Unterschiedlichen Traditionen der Klassenanalyse entsprechen unterschiedliche Schlüsselbegriffe. In der Weberianischen Tradition etwa steht das Konzept der „Lebenschancen“ für den Fokus auf je individuelle Möglichkeiten und soziale Mobilität.[2] Bei Bourdieu ist „Unterschied“ der Begriff, der sein Klassenkonzept in einer breiter angelegten Soziologie der Kultur verankert. Und in der marxistischen Klassenanalyse wiederum ist es „Ausbeutung“, die den antagonistischen Charakter der Klassenbeziehungen sowie der Dynamiken des Kapitalismus insgesamt anzeigt.
Ich möchte hier einen Ansatz über Ausbeutung nachzudenken ausführen, der die bis heute ungebrochene Relevanz des Ausbeutungsbegriffs für die Soziologie auch für jene festhält, die den umfassenderen theoretischen Bezugsrahmen des Marxismus ablehnen. In seinen eigenen Arbeiten hat Marx den Begriff der Ausbeutung in den Rahmen der Arbeitswerttheorie gestellt – ein Mittel, die Menge der von den Arbeitern abgepressten Arbeit im kapitalistischen Produktionsprozess zu messen. Das hat einige zu der Vermutung veranlasst, der Ausbeutungsbegriff beruhe auf der Arbeitswerttheorie. Ich will demgegenüber ausführen, dass die Arbeitswerttheorie zwar nützlich ist, um Ausbeutung zu messen, der Begriff der Ausbeutung selbst aber auf einem spezifischen Verständnis der von Machtbeziehungen geschaffenen Abhängigkeitsverhältnisse beruht. Das ermöglicht die Entwicklung eines allgemeinen Begriffs von Ausbeutung, der sich auf andere soziale Beziehungen als Klassenbeziehungen anwenden lässt – etwa sexuelle Ausbeutung und kulturelle Ausbeutung, wie ich am Ende zeigen will. Der zentrale Gedanke hier ist, dass der Ausbeuter den Ausgebeuteten in sozialen Beziehungen der Ausbeutung sowohl schadet als auch von ihnen abhängig ist, was eine antagonistische Struktur der wechselseitigen Abhängigkeit schafft.
Dafür machen wir den Umweg über die Geschichte eines US-amerikanischen Comics der 1940er Jahre, Li’L Abner. Der Charakter jener Beziehungen, in denen Ausbeutung stattfindet, lässt sich dadurch leichter darstellen.
1. Die Parabel vom Shmoo
Li’l Abner, Bewohner der Hinterwäldler-Siedlung Dogpatch, entdeckt eine wundersame und zauberhafte Kreatur, den „Shmoo“, und bringt eine ganze Herde von ihnen mit nach Dogpatch. Das einzige Anliegen im Leben der Shmoos ist es, den Menschen Gutes zu tun, indem sie sich in Dinge verwandeln, welche die Menschen brauchen. Sie statten die Menschen aber nicht mit Luxusgütern aus, sondern lediglich mit dem, was sie zum Leben brauchen. Wenn du hungrig bist, können sie sich in Schinken mit Speck verwandeln, aber nicht in Kaviar. Und vor allem vermehren sie sich in Windeseile, so dass immer genug von ihnen da sind. Für die Wohlhabenden haben sie daher keinen großen Wert, für die Armen allerdings sehr wohl. Letztlich stellen die Shmoos für die Menschen also den Garten Eden wieder her. Als Gott Adam und Eva aus dem Paradies verbannte, um sie für ihre Sünden zu bestrafen, bestand eine der härtesten Strafen darin, dass sie und ihre Nachkommen fortan gezwungen waren, ihr Brot „im Schweiße ihres Angesichts zu essen“. Der Shmoo erlöst die Menschen davon, und insofern steht er für eine alte Sehnsucht der westlichen Kultur.
In der unten aufgeführten Episode von Li’l Abner fertigt ein Manager, der für einen reichen Kapitalisten namens P.U. arbeitet, eine Studie an, um den ärmsten Ort in ganz Amerika ausfindig zu machen, damit sie dort die billigste Arbeit für eine neue Fabrik einstellen können. Es stellt sich heraus, dass dieser Ort Dogpatch ist. P.U. und der Manager kommen also nach Dogpatch, um Angestellte für die neue Fabrik zu rekrutieren. Die Geschichte wird in einer Reihe Comicstrips von 1948 erzählt.
Die Präsenz der Shmoos stellt jedoch eine ernsthafte Bedrohung sowohl für die Klassen- wie auch Geschlechterbeziehungen dar. Arbeiter sind nämlich nicht mehr so leicht für mühselige Arbeit zu gewinnen und müssen auch nicht länger das Geschwätz und die Demütigungen ihrer Bosse dulden. Frauen sind nicht mehr ökonomisch von Männern abhängig und müssen auch keinen sexistischen Umgang mehr hinnehmen.
