Zyklische Erneuerung oder Endkrise des historischen Kapitalismus?

Zur Rolle Chinas im Weltsystem

von Andrea Komlosy
März 2012

Die Turbulenzen, die die Welt am Beginn des dritten Jahrtausends erfassen, stellen BeobachterInnen vor große Herausforderungen. Hier soll geprüft werden, ob die Weltsystemtheorie, die seit den 1970er Jahren als Modell zur Erklärung globaler Ungleichheit in historischer Perspektive entwickelt wurde, weiterhin ein brauchbares Instrument zur Analyse von Entwicklungstendenzen, räumlichen Schwerpunktverlagerungen, Auf- und Abstiegsprozessen im kapitalistischen Weltsystem darstellt.

Immanuel Wallerstein[1] und Andre Gunder Frank[2], zwei der zentralen Debattenführer, die in den 1990er Jahren eine heftige Kontroverse über die regionale Perspektive, die zeitliche Einordnung und das mögliche Ende des globalen Kapitalismus begonnen haben, kamen dabei zu höchst konträren Einschätzungen. Sie führten diese Debatte bis zu Franks Tod im April 2005 als langjährige Kollegen und Freunde, die grundsätzliche Annahmen über die Funktionsmechanismen der Kapitalakkumulation teilen. Während Wallerstein die gegenwärtige Krise als Ende des historischen Kapitalismus und Ausdruck des Übergangs zu einer postkapitalistischen Gesellschaftsformation deutet (Wallerstein 2002), betrachtet Frank sie als eine Phase zyklischer Erneuerung, die mit der Verschiebung des Zentrums nach Asien, insbesondere nach China als dem zukünftigen Hegemon des kapitalistischen Weltsystems verbunden ist (Frank 2005). Wallerstein und Frank begannen diese Debatte, an der sich ein großer Kreis von KollegInnen aus dem Umfeld der Weltsystemtheoretiker beteiligte, lange bevor die aktuelle Weltwirtschaftskrise mit dem Zusammenbruch des hypothekengestützten Konsummodells in den USA 2008 ihren Anfang nahm. Ihre Kontroverse bezog sich in erster Linie auf die historische Konstruktion des Weltsystems, die im Folgenden knapp skizziert wird. Daraus resultierten jedoch auch unterschiedliche Prognosen zur zukünftigen Entwicklung.

Europäisches oder asiatisches Weltsystem?

Die Wallersteinsche Weltsystem-Perspektive, die lange Zeit auch von Frank mitgetragen wurde, nimmt Europa zum Ausgangspunkt der Betrachtung. Die Inkorporierung peripherer Regionen in eine von den europäischen Zentren beherrschte Arbeitsteilung war die Antwort auf die Krise des Feudalismus; der Kapitalismus war von Anbeginn an ein globaler, auch wenn im 16. Jahrhundert lediglich Nordosteuropa und die Amerikas zum „Europäischen Weltsystem“ gehörten, dessen Zentren sich damals vom Mittelmeer an den Atlantik verschoben. Alle anderen Teile der Welt wurden als „Außenarenen“ betrachtet, die nicht der nordwesteuropäischen Dominanz unterlagen: sie werden so lange als eigene Weltwirtschaften oder Weltsysteme angesehen, bis auch sie in die „Europäische Weltwirtschaft“ inkorporiert wurden. Dieser Prozess war im 19. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen.

Frank kritisierte diese Weltsystem-Perspektive seit den 1990er Jahren mit zunehmendem Nachdruck als eurozentrisch und stellte ihr in zweifacher Hinsicht eine asiatische Perspektive entgegen. Erstens setzte er in der Zeit, als Wallerstein (und früher auch er selbst) die Herausbildung des Weltsystems als Instrument der nordwesteuropäischen Führung postulierten, die asiatischen Reiche, insbesondere China, ins Zentrum eines schon im 15. Jahrhundert weltumspannenden Systems. China nahm darin aufgrund seiner effizienten staatlichen Verwaltung, seiner führenden Stellung in der Forschung, der Kultur und der materiellen Produktion das Zentrum ein; Nordwesteuropa wird demgegenüber als untergeordnet eingeschätzt: Um Importe aus China tätigen zu können, setzten europäische Händler das aus der kolonialen Eroberung der Amerikas gewonnene Silber als Tauschmittel ein. So kam China an die für die Kommodifizierung seiner Wirtschaft begehrten Silberbestände heran, während chinesische Fertigwaren mithilfe der europäischen Handelskompagnien in Europa, in Westafrika und in den Amerikas vertrieben wurden. Seinen Niedergang erlebte China erst im 19. Jahrhundert, als die europäischen Großmächte unter britischer Führung die inneren Schwächen und Widersprüche des chinesischen Systems ausnützen konnten, um China ihrer Kontrolle zu unterwerfen und selbst zum Hegemon des Weltsystems aufzusteigen (Frank 1998). An der dritten Jahrtausendwende zeichnete sich, laut Frank, die Rückkehr der Hegemonie nach China ab.

Frank hat nicht nur den Blickpunkt, sondern auch die zeitliche Perspektive für den Beginn eines Weltsystems in Frage gestellt. Anstelle der europäischen Expansion seit dem 15./16. Jahrhundert behauptete er, ein von globaler Interaktion, Kapitalakkumulation und dem Transfer von Mehrprodukt zusammen gehaltenes, globale Ungleichheit hervorbringendes Weltsystem könne seit dem Neolithikum beobachtet werden (Frank/Gills 1993). Er verabschiedete sich damit von Bestimmungsmerkmalen des Kapitalismus, wie sie aus der europäischen Geschichte gewonnen wurden, und ersetzte sie durch Akkumulationsprozesse und zwischenregionale Transfers, die auf vielerlei Produktions- und Aneignungsformen beruhten. Das erste Epizentrum der globalen Weltwirtschaft verorten Frank und die Sozialwissenschaftler und Archäologen, mit denen er das Modell von 5000 Jahren Weltsystem entwickelte, in Zentralasien, das als Brücke zwischen Ost-, Süd- und Westasien mit Europa diente – mit wechselnden Schwerpunkten regionaler Hegemonie (Frank 1992, 1993; Frank/Gills 1993; vgl. auch Denemark u.a. 2000).

