessierte Leser außer in seinem Buch kaum finden wird. Dazu gehören die Bemühungen der PDS, mit dem Stalinismus abzurechnen, die nach drei im Jahre 1990 der Aufarbeitung gewidmeten Konferenzen in diesem Rahmen abgebrochen werden mussten, weil der Partei, inzwischen unter das Kuratel der Treuhandanstalt/Direktorat Sondervermögen gestellt, die finanziellen Mittel entzogen wurden. Dazu gehört das Kapitel „Die Ohnmacht der SPD“, der es nicht gelang, gegen das Vorgehen vom „Kanzler der Einheit“ Kohl eine eigene gesellschaftspolitische Strategie für das künftige einheitliche Deutschland zu entwickeln und offensiv zu vertreten.
Ebenfalls zu den kaum behandelten Themen gehört Bensers Analyse des wahren Wirkens der entsprechend eines Beschlusses des Deutschen Bundestages im März 1992 eingesetzten beiden Enquete-Kommission zur „Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“. Unter beider Obhut entstanden bis 2015 etwa 7.000 Publikationen, statistisch gesehen pro Werktag etwa ein Titel. Die Vorgaben beider Kommissionen, schreibt Günter Benser, „waren alles andere als ergebnisoffen formuliert, sondern in Themenwahl und Sprachgebrauch von Vorurteilen und Vorverurteilungen geprägt. Besonders zwei Formeln dienten der Manipulierung der öffentlichen Meinung. Die Formel von zwei Diktaturen und die Formel vom Unrechtsstaat.“ (148)
Um abschließend meinen Eindruck von der Lektüre der Publikation in einem Satz zusammenzufassen: Es handelt sich bei dem gut lesbares Buch, das in der Kompaktheit, mit der die Probleme des Zustandekommens und der Folgen der deutschen Einheit mit aller Präzision und erfreulicher Kürze benannt, beschrieben und analysiert werden – um eine bisher beispiellose Darstellung, die jedem an Deutschlands jüngerer Geschichte und den daraus resultierenden gegenwärtigen Problemen Interessierten in West wie Ost unbedingt zu empfehlen ist.
Jörg Roesler
Eurosklerose?!?
Andreas Wehr, Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise. Köln 2018, PapyRossa Verlag, 175 S., 13,90 Euro.
„Sechzig Jahre nach ihrer Gründung befindet sich die Europäische Union in ihrer schwersten Krise“ – so die Diagnose des Autors in seinem neuen Buch zur EU. Ihm geht es um eine nüchterne Analyse und nicht um Modellbasteleien zu einer linken ‚europäischen Zukunftsvision’. Verständlich geschrieben, gut informiert und mit mehr Tiefgang als viele vergleichbare Publikationen der letzten Zeit in den einzelnen EU-Sachgebieten ist Wehrs neues Buch eine interessante Lektüre, die zu einer kontroversen Diskussion über das Verhältnis der Linken zur EU einlädt.
Zur Eurokrise (11-49) fasst er gerafft deren bisherigen Verlauf und ihre Ursachen zusammen. Diese hatte er in seinen vorherigen Büchern bereits ausführlicher analysiert.[1] Die ‚Rettung’ Griechenlands sieht er als gescheitert an und erwartet eher ein viertes knebelndes Kreditpaket der EU-Gläubiger. Kritisch beleuchtet er die lockere Geldpolitik der EZB (Nullzinspolitik, Quantitative Easing, Anleihenkaufprogramm), die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und den Fiskalvertrag sowie die Diskussion um Macrons und Schäubles Vorschläge zur Reform der Eurozone. Informativ sind seine Ausführungen zur Diskussion um Alternativen bei Konservativen und Linken (Aufspaltung in Nord- und Süd-Euro, Neues Europäisches Währungssystem EWS II, Transferunion, linke ‚Plan B’- Initiativen usw.).