In den späteren Folgen organisieren P.U. und seine Handlanger eine Kampagne zur Zerstörung der Shmoos. Sie sind weittgehend erfolgreich damit, und ihr unheilvoller Einfluss wird gestoppt: Der amerikanische Kapitalismus kann weitergehen, ungestört vom Gespenst des Garten Eden.
Die Geschichte vom Shmoo hilft zu verdeutlichen, in welchem Sinne sich die Interessen von Arbeitern und Kapitalisten antagonistisch gegenüberstehen – einer der Kerngedanken der marxistischen Klassenanalyse. Sehen wir uns diesen Antagonismus etwas genauer an, indem wir die unterschiedlichen Einstellungen von Kapitalisten und Arbeitern gegenüber dem Schicksal der Shmoos betrachten. Vier mögliche Verteilungen der Shmoos kommen in Betracht: Jeder bekommt einen Shmoo; nur Kapitalisten bekommen Shmoos; nur Arbeiter bekommen Shmoos; die Shmoos werden zerstört und keiner bekommt welche.
Tabelle 1 ordnet die Präferenzen bezüglich des Schicksals der Shmoos unter der Annahme, dass sowohl Arbeiter als auch Kapitalisten rational sind und nur auf ihren eigenen materiellen Nutzen bedacht handeln.[3] Sie sind daher weder altruistisch noch boshaft; die Akteure handeln schlicht auf Grundlage eines reinen, rationalen Egoismus, wie wir ihn typischerweise in der neoklassischen Ökonomie finden.
Tabelle 1. Präferenzen für das Schicksal der Shmoos nach Klassenzugehörigkeit
Rang
Kapitalistenklasse
Arbeiterklasse
1
Nur Kapitalisten erhalten Shmoos
Jeder erhält einen Shmoo
2
Zerstörung der Shmoos
Nur Arbeiter erhalten Shmoos
3
Jeder bekommt Shmoos
Nur Kapitalisten erhalten Shmoos
4
Nur Arbeiter erhalten Shmoos
Zerstörung der Shmoos
Für die Kapitalisten besteht die erste Präferenz folglich darin, dass nur sie Shmoos bekommen, weil sie mit Shmoos ganz offensichtlich besser dran sind als ohne. Die zweite Präferenz wäre, dass keiner sie bekommt. Lieber sähen sie den Shmoo zerstört, als dass alle welche bekommen. Für Arbeiter wiederum ist die erste Präferenz, dass alle Shmoos bekommen. Da der Shmoo lediglich Grundbedürfnisse befriedigt und keine Luxusartikel liefert, würden viele Arbeiter weiterhin gegen Lohn arbeiten, um ein Einkommen zur Verfügung zu haben. Solche Arbeiter wären besser dran, wenn die Kapitalisten ebenso wie die Arbeiter Shmoos hätten, da das bedeuten würde, dass Kapitalisten ein paar mehr Rücklagen für Investitionen zur Verfügung stünden (weil sie ja ihre Grundbedürfnisse nicht selber bezahlen müssten). Die zweite Präferenz der Arbeiter wäre, dass Arbeiter allein Shmoos bekommen, ihre dritte, dass nur Kapitalisten Shmoos bekommen, und ihre am wenigsten präferierte Option, dass die Shmoos zerstört werden.
Die Präferenzordnung der Arbeiter entspricht dem, was man als universelle menschliche Interessen bezeichnen könnte. Das ist eine Art, die klassische marxistische Idee der Arbeiterklasse als „universeller Klasse“ zu verstehen, also jener Klasse, deren spezifische materielle Interessen gleichbedeutend mit den Interessen der Menschheit an sich sind. Die Präferenzordnung entspricht ferner dem, was man Rawls‘sche Interessen[4] nennen könnte – also die Präferenzen, die das Wohl derer in der Gesellschaft mehren, die am ärmsten dran sind. Was die Shmoos angeht, entsprechen die materiellen Interessen der Arbeiter jedenfalls den Geboten der Rawls‘schen Prinzipien von Gerechtigkeit. Das ist eine bemerkenswerte Übereinstimmung, insofern sie keinen spezifischen Annahmen über Tugend, Edelmut oder Altruismus der Arbeiter entspringt, sondern lediglich den objektiven Parametern der Klassenlage.