„Lange Wellen“ als Leitplanken von Auf- und Abstieg

Sowohl für Wallerstein als auch für Frank spielen „lange Wellen“, wie sie von Nikolai Kondratieff, Joseph Schumpeter, Ernest Mandel u.a. als Auf- und Abschwungphasen (A- und B-Phasen) der Konjunktur (vgl. Van Duijn 1993) und von zahlreichen Autoren als Hegemonialzyklen (vgl. Bornschier 1990; Taylor 1996) beobachtet wurden, eine zentrale Stütze ihrer Argumentation. Konjunktur- und Hegemonialzyklen beziehen sich auf die Bewegungsgesetze im Rahmen des kapitalistischen Systems. Kondratieff und Schumpeter verbanden das Auftreten von Konjunkturzyklen mit dem Beginn des industriellen Kapitalismus an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Für Wallerstein, der das „lange“ 16. Jahrhundert als Beginn für die Herausbildung des kapitalistischen Weltsystems annimmt, spielten die Wellen vor allem in Hinblick auf die Hegemonialzyklen eine zentrale Rolle: die Hegemonialmacht ging von Südeuropa, von wo die europäische Expansion im 15. und 16. Jahrhundert ihren Ausgang nahm, mit der Verschiebung der Zentren nach Nordwesteuropa im 17. Jahrhundert auf die Niederlande über. Im 19. Jahrhundert gelangte sie nach einer langen Phase der Auseinandersetzung zwischen den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien an Großbritannien, im 20. Jahrhundert nach einer langen Phase der Auseinandersetzung zwischen Großbritannien, Deutschland und den USA an die USA. Eingebettet in die Hegemonialzyklen führen die Bewegungsgesetze der Kapitalakkumulation zu rund 25 Jahre dauernden Phasen des konjunkturellen Aufschwungs, verbunden mit – von bestimmten Leitsektoren getragener – Innovation und Expansion, die – sobald sich diese abschwächt und an Grenzen der Erneuerung und Nachfrage stößt – in eine Krise mündet, die eine ebenfalls rund 25 Jahre dauernde Phase des Abschwungs einleitet. Im Abschwung erlebt die Wirtschaft nicht nur Kontraktion, sondern es bilden sich bereits die technologischen und sektoralen Lokomotiven heraus, die die nächste Phase des Aufschwungs tragen werden. Peripherien kommt in dieser Phase die Rolle der Krisenüberwindung als Rohstofflieferant, kostengünstiger Produktionsstandort und Absatzmarkt zu, sodass ihre verstärkte Erschließung, Beherrschung und Integration die Zentren stabilisiert. Unter Umständen kann die Inwertsetzung der Peripherien aber auch Chancen für deren nachholende Entwicklung eröffnen. Gleichzeitig begünstigt die Krise die Herausbildung von neuen Anwärtern auf eine globale Führungsrolle.

Auch für Frank bildeten die „langen Wellen“ der Konjunktur und der Hegemonie das Rückgrat der Interpretation von Kräfteverschiebungen im globalen Kapitalismus. In dem Maße, wie Frank Kapitalakkumulation weit vor dem Beginn der Neuzeit hinaus für wirksam ansah, erweiterte er die „langen Wellen“ als Analyseraster bis zu jenem Zeitpunkt, der für ihn den Beginn des Weltsystems darstellte: die neolithische Revolution um 4000-3000 v.u.Z. mit ihren Zentren in Zentral- und Westasien. Er ging nicht so weit, diese frühen Hochkulturen, die er als integrative Bestandteile eines die gesamte „alte“ Welt umfassenden Weltsystems ansah, als kapitalistisch zu bezeichnen; indem er Kapitalakkumulation und das Bestreben zur Aneignung von Mehrprodukt aus fremden Kulturen als Triebkraft und Grundlage der Herrschaftsausübung ansah, war diese zeitliche Ausweitung des Systembegriffs eine zeitliche Erweiterung dessen, was Wallerstein (1984) – und bisher auch Frank selbst – als „historischen Kapitalismus“ angesehen hatten. Konjunkturzyklen lassen sich in dieser Phase des Weltsystems nur an sehr vagen und unvollständigen Merkmalen festmachen, sodass sich die Debatte aus den historischen Sozialwissenschaften, die Franks Horizonterweiterung weitgehend skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen, in die Archäologie und Altertumsforschung verlegte, wo sie wichtige wenn auch kontroverse Impulse auslöste (Frank 1993).

Andre Gunder Frank: Kapitalakkumulation ohne Ende

Aus einer gegenwartsbezogenen Perspektive, könnte man meinen, müssten Datierung und Bezeichnung der prähistorischen Zyklen keine entscheidende Rolle spielen. Der historische Charakter würde es in jedem Fall erlauben, trotz Meinungsunterschieden über den Beginn ein Ende des Systems in Betracht zu ziehen. Indem Frank stets als harter und kompromissloser Kritiker der Kapitalakkumulation auftrat, war ihm die Vision einer sozial gerechten, jenseits von Verwertungszwängen liegenden Gesellschaft nicht unbekannt. Als Wissenschaftler verbannte er solche Wunschvorstellungen jedoch aus seiner Analyse. Er sah zu seinen Lebzeiten keinerlei Anzeichen für ein Ende der zyklischen Erneuerungsfähigkeit durch Inwertsetzung neuer Regionen sowie die Erschließung neuer Bedürfnisse für die Kapitalakkumulation. Der Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie war für ihn unübersehbar; als Nachfolger, der mit seinem Aufstieg an die Führungskonstellation von vor 1800 anknüpfte, machte Frank China aus. China war um die dritte Jahrtausendwende nicht nur im Begriff, die Rolle der verlängerten Werkbank, die ihm durch die Kontraktfertigung zu Billiglöhnen für multinationale Konzerne im Rahmen globaler Güterketten seit den 1980er Jahren zugekommen war, in den Aufbau eigenständiger Industrien sowie von Forschungs- und Entwicklungskapazitäten zu verwandeln, sondern es befand sich seiner Ansicht nach auf dem Weg, die Hegemonie im kapitalistischen Weltsystem von den USA zu übernehmen.