Das Brexit-Kapitel (50-96) bietet fundierte Informationen über die Hintergründe, warum es zur Volksabstimmung über den EU-Austritt im Juni 2016 kam, in welchem gesellschaftlichen Klima es stattfand und warum das ‚Ja zum Brexit’ siegte: „Die hohe Beteiligung von Unterprivilegierten, und hier vor allem von Angehörigen der Arbeiterklasse hat das Referendum entschieden. In Gebieten, wo das Leave überwog, gingen gut drei Millionen mehr zur Abstimmung.“ (62) Es war ein vielschichtig motiviertes Protest-Votum gegen die Folgen neoliberaler ‚Globalisierung’ und gegen die eigenen britischen Eliten. Viele Linke in Europa waren über den Ausgang des Referendums entrüstet: dahinter stehe der von ‚Rechtspopulisten’ (UKIP usw.) geschürte Rassismus und Nationalismus. Bei der vorgezogenen Parlamentswahl im Juni 2017 kam Jeremy Corbyns Labour mit einem links-sozialdemokratischen Programm und der Ansage, die Brexit-Entscheidung zu akzeptieren, auf über 40 Prozent der Stimmen. UKIP stürzte auf 1,8 Prozent ab. Dies zeigt zumindest, dass die Sache wohl komplexer ist. Während viele Linke in Europa Corbyn nun als großen Hoffnungsträger feiern, bleibt Wehr eher skeptisch. Labour ist für den Verbleib in der Zollunion und (mit Ausnahmeregeln) im EU-Binnenmarkt. Dies mache es schwierig, die im Labour-Programm vorgeschlagenen Maßnahmen wie die Renationalisierung der Post, der Eisenbahn usw. gegen das geltende EU-Binnenmarktrecht durchzusetzen.
„Die Krise des ‚grenzenlosen Europas‘ wird nirgendwo sichtbarer als im Versagen der Union, ihr Versprechen einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik einzulösen“ (97) – so eröffnet Wehr das Kapitel (97-140) über die ‚Flüchtlingskrise als Spaltpilz der EU’. Informativ und kritisch behandelt der Autor den deutschen Asylkompromiss von 1992 als Anker des so genannten Dublin-Verfahrens: Flüchtlinge müssen in dem EU-Land Asyl beantragen, in dem sie zuerst angekommen sind. ‚Gut’ für Deutschland, weil es in der ‚Mitte Europas’ liegt: Asylsuchende könnten ja nur mit dem Flugzeug einreisen. Wehr beleuchtet kompetent die Reformen des Dublin-Verfahrens, die ‚Flüchtlingskrise 2015’ und die Reaktionen darauf, das Scheitern eines europäischen Umverteilungssystems für Flüchtlinge, den EU-Türkei-Deal und die Abkommen mit nord-afrikanischen und weiteren afrikanischen Staaten zur Schließung der Mittelmeerroute usw. Einig sind sich alle EU-Staaten in der verstärkten Abwehr von Flucht- und Migrationsbewegungen. Blockiert ist jeder Versuch eines europäischen ‚Verteilungssystems’ oder gar einer europäischen Vergemeinschaftung der Asyl- und Migrationspolitik, wie Macron sie anstrebt.
Der im Untertitel des Buchs erwähnte US-Präsident Donald Trump kommt ins Spiel, weil er den Brexit befürwortete, das von seinem Vorgänger Obama und der EU verhandelte Handels- und Investitionsschutzabkommen TTIP auf Eis legte und eine protektionistische Schutzzollpolitik nach dem Motto ‚America First’ in Angriff nimmt. Die bisherige transatlantische Partnerschaft wird rissig. Die EU traut den bisherigen US-Sicherheits-garantien für Europa nicht mehr und bastelt an einer eigenständigen ‚Europäischen Verteidigungsunion’ (PESCO, siehe155 ff).
Wehr erinnert an frühere Integrationskrisen des ‚europäischen Projekts’ (171), die damals mit dem Label ‚Eurosklerose’ belegt wurden. Gegenwärtig schreitet die EU-Integration in Bereichen wie der ‚Verteidigungsunion’ und dem Ausbau der ‚Festung Europa’ im Konsens aller EU-Regierungen zügig voran. Blockaden sieht Wehr zu Recht bei der Asyl- und Migrationspolitik, der Reform der Eurozone, und über das Konzept eines ‚Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten’ usw. Sein Fazit: „In den gegenwärtigen Krisen hängt es daher mehr und mehr von den politischen Entscheidungen der Mitgliedsländer ab, was aus der Europäischen Union wird. Mit einem Wort: Auch in Europa ist der Nationalstaat zurück.“ (173)
Der Nationalstaat als zentraler Akteur war aber in den vergangenen 60 Jahren kapitalistischer europäischer Integration nie ‚weg’, was Wehr in seinen früheren Publikationen stets überzeugend aufzeigte. Die interessantere politische Frage ist: kann das ‚Deutsche Europa’ sich weiter behaupten – welches mit Austeritätsunion à la Maastricht bis zum Fiskalvertrag etc. schrittweise mit kalter ökonomischer Dominanz und nicht mit ‚kultureller Hegemonie’ durchgesetzt wurde? ‚Osteuropa’ geht von der Fahne wg. Flüchtlingen und Migration, auch gegen ‚westliche’ Konzepte von ‚Demokratie und Rechtsstaatlichkeit’ (Rechtsregierun-gen in Polen und Ungarn, Stichwort ‚illiberale Demokratie’). ‚Südeuropa’ beugt sich weiterhin, möchte aber mehr ‚wachstumsfördernde Investi tionen’ als Gegenleistung dafür. ‚Nordeuropa’ verteidigt Schäubles alte Linie gegen die Reformpläne von Macron und die Orientierungen im Koalitionsvertrag der neuen Groko in Deutschland.[2] Das sind erstmals offene Spaltungslinien sogar in ‚Kerneuropa’.