Die Geschichte des Shmoos zeigt, dass die Entbehrungen der Besitzlosen in einem kapitalistischen System nicht einfach ein unglückliches Nebenprodukt der kapitalistischen Jagd nach Profiten sind, sondern eine notwendige Bedingung dieser Jagd. Das ist mit der Feststellung gemeint, dass kapitalistische Profite auf „Ausbeutung“ beruhen. Das bedeutet nicht, dass Profite einzig aus Ausbeutung „abgeleitet“ wären oder dass der Grad der Ausbeutung allein die Höhe der Profite bestimme. Es bedeutet allerdings, dass Ausbeutung eine der notwendigen Bedingungen für Profite in einer kapitalistischen Ökonomie ist. Insofern haben ausbeutende Klassen ein Interesse daran, die Ausgebeuteten davon abzuhalten, sich die Mittel zum Erhalt ihrer selbst anzueignen, selbst wenn – wie im Falle der Shmoo-Geschichte – diese Aneignung nicht die Form einer Umverteilung von Wohlstand oder Einkommen von Kapitalisten zu Arbeitern annimmt. Grob gesagt, entwickelt der Kapitalismus also eine Reihe von Anreizen, so dass die Kapitalistenklasse ein Interesse daran hat, den Garten Eden zu zerstören.
Während die Kapitalisten in der Realität freilich keiner Bedrohung durch Shmoos ausgesetzt sind, gibt es Phasen in der Geschichte des Kapitalismus, in denen sie auf Hindernisse treffen, die der Existenz von Shmoos nicht ganz unähnlich sind. Subsistenzbauern etwa haben durch ihren Besitz von fruchtbarem Land eine Art Quasi-Shmoo. Sie müssen zwar für ihr Leben arbeiten, aber nicht für die Kapitalisten. Zu manchen Zeiten haben Kapitalisten an einigen Orten gezielt Strategien zur Einschränkung der Kapazitäten von Subsistenzbauern, die vom Ertrag ihrer Länder lebten, ergriffen, damit sie diese dann als Arbeitskräfte rekrutieren konnten. Ein gutes Beispiel dafür ist die geldförmige Besteuerung von Hütten in Südafrika im 19. Jahrhundert, mit der Subsistenzbauern dazu gezwungen werden sollten, sich auf den Arbeitsmarkt zu begeben und in den Minen zu arbeiten, um das nötige Geld zum Bezahlen der Steuern zu verdienen. Allgemeiner ausgedrückt, richten sich kapitalistische Interessen gegen soziale Ordnungen, die einen teilweise Shmoo-artigen Charakter haben. Die Interessen der Kapitalistenklasse richten sich daher gegen Dinge wie ein universelles und bedingungsloses Grundeinkommen oder eine dauerhaft niedrige´Erwerbslosigkeit, selbst wenn die Steuern, mit denen derlei Vorhaben finanziert werden könnten, ausschließlich aus Löhnen bezahlt würden und folglich nicht aus ihrer eigenen Tasche kämen. Dies veranschaulicht, inwiefern kapitalistische Ausbeutung fundamental antagonistische Interessen zwischen Arbeitern und Kapitalisten hervorbringt.
2. Der Begriff der Ausbeutung
Die Geschichte der Shmoos kreist um die Verbindung von Klassenspaltungen, Klasseninteressen und Ausbeutung. Zwei Hauptklassen kommen vor – Kapitalisten, welche die Produktionsmittel besitzen, sowie Arbeiter, die sie nicht besitzen. Kraft der Vermögen, die sie beide besitzen (Kapital und Arbeitskraft), sind ihnen eine Reihe von Bedingungen auferlegt, unter denen sie ihre materiellen Interessen am besten verfolgen können. Die Präsenz der Shmoos verändert diese Bedingungen grundlegend und stellt eine Bedrohung für die materiellen Interessen der Kapitalisten dar. Wieso? Weil sie ihre Fähigkeit untergräbt, die Arbeitskraft der Arbeiter auszubeuten. In diesem Sinne ist „Ausbeutung“ ein Schlüsselbegriff zum Verständnis jener antagonistischen Interessen, die durch Klassenbeziehungen hervorgebracht werden.
Ausbeutung ist ein aufgeladener theoretischer Begriff, insofern er nicht bloß die analytische Beschreibung, sondern eine moralische Verurteilung besonderer Beziehungen und Praktiken suggeriert. Eine soziale Beziehung als ausbeuterisch zu beschreiben heißt sie als sowohl schädigend als auch ungerecht für die Ausgebeuteten zu verdammen. Und obwohl diese moralische Dimension von Ausbeutung bedeutsam ist, kreist der Begriff in seinem Kern jedoch eher um einen besonderen Typ von antagonistischer gegenseitiger Abhängigkeit der materiellen Interessen von Akteuren innerhalb ökonomischer Beziehungen, als um die Ungerechtigkeit dieser Beziehungen selbst. So, wie ich den Begriff benutzen werde, wird klassenförmige Ausbeutung durch drei prinzipielle Kriterien definiert:
(1) Das Prinzip der umgekehrt wechselseitigen Abhängigkeit von Wohlstand: Das materielle Wohl von Ausbeutern hängt ursächlich von der materiellen Entbehrung der Ausgebeuteten ab. Der Wohlstand des Ausbeuters geht auf Kosten des Ausgebeuteten.