Franks Abstinenz von Wunschgedanken hatte schon bei früheren Gelegenheiten seine Prognosefähigkeit geschärft. Er hatte klar erkannt, in welchem Ausmaß die Sowjetunion seit den 1970er Jahren mit der Weltwirtschaft verflochten war und schenkte weder den Beteuerungen ihrer Führer noch denen ihrer westlichen Gegenspieler Glauben, es handle sich beim Ostblock um ein sozialistisches Weltsystem (Frank 1977). Die „Öffnung“ des Ostblocks und dessen periphere Integration in eine europäische Union war für ihn daher eine vorhersehbare Entwicklung, die er – aufgrund des dadurch entstehenden Gegengewichts zu den USA – bereits propagierte, als die politische Macht des realen Sozialismus noch unangefochten schien (Frank 1983). Das Potenzial zur Ablösung der USA als Hegemonialmacht verortete Frank jedoch in der Volksrepublik China, die im Gegensatz zur Sowjetunion in der Lage gewesen war, die unter protektionistischen Vorzeichen in Angriff genommene nachholende Entwicklung an die Globalisierungserfordernisse der 1980/1990er Jahre anzupassen und mit seinen Exportüberschüssen eine strategische Macht über die Stabilität des Dollar und die US-Handels- und Haushaltsbilanz zu erringen (Frank 1997, 2005a).

Frank nahm die wachsende Bedeutung Chinas ohne jede Besorgnis, aber auch ohne jede Euphorie, es handle sich um eine Schwächung des Kapitalismus, zur Kenntnis. Während er A-und B-Zyklen mit großer Akribie in frühere Jahrhunderte zurück verfolgte, schenkte er der Frage der Kondratieff-Zyklen seit den 1990er Jahren keine besondere Aufmerksamkeit mehr. Frank und Wallerstein hatten in der Folge der großen Weltwirtschaftskrise von 1973/74 gemeinsam mit Samir Amin und Giovanni Arrighi das Ende des Nachkriegs-A-Zyklus als Beginn für eine neue Akkumulationsphase angenommen, die mit dem Abschwung auch die fieberhafte Suche nach neuen Profitquellen in Gang setzte (Amin u.a. 1986). Ebenso wie Volker Fröbel, Otto Kreye und Jürgen Heinrichs (1977), die den Begriff der Neuen Internationalen Arbeitsteilung prägten, teilten sie die Ansicht, dass die Einführung neuer, digitaler Technologien, die Verlagerung der industriellen Massenproduktion in Newly Industrializing Countries (NICs) sowie die weitere Kommodifizierung und Erschließung neuer Absatzmärkte in der Lage wären, die durch die Krise hervorgerufene Profitklemme zu überwinden. Dies gelang, allerdings um den Preis von Folgekrisen in der B-Phase, die einerseits aus der De-Industrialisierung der alten Industrieregionen im Westen resultierten, andererseits ihren Ausdruck in der Schuldenkrise fanden, in die der Anstieg der Dollarzinsen in den 1980er Jahren die NICs in Osteuropa und in der Dritten Welt getrieben hatte. Die Dollarzinsen musste die US-Notenbank damals (1979/80) anheben, um mit den dadurch „angesaugten“ Devisen die hohe Verschuldung der USA auszugleichen – ein Verfahren, das ihr im Gegensatz zu allen anderen Regierungen auch nach der Aufgabe der Goldbindung aufgrund der Rolle des Dollar als internationaler Leitwährung möglich war und sie trotz großer Strukturprobleme als Hegemon klassifizierte.

Das Ansaugen von Dollarguthaben über Anleihenausgabe und Zinsrückflüsse kann nachträglich als Anfang vom Niedergang der US-Hegemonie betrachtet werden. Denn es verhinderte die Restrukturierung der US-Industrie und brachte China in die Lage, mit den Erlösen aus seinen Fertigwaren-Exportüberschüssen auf US-Märkten zu einem immer wichtigeren Gläubiger der USA aufzusteigen. Frank stellte diese Argumentation seit den 1990er Jahren in den Vordergrund seiner Erzählung vom Aufstieg Chinas, den er aufgrund der historischen Zentralität Chinas im Weltsystem (vor 1800) als Wiederaufstieg bezeichnete. Ihm war bewusst, dass China mit seinen Exporterlösen in erster Linie die USA in die Lage versetzte, ihre Führungsmacht weiterhin wahrzunehmen, sodass von einer Ablösung der Hegemonialmacht keine Rede sein konnte. Ging er davon aus, dass dies eine Stabilisierung im Abschwung (B-Phase) war, oder begriff er die amerikanisch-chinesische Symbiose als Möglichkeit, die den USA einen weiteren Aufschwung auf der Welle eines erneuten Kondratieff A erlaubte? Frank enthielt sich meines Wissens nach in dieser Frage einer dezidierten Stellungnahme.