Klaus Dräger
Imperialistische Kriege im Nahen Osten
Aktham Suliman, Krieg und Chaos in Nahost. Eine arabische Sicht, Frankfurt/Main Verlag Nomen 2017, 225 S., 17,90 Euro.
Aktham Suliman, der aus Syrien stammende Journalist und ehemals Berliner Büroleiter des qatarischen TV-Senders Al Jazeera, bekannt als „Arabischer CNN“, leitete diesen von 2002 bis 2012. Er hat nun eine brillante, sachlich und kritisch geschriebene Analyse der Kriege und des vom US-Imperialismus verursachten Chaos im Nahen Osten vorgelegt. Suliman ist zu bescheiden, wenn er seine, sich nur auf Nahost beziehende Analyse einschränken möchte. Dem Autor gelang es, Ursachen, Triebkräfte und strategische Hintergründe der geopolitischen Katastrophe im Nahen Osten schonungslos bloßzulegen und die strategischen Dimensionen zu analysieren, welche weit über den Nahen Osten hinausgehen. Auch auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern geht er ausführlich ein, wobei er die koloniale Besatzerpolitik der israelischen Regierungen und ihrer internationalen Verbündeten kritisch beleuchtet (34 ff.).
Al Jazeera war der einzige unabhängige arabische Sender, der permanent live über die Brutalität des US-geführten imperialistischen Krieges gegen Irak berichtete, womit über 50 Millionen arabische Haushalte erreicht wurden. George W. Bushs in Europa agierende „Pudel“, der britische Premierminister Tony Blair, war darüber so wütend, dass er seinerzeit dazu aufrief, die Zentrale von Al Jazeera in der qatarischen Hauptstadt Doha zu bombardieren. Soweit kam es zwar nicht, aber die Zentrale des Senders in der irakischen Hauptstadt Bagdad wurde zerstört.
Mit der „Arabellion“ änderte sich die politische Orientierung des Senders. Er wurde von einer offen und objektiv informierenden Institution zu einem Instrument der islamistischen Bewegung der „Ekhwan al Muslemin“, der Muslimbruderschaft, und der Außenpolitik der Regierung des Emirats Qatar und der Interessen der USA (18).
Suliman analysiert messerscharf die von den USA inszenierten Kriege am Golf, weist nach, wie UN-Beschlüsse instrumentalisiert, die Vereinten Nationen durch die US-Administration permanent gedemütigt wurden. Die UN-Resolution Nummer 678 vom 29. November 1990 wurde so interpretiert, dass über Nacht aus dem scheinbaren Schutzschild für die Zivilisten eine Aggression gegen Irak geworden ist (25).
UN-Inspektoren konnten nachweisen, dass Irak keinerlei Massenvernichtungswaffen besaß. Dennoch, so der Autor, hätte die US-Armee die nuklearen Fähigkeiten Iraks „in die Steinzeit zurückgebombt“ (27). Sie haben in Irak „eine größere Bombenlast abgeworfen als während des gesamtem Zweiten Weltkrieges“ (26). Der CNN-Reporter Bernhard Shaw berichtete: „Der Himmel über Bagdad leuchtet.“ (39).
Die Schrecken des Krieges, dessen Ende nicht absehbar ist, werden minutiös beschrieben (113–161). Angefangen von der Folter im CIA-Gefängnis in Abu Ghraib bis zur Erschießung von Zivilisten aus einem Hubschrauber auf der Straße in Bagdad durch US-Söldner informiert Aktham Suliman sehr präzise über die Kriegsverbrechen der USA und ihrer Alliierten (28 ff.).