(2) Das Prinzip des Ausschlusses: Die Kausalbeziehung, die das Prinzip (1) hervorbringt, beinhaltet den asymmetrischen Ausschluss der Ausgebeuteten vom Zugang zu bestimmten produktiven Ressourcen sowie der Kontrolle über diese. Typischerweise wird dieser Ausschluss gewaltsam in Form von Eigentumsrechten sichergestellt, was in besonderen Fällen aber nicht der Fall sein muss.
(3) Das Prinzip der Aneignung: Der Kausalmechanismus, der entsprechend (2) Ausschluss in ungleichen Wohlstand (1) übersetzt, beinhaltet die Aneignung der von den Ausgebeuteten verrichteten Früchte der Arbeit durch jene, die über die wichtigen produktiven Ressourcen verfügen.[5] Diese Aneignung wird meist als Aneignung des „Surplusprodukts“ bezeichnet.
Diese Reihe von Bedingungen ist einigermaßen komplex: Kriterium (1) führt den Antagonismus materieller Interessen ein. Kriterium (2) macht klar, dass dieser Antagonismus in der Art und Weise wurzelt, wie die Menschen innerhalb der gesellschaftlichen Organisation der Produktion gestellt sind. Der Ausdruck „asymmetrisch“ in diesem Kriterium soll den „fairen Wettstreit“ unter Gleichen aus der Bandbreite möglicher Ausbeutungsformen ausschließen. Kriterium (3) schließlich führt den spezifischen Mechanismus ein, durch den die wechselseitig abhängigen, antagonistischen materiellen Interessen hervorgebracht werden. Das Wohl der Ausbeuter beruht auf der Anstrengung der Ausgebeuteten, nicht einfach auf ihren Entbehrungen und Entsagungen.
Sind nur die ersten beiden dieser Kriterien erfüllt, finden wir etwas vor, das man als „nichtausbeuterische ökonomische Unterdrückung“ bezeichnen kann, nicht aber als „Ausbeutung“. Im Fall der nichtausbeuterischen ökonomischen Unterdrückung gibt es keine Übertragung der Früchte der Arbeit von den Unterdrückten hin zum Unterdrücker; das Wohl des Unterdrückers hängt einzig vom Ausschluss der Unterdrückten vom Zugang zu bestimmten Ressourcen ab, nicht aber von den Mühen ihrer Arbeit. In beiden Fällen wurzeln die Ungleichheiten, um die es geht, in Besitz und Kontrolle der zur Produktion nötigen Ressourcen.
Der entscheidende Unterschied zwischen Ausbeutung und nichtausbeuterischer Unterdrückung besteht darin, dass der Ausbeuter einer ausbeuterischen Beziehung die Ausgebeuteten braucht, weil er auf die Mühen der Ausgebeuteten angewiesen ist. Im Falle der nichtausbeuterischen ökonomischen Unterdrückung wären die Unterdrücker glücklich, würden die Unterdrückten einfach verschwinden. Für die Siedler aus Europa in Nordamerika etwa wäre das Leben wesentlich einfacher gewesen, wäre der Kontinent nicht von Menschen bewohnt gewesen. Im Fall der ökonomischen Ausbeutung ist das keine Option, da die Ausbeuter die Arbeit der Ausgebeuteten für ihr eigenes materielles Wohlergehen benötigen. Nicht durch Zufall gibt es in den Vereinigten Staaten eine abscheuliche Redensart, die besagt „nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer“, aber kein Sprichwort, das etwa „nur ein toter Arbeiter ist ein guter Arbeiter“ oder „nur ein toter Sklave ist ein guter Sklave“ lautet. Es macht Sinn, zu sagen: „Nur ein gehorsamer und gewissenhafter Arbeiter ist ein guter Arbeiter“, nicht aber: „Nur ein toter Arbeiter ist ein guter Arbeiter“. Der Kontrast zwischen Südafrika und Nordamerika hinsichtlich ihres Umgangs mit indigenen Völkern veranschaulicht diesen Unterschied sehr prägnant: In Nordamerika, wo die indigenen Völker zwar unterdrückt (mittels gewaltsamer Vertreibung von ihrem Land) aber nicht ausgebeutet wurden, war Genozid ein grundlegender Bestandteil der Politik sozialer Kontrolle angesichts von Widerstand; in Südafrika hingegen, wo der Reichtum der europäischen Siedlerbevölkerung stark von afrikanischer Arbeit abhing, war das keine Option.