Fügt man seine Beiträge zusammen, müsste man konsequenter Weise folgern, dass in den 1990er Jahren eine neue Kondratieff A-Phase ansetzte. Der neue Zyklus war von Regionalblockbildungen begleitet, mit denen die führenden Zentren der Weltwirtschaft ihre Nachbarn und Hinterländer als Bezugs-, Fertigungs- und Absatzmärkte an sich banden und diese mit supranationalen Verträgen auf das von ihnen vorgegebene neoliberale Regelsystem festlegten: Dies erhöhte das Handelsvolumen, kanalisierte es aber gleichzeitig innerhalb der regionalen Binnenmärkte (NAFTA, EU). Eine vergleichbare Institutionalisierung der regionalen Integration unter Führung Japans, das damals die stärkste Wirtschaftsmacht in Ostasien war, kam aufgrund der engen Bindung an die USA nicht zustande (vgl. Dietrich 1998). Die Leitsektoren des Zyklus waren Kommunikations- und Biotechnologien. Wesentliche Bedingung für den Erfolg des Aufschwungs waren der Systemwechsel in Osteuropa sowie Reform und Öffnung in der VR China, durch die westliche Unternehmen Zugriff auf geschulte und kostengünstige Arbeitskräfte, auf Unternehmen sowie Märkte erhielten, mit denen sie Profitklemme und Überproduktionskrise im Westen – zumindest für kurze Zeit – überwinden konnten. Frank, der eine Zeitlang auf eine mit einer reformierten Sowjetunion vereinte europäische Union als neuen Hegemon gesetzt hatte, musste erkennen, dass der Prozess der Beitrittsverhandlungen – die erste Runde der Osterweiterung fand erst kurz vor seinem Tod statt – zwar die Peripherisierung Osteuropas beförderte, allerdings ohne die Europäische Union in die Lage zu versetzen, die USA als Hegemon zu beerben (Frank 1994, 2005b). Dies hätte eine Allianz auf gleicher Augenhöhe mit der Sowjetunion erfordert, was nach deren Auflösung im Interesse von Bürokraten, Oligarchen und ausländischen Konzernen unter Präsident Boris Jelzin nicht mehr zur Debatte stand. China hingegen brach nicht mit den Strukturen seiner kommunistischen Vergangenheit, sondern setzte in seiner Öffnung gegenüber dem Weltmarkt auf Wandel und Kontinuität. Franks Hoffnungen auf eine Ablösung der US-Hegemonie verbanden sich untrennbar mit der chinesischen Erneuerung.

Immanuel Wallerstein: Ende des historischen Kapitalismus in Sicht

Auch Wallerstein strapazierte das Modell der „langen Wellen der Konjunktur“ seit den 1990er Jahren kaum noch. Es ist ungewiss, ob er die – relativ kurze – Periode von 1990 bis zur Krise 2008 als eine A-Phase einschätzte, nach Kondratieffscher Zählung die fünfte. Die Schwerpunktverschiebung des Wachstums in den globalen Süden und insbesondere nach China ist ihm bewusst, aber er enthielt sich der Spekulationen um den Aufstieg eines neuen Hegemon. Dies erklärt sich aus seiner grundsätzlichen Überzeugung, der globale Kapitalismus, der sich 500 Jahre lang durch beständige Erneuerung nach Krisen ausgezeichnet hatte, habe diese seine Erneuerungsfähigkeit verloren. Wallersteins Augenmerk liegt daher nicht auf der Suche nach neuen Wachstumslokomotiven und Anwärtern auf die Hegemonie einer erneuten Expansionsphase, sondern in der Analyse von Zusammenbruchsmustern und der Basis für eine postkapitalistische Alternative. Für ihn steht seit den 1990er Jahren weder ein neuer Kondratieff noch ein neuer Hegemon zur Debatte.

Bereits in „Die Sozialwissenschaften kaputt denken“ (1995) wies Wallerstein mit Nachdruck auf die Tatsache hin, dass zunehmende Inwertsetzung der globalen Peripherien, Kommodifizierung, Proletarisierung und Urbanisierung jene Regionen, Menschen und Natur ihrer Ressourcen beraube, die für die zyklische Erneuerung der Kapitalakkumulation erforderlich seien. Er zeigte auch in seinen politischen Kommentaren offene Sympathien mit sozialen Bewegungen, deren Forderungen nach angemessenen Löhnen und sozialer Absicherung Staaten und Kapitalisten gleichermaßen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit trieben – bis das System endlich kippe. Da Wallerstein stets auf den historischen Charakter des Systems hingewiesen hatte, war dies im Grunde nicht überraschend. Die längste Zeit jedoch hatte er soziale Bewegungen, Aufstände und Revolutionen als Ausdruck von Auf- und Abstiegskonflikten um Hegemonie bzw. nachholende Entwicklung eingeschätzt und auf ihren systemimmanenten Charakter hingewiesen, sodass die Hypothese vom nahenden Ende doch überraschte. Viele Weggenossen aus den Wissenschaften nahmen sie nicht ernst, neue soziale Bewegungen hingegen hoben Wallerstein aufs Podest.

Wallerstein folgte in vieler Hinsicht Rosa Luxemburg, die in ihren Schriften „Zur Akkumulation des Kapitals“ (1912/1985) darauf hingewiesen hatte, dass die Zerstörung der nicht-kapitalistischen Grundlagen der Akkumulation durch koloniale Expansion und imperialistische Inwertsetzung das baldige Ende des Kapitalismus bedeuten müsse.[3] Luxemburgs Prognose traf nicht zu. Wallerstein und andere korrigierten sie, indem sie auf die Fähigkeit zur zyklischen Erneuerung der Regenerierungsquellen für die Kapitalakkumulation hinwiesen, wobei sich die „ursprüngliche“ in eine „permanente“ primäre Akkumulation verwandeln würde.

Wir alle sind ZeitzeugInnen für die gewaltigen Potenziale von Bedürfniserzeugung und Bedürfnisbefriedigung in der Konsumgesellschaft. Wieso soll es damit nun ein Ende haben? Wallerstein führt die Grenzen der Erneuerbarkeit in seinem Buch „Utopistik“ auf die Profitkrise, die Legitimitätskrise und die Akkumulationskrise zurück. Das exponentielle Ansteigen der weltweiten Ausgaben für Löhne, Materialkosten, Umweltschutz und soziale Sicherheit würde die zukünftigen Möglichkeiten, Profite zu machen, erheblich einschränken. Die Profitkrise sei von der Erschütterung des Glaubens an den Staat begleitet und bewirke gleichzeitig die Abkehr systemfeindlicher Bewegungen von der Erringung der Staatsmacht als politisches Ziel. Mit dem Legitimitätsverlust des Staates sieht Wallerstein auch die Grundfesten der Kapitalakkumulation ins Wanken geraten, denn diese beruhe schließlich darauf, Gewinne zu privatisieren und Kosten zu sozialisieren. Wallerstein ist überzeugt, dass diese systemimmanenten Widersprüche derzeit an einem Punkt angelangt sind, an dem die Grenzen des Systems erreicht und zyklische Erneuerung nicht mehr möglich ist. Die Subsistenzpotentiale, die Ressourcen und die Belastbarkeit der Natur seien am Ende. Wir befänden uns somit in einer Endkrise des Kapitalismus, die 20, 30, 40 Jahre dauern kann. Gleichzeitig mit der Systemkrise sind Bestrebungen zu beobachten, die Systemkrise wie bisher als Strukturkrise aufzufassen und durch zyklische Erneuerung zu überwinden – was regionales Wachstum und branchenspezifische Höhenflüge ebenso bewirken kann wie Bankrott und Zusammenbruch in anderen Regionen.