Suliman belegt, dass sowohl durch die US-Botschafterin in Bagdad, April Glaspie, als auch durch das US-Außenministerium der Regierung Saddam Hussein grünes Licht für den Überfall auf Kuweit gegeben worden ist (S. 32). Dadurch wurde die irakische Regierung in die Kuweiter Falle gelockt und später vernichtend geschlagen. Selbst beim Rückzug aus Kuweit gab es für die irakischen Militäreinheiten keine Gnade. Dies kommt meines Erachtens einem Kriegsverbrechen ganz nah.
Francis Fukuyama mit seiner These vom „Ende der Geschichte“ und Samuel P. Huntington mit dessen brachialen Begriff vom „Kampf der Kulturen“ werden als geistige Brandstifter eingestuft, die dann auch den heißen Krieg unterstützten (49). Die gängige Version der Ereignisse des 11. Septembers 2001 stellt Suliman stark in Frage und rückt ausführlich die Verbindungen von Al Qaida-Chef Osama bin Laden und dem palästinensischen Theologen und Führer der Muslimbrüderschaft Dr. Abdallah Azzam mit der CIA in den Vordergrund (65–110).
Im letzten Kapitel beschreibt er als guter Beobachter den so genannten Arabischen Frühling, der keiner wurde. Wer sich über die nationalen, regionalen und internationalen Zusammenhänge und Verflechtungen der Kriege und Konflikte in und um den Nahen Osten aus erster Hand informieren möchte, dem sei das Buch von Aktham Suliman wärmstens empfohlen.
Matin Baraki
Anatomie der AfD
Gerd Wiegel, Ein aufhaltsamer Aufstieg. Alternativen zu AfD & Co. PapyRossa Verlag Köln 2017, 128 Seiten, 12,90 Euro
Dass die unter dem Namen „Alternative für Deutschland“ (AfD) firmierende Partei ein gravierendes Symptom des Verfalls der repräsentativen Demokratie im 21. Jahrhundert ist, dürfte mittlerweile offensichtlich sein. Die politischen Verfechter des Marktradikalismus haben die letzten dreißig Jahre genutzt, um System und Prinzip der bürgerlichen Demokratie auf reines Verwaltungshandeln zu reduzieren. Die Wahlmöglichkeiten werden zunehmend eingeschränkt, die politische Agenda wird auf kapitalhörige Machbarkeitskriterien verengt, maßgebliche politische Akteure werden ununterscheidbar und kritische Öffentlichkeit findet nur noch in kleinen publizistischen Nischen oder im Kabarett statt. Etwas unglücklich ist diese Situation als „Post-Politik“ bezeichnet worden; das Irreführende des Begriffs besteht darin, er ein Ende von Politik suggeriert, während tatsächlich eine unzureichende Politik betrieben wird, deren Schwach- und Leerstellen massiv von der AfD besetzt worden sind.
Da es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass die etablierten Parteien, Verbände und Bewegungen diesen Zustand tatsächlich verändern wollen oder können, ist relativ klar, dass die AfD in ihrer jetzigen Zusammensetzung und Stoßrichtung kein kurzlebiges Phänomen darstellt. Vielmehr fehlt, so auch die Kernaussage der instruktiven Analyse von Gerd Wiegel, eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Alternative zu kapitalistischer Ausbeutung und spätimperialistischer Herrschaft. Zu Recht wird konstatiert, dass der Aufstieg der Rechten in Deutschland und Europa „auch ein Versagen der Linken“ ist (105). Wiegel, Politikwissenschaftler und ausgewiesener Kenner rechter und neofaschistischer Politikbestrebungen, untersucht in drei Hauptkapiteln den Aufstieg und Durchbruch der AfD, ihre Position im Spektrum der europäischen Rechten und die inhaltlichen Gründe für den Aufschwung rechtsgerichteter Politik. In einem knappen Schlusskapitel werden Gegenstrategien angedeutet. Als wesentlich muss festgehalten werden, dass die AfD in ihrer sozialen Struktur und Ausrichtung eine Partei des Kleinbürgertums ist, die alle Ängste, Verwerfungen und Ressentiments der vermeintlich Zu-kurz-Gekommenen im Lande bündelt und artikuliert. Dabei wird von ihr nicht einfach nur mit faschistischen Einstellungen, rassistischen Überzeugen und entsolidarisierenden Thesen gespielt, diese gehören vielmehr zum Markenkern der AfD. Der Zerfall herkömmlicher Politikformen aus den sich verschärfenden gesellschaftlichen Widersprüchen manifestiert sich nach Wiegel u.a. in Desintegration und Kontrollverlust (16), wodurch eine politische Repräsentationslücke bei all jenen entstanden ist (S.24), die keine Chance mehr sehen, von der parlamentarischen Politik überhaupt gehört zu werden, geschweige denn Einfluss auf Entscheidungen nehmen zu können. Von dieser Repräsentationslücke sind mittelständische Kapitalfraktionen ebenso betroffen wie Angestellte und prekär Beschäftigte.