In diesem Sinne ist Ausbeutung nicht einfach als eine Reihe von Statuseigenschaften sozialer Akteure zu verstehen, sondern vielmehr als ein Muster dauerhafter Interaktionen, das von verschiedenen sozialen Beziehungen strukturiert wird, die Ausbeuter und Ausgebeutete aneinander binden. Diese Abhängigkeit des Ausbeuters von den Ausgebeuteten gibt Letzteren eine gewisse Form der Macht, insofern Menschen zu jedem Zeitpunkt zumindest minimalste Kontrolle darüber behalten, in welchem Umfang sie welche Leistung erbringen. Soziale Kontrolle über Arbeit, die einzig auf Repression beruht, ist daher kostspielig und, mit Ausnahme einiger Sonderfälle, meistens nicht in der Lage, die Ausgebeuteten zur gewünschten Sorgfalt und Anstrengung zu veranlassen. Letztlich stehen die Ausbeuter daher unter einem allgemeinen systemischen Zwang, ihre Herrschaft zu mäßigen und die Ausgebeuteten auf die ein oder andere Art zu einer Form des Einverständnisses zu bewegen, damit sie wenigstens in geringem Umfang mitspielen. Paradoxerweise ist Ausbeutung daher womöglich sogar eine Kraft, welche das Handeln der Ausbeuter in gewisser Weise einschränkt. Für die Ausgebeuteten stellt diese Begrenzung grundsätzlich eine Machtressource dar.
Menschen, die unterdrückt aber nicht ausgebeutet werden, verfügen ebenfalls in gewissem Umfang über Machtressourcen, die allerdings weitaus unsicherer sind. Grundsätzlich haben Unterdrückte eine Form der Macht, die auf der Möglichkeit zum physischen Widerstand beruht. Da ihre Unterdrücker allerdings nicht wegen irgendwelcher ökonomischer Hindernisse auf Kooperation angewiesen sind, dürfte dieser Widerstand sehr schnell die Form ziemlich blutiger und gewaltsamer Auseinandersetzungen annehmen. Aus eben diesem Grund hat der Widerstand nordamerikanischer Ureinwohner gegen ihre Vertreibung auch zu Massakern weißer Siedler an den Indianern geführt. Für nichtausbeuterische Unterdrücker besteht grundsätzlich wenig Anlass, sich um Einigung zu bemühen – weshalb das Ergebnis von Konflikten daher auch meist eine Frage des bloßen Kräfteverhältnisses ist, innerhalb dessen bestenfalls die moralischen Bedenken des Unterdrückers noch mildernden Einfluss nehmen. Werden die Unterdrückten aber auch ausgebeutet, gibt es ökonomische Einschränkungen für den Umgang des Unterdrückers mit den Unterdrückten, selbst wenn dieser sonst eigentlich keine moralischen Skrupel hätte.
Die durch Ausbeutung hervorgebrachten materiellen Interessen als antagonistisch zu beschreiben impliziert noch kein Urteil über die Frage nach der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der von diesen Antagonismen generierten Ungleichheiten. So kann man beispielsweise davon ausgehen, dass es moralisch gerechtfertigt ist, arme Menschen aus Ländern der Dritten Welt daran zu hindern, in die USA einzuwandern, und dennoch zur Kenntnis nehmen, dass zwischen den materiellen Interessen von US-Staatsbürgern und den ausgeschlossenen Bewohnern der Dritten Welt, die gerne kommen würden, ein objektiv antagonistisches Verhältnis besteht. Zugleich impliziert die Feststellung, dass der Konflikt von Arbeit und Kapital antagonistische materielle Interessen beinhaltet, welche in der Aneignung fremder Arbeitsleistung wurzeln, nicht unbedingt, dass kapitalistische Profite ungerecht sein müssen – sondern lediglich, dass sie in einem Kontext entstehen, der notwendig konfliktträchtig ist.