Anstelle der zyklischen Erneuerungsmechanismen beruft sich Wallerstein für sein Krisenszenario auf ein Modell aus der Chaos-Theorie, das er aus dem Bereich der Naturwissenschaften auf die soziale Welt überträgt (Wallerstein 2002: 111). Es beruht auf der Erkenntnis, dass Bewegungen, die lange Zeit bestimmten Gesetzmäßigkeiten gehorchten, aus dem Gleichgewicht geraten. Wann eine solche Weichenstellung – ein Verzweigungspunkt – eintritt, ist ebenso wenig vorhersehbar wie der Verlauf der weiteren Entwicklung. Sein Argument für die Endkrise ist nicht der gesetzmäßige Widerspruch, sondern das daraus resultierende Chaos. Wenn das System aus seinem Gleichgewicht gerät, entsteht Raum für etwas ganz Neues. Während im Normalzustand die systemimmanenten Funktionsmechanismen sozialen Widerstand abprallen lassen oder integrieren, bekommt politisches Handeln nun Bedeutung.

Vor dem Hintergrund einer solchen Grundannahme, die – trotz der Betonung der Offenheit der Entwicklung – an apokalyptische Szenarien und endzeitliche Heilserwartungen erinnert, sank Wallersteins Interesse, Erneuerungspotenziale zu identifizieren. Die Chancen, die der Systemwechsel in Osteuropa und die Öffnung der VR China zur Stabilisierung des globalen Kapitalismus beinhalteten, wurden so möglicherweise unterschätzt. Auch das Kommodifizierungspotenzial der Kommunikation und der Biotechnologien, aus denen sich der Aufschwung der 1990er Jahre in den Zentren speiste, während die industrielle Fertigung in die Peripherien ausgelagert wurde und deren Aspirationen auf nachholende Entwicklung beflügelte, kommt bei Wallerstein möglicher Weise zu kurz.

Umgekehrt erlaubt die Hypothese von der systemischen Krise freilich, jede Maßnahme der systemimmanenten Krisenüberwindung vor dem Hintergrund der Endlichkeit des Erneuerungsrahmens zu sehen. Jedes Outsourcing verlagert das Problem der Profitklemme bloß an einen anderen Ort; jede erfolgreiche nachholende Entwicklung verknappt die Ressourcen, verschärft die Staatenkonkurrenz und mit der Erosion staatlicher Politik kommen Kräfte an die Macht, die zur Selbsthilfe greifen. Eine Reihe von Entwicklungen werden mithilfe des Zuspitzungsszenarios besser verständlich. Zahlreiche soziale Bewegungen radikalisieren sich zu Identitäts- und religiösen Erneuerungsbewegungen und sind in herkömmliche Partei- und Machtpolitik nicht mehr zu integrieren. Die Verselbstständigung der Finanzmarktspekulation erzeugt eine Dynamik, für die rationale Interessensabwägungen keine ausreichende Erklärung bieten.

Was von herrschender Seite oder von Reformkräften zur Stabilisierung in Angriff genommen wird, gerät leicht aus dem Ruder. „Sparen“ ist ein Wachstumskiller. Bestellte oder aus dem Ruder gelaufene Kontrakräfte blockieren demokratische Abläufe, versetzen Herrschende ebenso wie die Bevölkerung in Angst: Sicherheits- und Antiterrormaßnahmen verkehren sich in neuen Schrecken. Supranationale Blockbildungen, die die Schwäche der Staaten kompensieren sollten, rufen Spannungen zwischen den Blöcken hervor. Ungleichgewichte innerhalb der Regionalblöcke kulminieren zu unüberwindlichen Hindernissen der Integration; soziale Proteste gegen die Polarisierung rufen militärische Eingreiftruppen auf den Plan, Technokratenregierungen hebeln die Institutionen der bürgerlichen Demokratie aus. Gründe genug, um die Hypothese vom Chaos und der Übergangszeit, die lange vor der Weltwirtschaftskrise 2008 aufgestellt wurde, als Erklärungshilfe ernst zu nehmen.

Abwägung und Bilanz am chinesischen Beispiel

China nimmt in der Debatte über eine mögliche Stabilisierung und Erneuerung der Weltwirtschaft eine zentrale Rolle ein. Weniger eindeutig ist, worin die Rolle Chinas genau besteht. Können wir China als eine Erneuerungsquelle für die USA, aber auch für andere westliche Staaten begreifen, um Zentrumsrolle, Führungsmacht und Hegemonie weiterhin ausüben zu können? Inwieweit erlaubt die Integration in die globalen Güterketten China, dem Ziel nachholender Entwicklung näher zu kommen, also von einer Peripherie zu einem ökonomischen Zentrum aufzusteigen? Kann und wird dieser Aufstieg in absehbarer Zukunft dazu führen, dass China selbst eine hegemoniale Rolle im kapitalistischen Weltsystem einnimmt? Worauf würde diese Hegemonie gründen?

Eine Hegemonialmacht zeichnet sich dadurch aus, dass sie gleichzeitig die wirtschaftliche und die militärische Führung innehat, die Leitwährung besitzt, mit der sie den Finanzsektor dominiert, über ein kulturelles Modell verfügt, das weltweite Ausstrahlungskraft hat. Zur Hegemonie gehört weiter, dass es zu dieser überlegenen Rolle keine realistische Alternative gibt und sie daher von Verbündeten anerkannt und von Gegnern respektiert wird. So streng genommen, gab es in der Geschichte wenn überhaupt nur kurze Phasen der Hegemonie (Niederlande 1600-1650, Großbritannien 1820-1870), USA 1945-1970)[4]. Davor und danach war Hegemonie auf bestimmte Bereiche beschränkt. Die Mächte mussten ihre Führungsrolle mit absteigenden bzw. aufsteigenden Konkurrenten teilen. Kurze unipolare waren von langen multipolaren Phasen unterbrochen, in denen Kämpfe um zukünftige Hegemonien ausgefochten wurden.