Ein wichtiger Punkt ist dabei die Ethnisierung der sozialen Frage durch die AfD und die europäischen Rechte (S.60). Wiegel hat Recht, wenn er die Unterschiede zwischen den AfD-Positionen und historischen faschistischen Bewegungen hervorhebt, vor allem im Hinblick auf einen defensiven Nationalismus, auf das Konzept des sogenannten Ethnopluralismus und auf die fehlende Unterstützung des Großkapitals (109-111). Aber schon beim Eindringen in öffentliche Diskurse, in der Themensetzung und bei der Aufwallung affektiver Empörung ist die AfD auf dem Weg, ihre publizistische Isolation hinter sich zu lassen, so dass ein „Umkippen“ der veröffentlichten Meinung wie zum Ende der Weimarer Republik nicht mehr ganz so weit hergeholt erscheint. Insofern wird man realistischerweise vorsichtig mit der These sein müssen, nach der die AfD „von Machtausübung weit entfernt“ sei (111). Neo-Nationalismus, Neo-Rassismus und Neofaschismus sind mit der neoliberalen Ideologie durchaus kompatibel und marktfähig. Damit werden Szenarien einer bürgerlichen „Einhegung“ in Mehrparteienkoalitionen denkbar oder die Usurpation der Exekutive innerhalb des formaldemokratischen Rahmens. Dadurch würde sich phänotypisch am politischen System so viel gar nicht ändern, die Substanz der Demokratie wäre jedoch unwiederbringlich zerstört. Geprüft werden sollte, ob sich im Faschismus vor der Machtübergabe Parallelen finden lassen, was die Unterwanderung demokratischer Institutionen und die Passivität ihrer Verantwortungsträger betrifft. Es ist an die Mahnung von Peter Hacks zu erinnern, der in einem Brief an den Präsidenten der Akademie der Künste der DDR, Konrad Wolf, anlässlich einer Faschismusdiskussion schon 1979 betonte, „dass der Imperialismus eine vergleichbar unvermittelte Diktatur fast zu jedem Zeitpunkt, erwartet oder unerwartet, wieder einrichten könne. Aber bei deren äußerer Erscheinungsform wird jedenfalls für Unähnlichkeit mit dem Nazistaat gesorgt sein.“
Wiegels Buch ist ein hilfreicher Leitfaden zur Einordnung der AfD und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Wiederherstellung des so dringend benötigten universalistischen Menschenbildes in unserer Zeit.
Detlef Kannapin
Klasse, Identität, Migration
Sandro Mezzadra, Mario Neumann, Jenseits von Interesse und Identität – Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968, Laika-Verlag Hamburg, S. 72, 9,90 Euro
„Lauft Genoss*innen: Die alte Linke ist hinter euch her“, diesen Spruch haben Sandro Mezzadra und Mario Neumann als Leitspruch ans Ende der Einleitung ihres Buches gesetzt. Doch ihr Debattenbeitrag ist in positivem Sinne weniger polemisch als der Spruch vermuten lässt.
Mezzadra/Neumann versuchen aus postoperaistischer Perspektive in die derzeitige Debatte um Klasse, Identität und Migration einzugreifen. Sie zeichnen dafür die Entwicklung der alten Linken theoretisch und organisatorisch bis 1968 nach. Die alte Linke in Parteien und Gewerkschaften seien bis heute männerdominierte Industriearbeiterorganisationen. 1968 ist für die Autoren dagegen der Fixpunkt des Wandels der Linken. Mit dem Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen veränderten sich die Linke und die Gesellschaft grundlegend. Feministische und migrantische Kämpfe traten nun verstärkt in den Vordergrund – auch, wenn es sie eigentlich schon immer gab. Die alte Linke konnte mit dieser Entwicklung nichts anfangen.