Gleichwohl wäre es auch etwas unehrlich, zu behaupten, dass die Bezeichnung „Ausbeutung“ für diese Art antagonistischer gegenseitiger Abhängigkeit von materiellen Interessen rein wissenschaftlich und technisch gewählt wäre. Die Aneignung fremder Arbeitsleistung als „Ausbeutung“ zu beschreiben, statt etwa nur von einem „Transfer“ zu sprechen, erweitert den analytischen Anspruch des Begriffs um ein scharfes moralisches Urteil. Ohne wenigstens eine vage Vorstellung hinsichtlich des moralischen Status der Aneignung wäre es zum Beispiel unmöglich, Dinge wie legitime Formen der Besteuerung und Ausbeutung auseinander zu halten. Erstere etwa beinhaltet zwar erzwungene Aneignung, und in vielen Fällen ließe sich sicherlich von einem materiellen Interessenskonflikt zwischen den Instanzen, die Steuern erheben, und dem individuellen Steuerzahler sprechen. Selbst unter fundamental demokratischen und egalitären Bedingungen würden viele Menschen es ablehnen, freiwillig Steuern zu zahlen, weil sie es vorziehen würden, ihre persönlichen materiellen Interessen zu verfolgen und von den gezahlten Steuern anderer zu profitieren. Tatsächlich sehen rechte Libertäre in Steuern eine Form der Ausbeutung, welche die Unantastbarkeit privater Eigentumsrechte verletzt und daher eine ungerechte, erzwungene Form der Aneignung darstellt. Der Ausspruch „Steuern sind Diebstahl“ ist für sie daher gleichbedeutend mit „Steuern sind Ausbeutung“. Die Feststellung, dass die kapitalistische Aneignung von Arbeitsleistungen der Arbeiter „Ausbeutung“ darstellt, impliziert also mehr als nur den Antagonismus materieller Interessen; sie impliziert auch, dass diese Aneignung ungerecht ist.
Und obwohl ich meine, dass man überzeugend für einen radikalen Egalitarismus plädieren kann, auf dessen Grundlage kapitalistische Aneignung als ungerecht behandelt werden müsste, würde es hier zu weit führen, die entsprechenden philosophischen Überlegungen auszubreiten. Was soziologische Klassenanalyse betrifft, ist der entscheidende Punkt das Begreifen der antagonistischen, wechselseitigen Abhängigkeit materieller Interessen, die kraft der Aneignung von Arbeitsleistung an Klassenverhältnisse geknüpft sind – auf eben dieser Grundlage spreche ich von „Ausbeutung“.
3. Klasse und Ausbeutung
Innerhalb der marxistischen klassenanalytischen Tradition werden Klassenspaltungen maßgeblich anhand des Zusammenhangs von Eigentumsrechten und Ausbeutung definiert. Sklavenhalter und Sklaven stellen Klassen dar, weil bestimmte Eigentumsverhältnisse (Eigentumsrechte an Menschen) Ausbeutung hervorbringen (die Aneignung der Früchte der von den Sklaven verrichteten Arbeit durch die Sklavenbesitzer). Hausbesitzer und Wohnungslose sind demgegenüber nicht als „Klassen“ zu verstehen, obwohl sie durch Eigentumsrechte im Bereich des Wohnens voneinander unterschieden werden, weil auf dieser Grundlage keine Ausbeutung von Wohnungslosen durch Hausbesitzer stattfindet.
In der kapitalistischen Gesellschaft basiert die zentrale Form von Ausbeutung auf den Eigentumsrechten an den Produktionsmitteln. Diese Rechte bringen drei Grundklassen hervor: Kapitalisten (Ausbeuter), denen die Produktionsmittel gehören und die Arbeiter einstellen, Arbeiter (Ausgebeutete), die nicht über Produktionsmittel verfügen und ihre „Arbeitskraft“ (d.h. ihr Arbeitsvermögen) an die Kapitalisten verkaufen müssen, sowie Kleinbürger (weder Ausbeuter noch Ausgebeutete), die Produktionsmittel besitzen und einsetzen, ohne andere dafür einzustellen. Der marxistische Zugang zur Frage, wie das Verhältnis von Kapital und Arbeit Ausbeutung hervorbringt, ist bekannt: Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, müssen Arbeiter, die über kein Eigentum verfügen, ihre Arbeitskraft an jene verkaufen, die Produktionsmittel besitzen. In dieser Austauschbeziehung stimmen sie zu, für eine bestimmte Zeit gegen einen Lohn zu arbeiten, von dem sie die Mittel, ihren Unterhalt zu bestreiten, kaufen können. Aufgrund der Machtbeziehung zwischen beiden können die Kapitalisten die Arbeiter dazu zwingen, mehr zu produzieren, als für diesen Unterhalt eigentlich erforderlich ist. Im Ergebnis produzieren Arbeiter daher einen Mehrwert, der dem Kapitalisten gehört und die Form von Profiten annimmt. Profite, also die Menge des Sozialprodukts, die übrig bleibt, nachdem man die Kosten für Produktion und Reproduktion aller eingesetzten Mittel (also Arbeitskraft wie auch physische Mittel) abgezogen hat, sind eine Aneignung der Früchte der von den Arbeitern verrichteten Arbeit.