Ihren uneingeschränkten Höhepunkt erlebten die USA als Hegemonialmacht, als am Ende des Zweiten Weltkriegs das NS-Regime besiegt, die Anti-Hitler-Koalition mit der Sowjetunion noch aufrecht, Großbritannien die Überlegenheit der USA und ihre führende Rolle im Wiederaufbau anerkannt hatte, die antikolonialen Bewegungen auf die USA setzten, der Dollar als Leitwährung und Währungsanker etabliert und der „American way of life“ vielerorts unbestrittenes Lebensideal war. Mit der Konsolidierung des sowjetischen Blocks, der chinesischen Revolution und der Bewegung der Blockfreien entzog sich ein wachsender Teil der Welt dem direkten Einfluss der USA. Als sich das Einzugsgebiet 1990 wieder erweiterte, war die industrielle und die finanzielle Grundlage der Hegemonie erodiert und mit Westeuropa und Japan waren ernst zu nehmende wirtschaftliche Konkurrenten erstanden. Da Russland durch die Bereicherungsfeldzüge der alten Eliten und die Desintegration der Sowjetunion eine existenzielle Krise erlebte, hatte das Land als Global player ausgespielt.

China war zu diesem Zeitpunkt ein Entwicklungsland. Die Führung hatte aus dem sowjetischen bzw. russischen Beispiel gelernt und das zentrale Kommando nicht aus der Hand gegeben; gleichzeitig eröffnete sie mit der Entscheidung für die planwirtschaftliche Einführung der Marktwirtschaft, gelenkte Weltmarktöffnung und Exportorientierung einen Entwicklungsweg, mit dem die Spielräume der Neuen Internationalen Arbeitsteilung im Interesse der nachholenden Entwicklung im Land ausgenützt werden sollten. Den Preis dafür bezahlten die in die Weltmarktfabriken mobilisierten ArbeitsmigrantInnen aus dem Landesinneren durch ein unglaubliches Ausmaß an Rechtlosigkeit und sozialer Unsicherheit, die Chinas Erfolg als industriellem Fertigungsstandort ermöglichten. Als Anreiz diente die Hoffnung, der dörflichen Enge und den familiären Zwängen zu entkommen, die sich allerdings in vielen Fällen nicht erfüllen sollte.

Alles deutet darauf hin, dass der Haushalt, die Leistungsbilanz, die Währung und damit die hegemoniale Stellung der USA ohne die Symbiose mit China als verlängerter Werkbank sowie Halter von US-Staatsanleihen schon längst das Ende der US-Hegemonie eingeleitet hätten. Die US-Hegemonie wurde brüchig. Sie wurde auch von EU-europäischer Seite sowie von Japan in Frage gestellt. Allerdings beschränkte sich die Multipolarität auf die wirtschaftliche Seite. In militärischer Hinsicht blieben die USA unbestrittene Führungsmacht. Ein Hegemon, der seiner Stellung nicht mehr sicher ist, muss alles tun, um seine Unersetzlichkeit unter Beweis zu stellen. Die Militarisierung der Einflusssicherung ist eine fast zwangsläufige Konsequenz. Europäische Verbündete wurden dabei verstärkt zur finanziellen und personellen Mitwirkung bei militärischen Operationen gedrängt, was nicht ohne Widerspruch blieb. Die Ost-Erweiterung der NATO trug allerdings maßgeblich zur Disziplinierung der Bündnispartner im Interesse der USA bei. Gleichzeitig wurden Einflusssphären und strategische Positionen gegenüber Ansprüchen nationaler und regionaler Integrationsprojekte durch Militärinterventionen (Bosnien, Jugoslawien, Irak, Afghanistan) und Protektoratsbildungen (Bosnien, Kosovo, Irak, Afghanistan) abgesichert.

Obwohl China und die USA im Pazifik und in Hinblick auf die chinesische Grenz- und Nachbarschaftspolitik antagonistische Positionen haben, hat China im Interesse der eigenen Eliten dazu beigetragen, dass die USA in der „A-Phase“ 1990-2008 ihre Hegemonie aufrecht erhalten konnten. Die USA haben diese Stützung angenommen. Mithilfe der chinesischen Gläubiger konnten sie die Verschuldung kompensieren und den Dollar als Leitwährung verteidigen. Und der Dollar erlaubte es, die militärische Führungsrolle zu behaupten und mit dieser die europäischen Verbündeten und Japan bei der Stange zu halten.

Trotz der US-chinesischen Symbiose hat es sich nicht um eine geteilte Hegemonie gehandelt. Ganz offensichtlich zeigt sich dies in der unangefochtenen Stellung des Lebens- und Konsummodells des „American way of life“, das in China auf begeisterte Akzeptanz stieß. China hatte seine Rolle als Zulieferer und verlängerte Werkbank im Rahmen der globalen Güterketten allerdings dazu nutzen können, die Industrie und die Infrastruktur des Landes zu verbreitern und zu modernisieren. Während die meisten Entwicklungsländer durch die Neue Internationale Arbeitsteilung am unteren Ende der Güterkette festgezurrt blieben, konnte China die wachsenden Exporterlöse dazu verwenden, die Industrie zu diversifizieren, die Wertschöpfung zu erhöhen, in höherwertige Bereiche der Güterkette aufzusteigen und eigene Initiativen in Forschung, Entwicklung, Logistik und Vermarktung zu übernehmen. China wurde zum Schwellenland. Die USA hatten mit der Konsolidierung der chinesischen Wirtschaft ein Stück weit de facto Multipolarität akzeptieren müssen. Ihre Führungsrolle als wirtschaftliche Hegemonialmacht war unterhöhlt. Die Wirtschaftskrise 2008 trug weiter zum Niedergang bei – und erhöhte gleichzeitig die Bereitschaft, die hegemoniale Position mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Mit der in der neuen US-Militärstrategie (2011) angekündigten Konzentration der Kräfte auf den Pazifikraum unterstreichen die USA, welche Weltregion für sie strategische Priorität besitzt.