Um diesen Gedanken kreist die zentrale These des Buches: Die alte Linke vermochte die neuen Impulse nicht aufzunehmen und sich zu modernisieren. Bis heute hätte sie daher keine Antworten auf die Fragen der Zeit. Der Befund ist erstmal nicht neu und auch nicht völlig falsch. Auch Lucio Magri, langjähriges Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, argumentierte in seiner brillanten Studie zur KPI, „Der Schneider von Ulm“, ähnlich. Allerdings geraten Mezzadra und Neumann in der Darstellung der Ökonomie, der Klassenentwicklung und der Organisationsfrage mächtig ins Straucheln.
In der Analyse der zunehmenden Kämpfe neuer sozialer Bewegungen verpassenden sie es, den Wandel der Arbeit und der beginnenden Globalisierung darzustellen. Die Zunahme migrantischer und weiblich geprägter Streikauseinandersetzungen war letztlich ein Ergebnis der verstärkten Einbindung dieser Beschäftigtengruppen in den Arbeitsmarkt. Aus der Verlagerung der Produktion und dem Umbau der Arbeitswelt ergeben sich veränderte Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. Die Linke geriet in der Folge insgesamt ab Mitte der 1970er Jahre in die Defensive.
Zwar entstanden in der Folge von '68 allerlei linke Kleinstgruppen, Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen und NGOs neben den Parteien. Doch setzten diese alle progressiven Errungenschaften zumeist im Verbund mit Parteien und Gewerkschaften durch. Ab ca.1975 gerieten auch diese Gruppen mit der alten Linken in die Defensive (oder verschwanden wie die operaistischen Organisationen sogar ganz). Den wichtigsten Bezugspunkt sehen Mezzadra/Neumann daher in den Neuen Sozialen Bewegungen. Nur diese Bewegungen schafften es seit den 1980er Jahren ernsthaft Widerstand gegen die Verhältnisse zu organisieren und sich veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Als Beispiel nennen sie die globalisierungskritische Bewegung um 2000 und sprechen von der Bewegung der Bewegungen.
An diesem Punkt gewinnt ihr Buch eine merkwürdige Schräglage. Gerade die globalisierungskritische Bewegung rekrutierte sich im Westen vielfach aus akademischen Milieus. Die IG Metall hingegen hat 500.000 migrantische Mitglieder, mehrheitlich aus der Arbeiterklasse, und kann als größte migrantische Organisation Deutschlands bezeichnet werden. Ver.di ist sicherlich eine der größten Organisationen weiblicher ArbeiterInnen. Die IG BCE hat einen migrantischen Vorsitzenden. Damit hat die „alte Linke“ der Bewegungslinken einiges voraus.
Zudem ist völlig unklar, was mit der „Bewegung der Bewegungen“ gemeint sein soll. Mezzadra und Neumann erhöhen die Unklarheit weiter. Statt der Arbeiterklasse sei die „Multitude“ das Subjekt der „Bewegung der Bewegungen“. Den Begriff der „Multitude“ richten sie gegen die klassische Stellung der Arbeiterklasse: Die Multitude würde die Klassenverhältnisse nach der Krise des industriellen Massenarbeiters besser fassen. Migranten, Frauen und die Massenintellektualität ließen sich ebenso wie ihre – über ihre Interessen hinausgehenden – Kämpfe mit diesem Begriff besser beschreiben, ohne, dass es zu Ausschlüssen komme. Letztlich versuchen die Autorenmit dem Begriff der Multitude in Anlehnung an Hardt/Negri ein neues revolutionäres Subjekt zu beschreiben. Das Anliegen ist zwar ehrbar, stiftet aber mehr Verwirrung als es Nutzen bringt. Offenkundig agieren die Klassenfraktionen, die Beschäftigten der verschiedenen Bereiche und die neuen sozialen Bewegungen ja eben gerade nicht zusammen. Die Trennung und Spaltung kann nicht durch mystische Begriffskonstruktionen zusammengekleistert werden.
Mezzadra/Neumann werfen die richtigen Fragen der Zeit auf, unterbreiten jedoch außer ungenauen Analysen und gut gemeinten Appellen inhaltlich keine Angebote für die Zukunft.