Dieses Verhältnis als ausbeuterisch zu beschreiben heißt zugleich, eine Aussage über die Grundlage des Konflikts zu treffen, welcher dem Lohnarbeitsverhältnis innewohnt. Sie betrifft den entscheidenden Umstand, dass der Konflikt zwischen Kapitalisten und Arbeitern nicht bloß einer über die Höhe der Löhne ist, sondern einer über die Menge des Arbeitsaufwands, der für diese Löhne betrieben wird. Kapitalisten wollen immer, dass die Arbeiter mehr leisten als sie selbst eigentlich wollen. Wie Bowles und Gintis (1990) gezeigt haben, ist ein Arbeitseinsatz der Sorte „Wer bei der Arbeit pfeift“[6] für die Kapitalisten immer suboptimal, weshalb sie verschiedene Strategien der Überwachung und Kontrolle anwenden, um die Menge der geleisteten Arbeit zu erhöhen. Während die Intensität des offenen Konflikts, der von diesen Verhältnissen hervorgebracht wird, je nach Zeit und Ort variiert und Klassenkompromisse geschlossen werden können, bei denen ein hohes Maß an Kooperation zwischen Arbeit und Management stattfindet, bleibt der zugrunde liegende Antagonismus der materiellen Interessen nichtsdestotrotz so lange bestehen, wie die Beziehung eine ausbeuterische bleibt.
4. Zur Verallgemeinerung des Ausbeutungsbegriffs und des Begriffs der (nichtausbeuterischen) Unterdrückung
Das hier vorgeschlagene Verständnis von Ausbeutung und Unterdrückung[7] kann auch auf Bereiche außerhalb von Klassenverhältnissen erweitert werden. Von Ausbeutung kann immer dann gesprochen werden, wenn eine soziale Beziehung, die Menschen miteinander verbindet, die o.g. drei Kriterien erfüllt – umgekehrt wechselseitige Abhängigkeit von Wohlstand, Ausschluss durch Macht sowie Aneignung von Anstrengungen. Die unterschiedlichen Formen von Ausbeutung bestimmen sich durch die spezifische Form der Macht, welche den Ausschluss hervorbringt, sowie über den Inhalt der jeweils angeeigneten Anstrengungen. Jeder Form der Ausbeutung entspricht zudem eine Form nichtausbeuterischer Unterdrückung. Zwei bedeutende Arten nicht-klassenförmiger Ausbeutung und Unterdrückung beziehen sich auf Sexualität und Kultur.
Sexuelle Ausbeutung findet in sozialen Beziehungen statt, in denen der Ausbeuter sexuelle Leistungen der ausgebeuteten Person braucht. Um sich diese zu sichern, kontrolliert er den Zugang zu Sex. Im Fall der sexuellen Unterdrückung wiederum ist der Unterdrücker nicht von sexuellen Leistungen der sexuell Unterdrücktenabhängig. In einer heterosexistischen, homophoben und patriarchalen Gesellschaft ist dies ein Weg, die unterschiedlichen Formen sexueller Unterdrückung zu beschreiben, denen heterosexuelle Frauen bzw. Homosexuelle ausgesetzt sind. Die sexuelle Befriedigung der heterosexuellen Männer hängt von den sexuellen Leistungen der Frauen ab. Wenn Männer über diese Leistungen verfügen und sie sich aneignen, kann man sie als sexuelle Ausbeuter bezeichnen. Diese Ausbeutung gibt den Frauen allerdings insofern eine bestimmte Form von Macht, als ihre Kooperation für den Fortbestand der gegenseitigen Abhängigkeit heterosexueller Beziehungen erforderlich ist. Demgegenüber brauchen heterosexuelle Männer die sexuellen Leistungen von Homosexuellen nicht und eignen sich diese auch nicht an, weshalb deren Sexualität in einer homophoben Gesellschaft durch Heterosexuelle unterdrückt, aber nicht ausgebeutet wird. Würde Homosexualität einfach verschwinden, würden die sexuellen Interessen der herrschenden heterosexuellen Männer in keiner Weise beeinträchtigt.