Auch die globale Krise hat nicht dazu beigetragen, China in eine hegemoniale Position zu bringen. China als globale Führungsmacht anzusehen, wie Frank das tut, kann sich also nur um eine Prognose, die Antizipation einer Entwicklung handeln, die heute auf dem Gebiet des exportgeleiteten Wachstums im Gange ist und in Zukunft auf Binnenmarktentwicklung, soziale Integration sowie die Absicherung der inneren Konsolidierung durch Außenpolitik, Bündnispolitik und militärische Präsenz setzt. In vielerlei Hinsicht kann der Aufbau einer chinesischen Großmachtposition bereits in der Praxis beobachtet werden: die Zunahme von Übernahmen und Direktinvestitionen im Bereich der Rohstoffsicherung sowie in strategischen Wirtschaftssektoren in aller Welt, eine auf die Sicherung von Rohstoff- und Absatzmärkten gerichtete Entwicklungspolitik, die Diversifizierung der außenwirtschaftlichen Kooperationen außerhalb des Dollarraums bis hin zur Forderung, den Dollar als Leitwährung durch einen Währungskorb mit Renmimbi-Yuan-Beteiligung zu ersetzen. Als Anzeichen hegemonialer Absichten kann auch der Aufbau von Handels- und Militärstützpunkten im Ausland (z.B. in Myanmar oder Pakistan) sowie von expansiven Waffensystemen (z.B. Raketen und Flugzeugträger) angesehen werden, die zur Absicherung von chinesischer Präsenz auf den Weltmärkten dienen. Last but not least bemüht sich China, der weltweiten Amerikanisierung mit Kulturexport (z.B. dem Aufbau chinesischer Kulturinstitute) eine asiatische Alternative entgegenzusetzen.

All das sollte nicht dazu verleiten, China vorschnell als neuen Hegemon anzusehen. Zu fest ist die Macht des alten Hegemon noch verankert. Viel wahrscheinlicher als eine nahtlose Ablöse ist eine lang andauernde Phase konkurrierender Machtansprüche verschiedener ambitionierter Zentren – mit der Möglichkeit des Übergangs in eine multipolare, von Rivalität und Bündnissen mehrerer Zentren getragenen Weltordnung.

Die globale Krise kommt China bei der Konsolidierung als Großmacht jedoch entgegen. Einerseits gefährdet sie die Symbiose mit den USA: rückläufige Exporteinnahmen schwächen das Wachstum; die chinesischen Dollarguthaben sind akut gefährdet. Das durch massive Ausbeutung der chinesischen ArbeiterInnen sowie durch deren Konsumverzicht aufgebaute Finanzpolster könnte platzen. Andererseits leitete die Krise eine neue Phase der chinesischen Wirtschaftspolitik ein, die durch staatliche Konjunkturförderung, eine aktive Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Armutsbekämpfung sowie die Einbeziehung der Binnenregionen in den Wachstumsprozess gekennzeichnet ist. All dies deutet darauf hin, dass die Exportorientierung zugunsten einer stärker auch den Binnenmarkt einbeziehenden Strategie modifiziert wird. Steigende Löhne müssten so nicht als Bedrohung gesehen werden, sondern könnten die Funktion eines Wachstumsmotors übernehmen. Für den Haushalt der USA und die Stabilität des Dollar könnte dies einschneidende Folgen haben und die Krise verschärfen. Für China hat eine solche Strategie antizyklischen Charakter und zielt auf die Transformation eines auf soziale Polarisierung und Konsumverzicht gegründeten Modells in ein integratives, die Arbeitenden am Konsum beteiligendes Wachstum. Andre Gunder Frank hatte der chinesischen Führung eine solche Politik nahe gelegt (z.B. Frank 2005a). Es sieht so aus, als ob die Krise in China dazu beigetragen hat, einen solchen Weg zur offiziellen Doktrin zu erklären. Eine neue Hegemonialmacht muss China damit allerdings noch nicht werden: Der Aufstieg zu einem Global player, zu einem Zentrum der Weltwirtschaft scheint indes unaufhaltsam. Staatlicher Dirigismus, Technokratenherrschaft und bedingungslose Unterordnung der Bürger unter die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wachstums bzw. der Krisenüberwindung, wie sie in China erfolgreich praktiziert werden, zeitigen bereits heute ihre globale Vorbildwirkung. Kooperationen in der Nachbarschaft, internationale Bündnisse und chinesische Präsenz in Entwicklungsländern rücken China vermehrt ins Zentrum des Weltgeschehens.

Wie immer das Gesellschaftsmodell einer chinesische Konsolidierung aussehen wird: Franks Prognose könnten sich gegenüber Wallersteins Hoffnung auf ein Ende des globalen Kapitalismus durchsetzen. Es kann aber auch anders kommen. China zeigt nicht nur geordnete Staatsmacht, sondern ebenso deren Zementierung, bürokratische Erstarrung, korruptive Entgleisung; eine Hingabe an westlichen Konsumismus und einen unerschütterten Glauben an Fortschritt und technische Machbarkeit. Chinas Konsolidierung kann sich auch als Etappe auf dem Weg zum Zusammenbruch der alten Ordnung herausstellen. Wallersteins Endzeithypothesen am chinesischen Beispiel durchzudenken, relativiert diesbezüglich die Franksche Gewissheit.