Janis Ehling
Autorinnen und Autoren, Übersetzer
Heiko Balsmeyer – Berlin, Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter MdB Ingrid Remmers Linksfraktion
Dr. Matin Baraki – Marburg, Lehrbeauftragter für Internationale Politik
Dr. Stefan Bollinger – Berlin, Politikwissenschaftler und Historiker, Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand Die Linke
Dr. Holger Czitrich-Stahl – Berlin, Historiker und Lehrer
Klaus Dräger – Köln, Publizist, Z-Beirat
Janis Ehling – Berlin, Politikwissenschaftler, Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE
Prof. John Bellamy Foster – Eugene/USA, Prof. für Soziologie, Herausgeber von Monthly Review
Prof. Dr. Georg Fülberth – Marburg/L., Politikwissenschaftler
Franz Garnreiter – Rosenheim, Dipl. Volkswirt, Energiewirtschaftler
Dr. Jörg Goldberg – Frankfurt/M. Wirtschaftswissenschaftler, Z-Redakteur
Dr. Richard „Rick“ Heede – Snowmass/Colorado, USA, Physiker, MS Geog., Dir. Climate Accoutability Institute; Climate Mitigation Services
Prof. Dr. Joachim Hösler – Marburg, Lehrer und Hochschullehrer, Osteuropa-Historiker
Christoph Horst – Bad Lippspringe, Dipl.-Sozialarbeiter
Alexander M. Hummel – Heidelberg, Soziologe, Doktorand
Dr. Detlef Kannapin – Neuenhagen, Kulturwissenschaftler
Alan Ruben van Keeken – Siegen, Student der Musikwissenschaft
Juri Kilroy – Jena, Student der Politikwissenschaften
Bernhard Knierim – Berlin, Biophysiker und Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter MdB Sabine Leidig, Linksfraktion
Prof. Dr. Dieter Kraft – Berlin, Theologe
Dr. André Leisewitz – Weilrod, Dipl. Biol., Z-Redakteur
Wolfgang Lohbeck – Hamburg, langjähriger Verkehrsexperte von Greenpeace Deutschland
Dr. Gert Meyer – Marburg, Historiker
Prof. Dr. Klaus Müller – Lugau, Wirtschaftswissenschaftler
Dr. Paul Oehlke – Köln, Sozialwissenschaftler
Yannik Pein – Göttingen, Student der Soziologie und Politikwissenschaft
Prof. Dr. Helmut Peters – Berlin, Sinologe
Heribert Peters – Marburg, Jurist
Prof. Dr. sc. Siegfried Prokop– Bernau, Historiker
Michael Reckordt – Berlin, Dipl. Geograph, Powershift e.V., Koordinator des Netzwerks AK Rohstoffe
Dr. Jürgen Reusch – Frankfurt/M., Politikwissenschaftler, Z-Redakteur
Prof. Dr. Jörg Roesler – Berlin, Wirtschaftshistoriker, Z-Beirat
Joachim Schubert – Mannheim, ehem. Betriebsrat ALSTOM
Dr. Winfried Schwarz – Frankfurt/M., Sozialwiss., tätig in der Umweltforschung
Lea Schneidemesser – Jena, Studentin der Soziologie
Prof. Dr. Bernhard H. F. Taureck – Braunschweig, Philosoph, Hochschullehrer
Dr. sc. Carl-Erich Vollgraf – Berlin, Politökonom, langjähriger MEGA²-Redakteur
Dr. Gerd Wiegel – Berlin, Politikwiss., Fachreferent Rechtsextremismus /Antifaschismus der Linksfraktion, Z-Redakteur
Uwe Witt – Berlin, Volkswirt, Referent für Klima- und Energiepolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE
Prof. Dr. Zhang Guangming – Beijing, School of International Studies, Hochschullehrer
Dr. Michael Zander, Dipl.-Psych. – Berlin, vertritt derzeit eine Professur im Fach Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Z-Redakteur
Prof. Dr. Jörg Rudolf Zimmer – Girona, Philosoph, Hochschullehrer
1 Uwe Backes/Eckard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005, S. 187.
[1] A. Wehr, Griechenland, die Krise und der Euro; Köln, 2010; und A. Wehr, Der kurze griechische Frühling. Das Scheitern von SYRIZA und seine Konsequenzen, Köln, 2016
[2] Siehe: Nordallianz stellt sich gegen Euroideen, FAZ vom 7.3.2018.