Ebenso im Fall der kulturellen Ausbeutung, bei der der Ausbeuter die kulturelle Energie der Ausgebeuteten benötigt und sich die Produkte ihrer Kultur aneignet, während bei kultureller Unterdrückung wiederum kein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit vorliegt. Nehmen wir etwa die Situation indigener Völker in den USA. Seit Ende des 20. Jahrhunderts haben sich die weißen Amerikaner einige bedeutsame Produkte der Ureinwohner angeeignet. Das ist wohl insbesondere bei einigen Strömungen von „New Age“-Spiritualität der Fall, die verschiedene Bestandteile spiritueller Praktiken der Ureinwohner in sich aufgenommen haben, drückt sich aber ebenso im steigenden kommerziellen Wert der Artefakte von Ureinwohnern aus. Und während diese Formen kultureller Ausbeutung die kulturelle Autonomie der Ureinwohner-Communities untergraben, stellen sie in gewisser Weise auch den Fortbestand traditioneller kultureller Praktiken sicher. Stellen wir dem einmal das Verhältnis weißer Amerikaner zu indigenen Völkern im 19. und weiten Teilen des 20. Jahrhunderts gegenüber: In der früheren Periode war das zentrale Anliegen der US-Regierung die Ausrottung indigener Kultur, nicht die Förderung ihrer Ausbeutung. Kinder etwa wurden zum Besuch von Schulen gezwungen, in denen das Sprechen ihrer indigenen Muttersprache untersagt war. Religion, Bräuche und Kunst der Indigenen wurden systematisch unterdrückt. Das Ziel war entweder die Verbannung in abgelegene und isolierte Reservate mit minimalem Kontakt zur Restbevölkerung oder die vollständige Assimilation. Sie wurden kulturell unterdrückt, aber nicht kulturell ausgebeutet.
Innerhalb der gegenwärtigen Soziologie ist der Begriff der Ausbeutung heute weitgehend marginalisiert. Über Ungleichheit, Herrschaft, Marginalisierung und Prekarität wird viel diskutiert, über Ausbeutung jedoch fast kaum. Und zweifelsohne sind dies alles wichtige Gegenstände – jene spezifische Form wechselseitiger Abhängigkeit, auf die der Ausbeutungsbegriff zielt, bezeichnet jedoch keine von ihnen. Herrschaft und Ungleichheit sind zwar eng mit Ausbeutung verbunden, erfassen jedoch nicht die Abhängigkeit des Herrschenden von der Leistung der Beherrschten. Das jedoch ist der Kern der Ausbeutung und zugleich wichtig, um Formen des Widerstands gegen Herrschaft verstehen zu können – unabhängig davon, ob die Herrschaft sich auf Klasse, Geschlecht oder Kultur bezieht.
Übersetzung: John Lütten
Literatur
Al Capp, The Short Life and Happy Times of the Shmoo (New York: The Overlook Press, 2002), pp. 23-29
G.A. Cohen, „The Labor Theory of Value and the concept of Exploitation”, chapter 11 in G.A. Cohen, History, Labour and Freedom (Oxford University Press: 1988) pp. 209-238
Erik Olin Wright, Class Counts (Cambridge University Press: 1997)
Samuel Bowles and Herbert Gintis, „Contested Exchange: New Microfoundations for the Political Economy of Capitalism,” Politics & Society, 18, 2: 165-222
[1] Teile des Textes sind dem 1. Kapitel von E. O. Wright, Class Counts (Cambridge University Press, 1997) entnommen.
[2] Für Max Weber ist die Kategorie der „Lebenschance“ ein Ausgangspunkt seines Klassenbegriffs. Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, zweiter Halbband, Tübingen 1956 S. 679, (Anm. d. Red.)
[3] Diese Präferenzordnung geht davon aus, dass der Shmoo lediglich Grundbedürfnisse befriedigt. Für eine Diskussion dieser Fragen unter Bedingungen einer wandelbaren Großzügigkeit der Shmoos siehe Wright 1997: 5–7.
[4] Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, 1975 (Anm. d. Red.).
[5] „Der Ausdruck ‚Aneignung von Früchten der Arbeit’ bezieht sich auf die Aneignung dessen, was durch Arbeit produziert wird. Das bedeutet nicht, dass der Wert dieser Produkte ausschließlich durch die verrichtete Arbeit bestimmt wird, wie die Arbeitswerttheorie es annimmt. Es heißt hier lediglich, dass ein Mehrprodukt angeeignet wird – also ein Mehrprodukt, das größer ist als die Kosten zur Reproduktion aller eingesetzten Mittel – und dass dieses Mehrprodukt der geleisteten Arbeit entspringt, nicht aber, dass das Maß dieses Mehrprodukts notwendig die Arbeitszeit ist. Zur Diskussion über diesen Zugang zur Frage nach der Aneignung von Früchten der Arbeit siehe Cohen (1988: 209–238). Zur Diskussion des Begriffs des Mehrprodukts, insofern es auf Ausbeutung im hier verstandenen Sinne beruht, siehe Wright (1997: 14–17).“
[6] Gemeint ist das gleichnamige Lied aus dem Trickfilm Schneewittchen und die sieben Zwerge (Anm. d. Übers.).
[7] Zwecks Abkürzung spreche ich im Folgenden von „Unterdrückung“, wenn „nichtausbeuterische Unterdrückung“ gemeint ist.