Am Beispiel der Arbeits- und Sozialpolitik: Als China 1978 die Marktwirtschaft einführte, begann in der Exportindustrie eine Phase der totalen Regellosigkeit, die an den frühen Kapitalismus in England bzw. Westeuropa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erinnert. Die billige Arbeitskraft im Verein mit der Versorgungsleistung, die die Familien in den Dörfern ihren ArbeitsmigrantInnen aufgrund der Absenz jeglicher Sozialleistungen angedeihen ließen, erschienen als immenses Ventil für die Krise der Industriegesellschaft im Westen. Es dauerte allerdings keine 30 Jahre, bis sich dieses Ventil erschöpfte: Chinesische ArbeiterInnen geben sich mit den Billiglöhnen, dem Schlafsaalregime und den erniedrigenden Lebensbedingungen nicht mehr zufrieden, eine Welle des ArbeiterInnenprotests überzieht das Land (Pun/Ching 2010; Scherrer 2011). Auch weil das Billiglohnsystem keine Binnennachfrage und kein Upgrading in der globalen Güterkette erlaubt, hat die Regierung 2006 begonnen, neue Arbeits- und Sozialgesetze einzuführen. Diese beenden die ungeregelte Phase, sie bestätigen aber auch Wallersteins These von der sinkenden Profitmarge durch Erschöpfung der Regenerierungskräfte. Das wachsende Umweltbewusstsein der Regierung deutet in dieselbe Richtung.

Eine neue Runde der Verlagerung der Kosten zeichnet sich mit der Go West-Strategie der chinesischen Regierung ab. Angesichts der wachsenden Kosten und der explodierenden Umweltbelastung in den Küstenprovinzen wird die Industrieverlagerung ins Landesinnere propagiert und gefördert. Dort gibt es neue große Potenziale an williger und billiger Arbeitskraft, die Profitklemme kann sich so wieder lockern, die Hoffnung auf sozialen Aufstieg das Vertrauen in den Staat stärken. Wie lange aber wird es dauern, bis auch dort, im chinesischen Westen, die Polarisierung, die das Wachstum erzeugt, die Arbeitskräfte aufbegehren lässt und die BürgerInnen neben mehr Konsum möglicherweise auch politische Partizipation einfordern. Die Grundlagen des chinesischen Erfolgs im Weltsystem wären unmittelbar gefährdet. Volksgruppen und Provinzen könnten vor dem Hintergrund scharfer Verteilungskämpfe ihre regionale und kulturelle Identität ausspielen. Die Einheit des Landes könnte unter dem Ansturm der sozialen Bewegungen zerbrechen. Aufgrund seiner Größe kann China stärker zum „Kippen“ beitragen als andere Länder und Regionen.

Wir können die Muster der Vergangenheit nicht in die Zukunft projizieren. Der Ausgang der Geschichte ist offen. Es kann eine Phase offener Machtkämpfe um die Führung im Weltsystem ausbrechen, China kann sich als neuer Hegemon etablieren und den „American“ durch einen „way of life“ ablösen, der von chinesischen Werten (Einordnung in die Gemeinschaft, Selbstkontrolle, Konsens, Harmonie) oder auch von der Verschmelzung chinesischer mit westlichen Elementen (zhong ti xi yong) geprägt ist (Weggel 2002: 237). China ist aber auch für die Systemalternative gerüstet, die Wallerstein für unabwendbar hält. Denn die Führung hat die Politik der „Öffnung und Reform“ explizit als Übergangsphase deklariert, die 2049 – also 100 Jahre nach Gründung der Volksrepublik – in einen erneuerten Sozialismus münden würde. China verfügt aber bereits heute durch seinen straffen politischen Apparat über ein Steuerungspotenzial ökonomischer Prozesse, die für demokratische Marktwirtschaften unvorstellbar ist. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Zielvorgaben der KPCh plangemäß erfüllen. Und ganz sicher entsprechen sie nicht dem Gesellschaftsmodell, das Wallerstein für eine postkapitalistische Zukunft erhofft. Dennoch: Ein hegemoniales China ist nicht nur eine Option für eine Erneuerung des globalen Kapitalismus, sondern auch mit einer zukünftigen Systemalternative vereinbar.

Literatur

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Weggel Oskar 2002: China. München.

[1] Immanuel Wallerstein (geb. 1930), ist Soziologe und Senior Research Scholar an der Yale University sowie an der Maison des Science de L’Homme in Paris. Er gilt als Wegbereiter der Weltsystem-Studien, die er ab 1980 am Fernand Braudel Center for the Study of Economies, Historical Systems und Civilizations (Binghamton University, New York) und in der Zeitschrift Review institutionalisiert hat. Weltsystem-Modelle haben sich seither thematisch, theoretisch und institutionell verbreitert und ausdifferenziert: mehrere Forschungszentren, Kongresse, Sektionen und Zeitschriften spiegeln den Stand der Diskussion in den USA; eine Bindeglied zur deutschsprachigen Rezeption und Debatte bildet die von Hans-Heinrich Nolte begründete Zeitschrift für Weltgeschichte (Verein für Geschichte des Weltsystems). Wallerstein hat neben zahlreichen theoretischen Werken eine Geschichte des modernen Weltsystems in bisher vier Bänden (The Modern World-System) vorgelegt.

[2] Andre Gunder Frank (1929-2005) war Wirtschaftswissenschaftler. Seine akademische Karriere führte den gebürtigen Deutschen in die USA, nach Lateinamerika und – nach der Flucht aus Chile, wo er Präsident Allende beraten hatte – zurück nach Europa, wo er an zahlreichen Universitäten lehrte. Frank hat maßgeblich zur Formulierung der Dependenztheorie beigetragen, die er mit seinen Analysen weltwirtschaftlicher Krisenerscheinungen in den 1980er Jahren in eine weltsystemische Richtung öffnete. Mit seinem letzten Buch „ReOrient“ (1998) eröffnete Frank mit Immanuel Wallerstein und Kollegen eine tiefgreifende Kontroverse über den historischen Charakter und die Bestimmungsmerkmale des Weltsystems – vgl. Review 1999 sowie die Konferenzbeiträge in Memoriam Andre Gunder Frank (Manning/Gills 2011); zum Hintergrund der Kontroverse vgl. auch Komlosy 2006a, 2006b, 2011.

[3] Vgl. den Artikel von Jörg Goldberg „Imperialismus-Wegbereiter des Kapitalismus?“ in diesem Heft, S.80 ff.

[4] Aus Frankscher Perspektive hatte bis 1820 China die Hegemonie inne.