Die Digitalisierung gewinnt in den Betrieben zunehmend an Bedeutung. Die Arbeit belastet zunehmend, es kommt zu einer auffallenden Intensivierung der Arbeit. 41 Prozent der Arbeitnehmer klagen, dass ihnen aufgrund der starken Arbeitsbelastung häufig die Energie fehle, sich am Feierabend der Familie oder Freunden zu widmen. Das ergab eine repräsentative Befragung von Beschäftigten durch den DGB.[1] Für jeden zweiten Beschäftigten in Deutschland ist die digitale Arbeitswelt zum beruflichen Alltag geworden – so der BKK Gesundheitsreport.[2] 32,7 Prozent der Befragten fühlen sich durch die digitalisierte Arbeitswelt stärker psychisch oder physisch belastet als früher. Die durch psychische Störungen bedingten Krankheitstage haben in den vergangenen zehn Jahren um mehr als das Zweieinhalbfache zugenommen, so der Krankenkassenverband.
Die Gründe liegen in den Arbeitsbedingungen. Ständige Erreichbarkeit und die ausgefeilte Kontrolle durch neue Technik sind die bestimmenden Themen.
Cloudworking, das Arbeiten „in der Wolke“, ermöglicht ein Arbeiten unabhängig von Zeit und Raum. Bei aller Unklarheit über die konkreten Auswirkungen der digitalen Arbeit ist bereits jetzt eindeutig, dass die neue Technik das Verhältnis von Arbeit und Freizeit radikal verändert. Die Folgen der ständigen Erreichbarkeit durch digitale Arbeit wurden bereits wissenschaftlich untersucht – etwa in einer gemeinsamen Initiative der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung mit Verbänden der gesetzlichen Krankenversicherungen.[3] Danach ist permanente Verfügbarkeit mit einem Gefühl der Unkontrollierbarkeit verbunden. Viele Betroffene haben die Erwartung, jederzeit kontaktiert werden zu können. Damit geht eine hohe psychische Beanspruchung einher.
Ein betriebliches Beispiel verdeutlicht, wie schnell neue Technik Nachteile für Beschäftigte haben kann. Statt wie bisher der Außendienst- und Verwaltungsbereich wurden in einem Unternehmen Arbeiterinnen und Arbeiter mit Smartphones auf Firmenkosten ausgestattet. Deren Begeisterung war groß, nachdem der Werksleiter verkündet hatte, diese Geräte könnten auch privat genutzt werden. Als dann die Meister das Smartphone jedoch öfters am Wochenende oder im Urlaub für betriebliche Kommunikation mit Arbeiterinnen und Arbeitern ihres Teams nutzten und verkündet wurde, die Beschäftigten könnten jetzt über „WhatsApp-Gruppen“ die Vertretung für Wochenendschichten untereinander „freiwillig“ klären, wurden die Probleme sichtbar. Der Betriebsrat griff in diesem Fall regelnd ein. Das Beispiel zeigt aber, dass Probleme der ständigen Erreichbarkeit zukünftig nicht auf den Dienstleistungsbereich begrenzt bleiben.
Unter dem Motto „Smartphone statt Stechuhr“ führt das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation das Projekt „KapaflexCy“ durch. Als Ziel benennen die Wissenschaftler: „Starre Anwesenheitszeiten von 7-16 Uhr sind Relikte der Vergangenheit. Zukünftig stimmen Arbeitsgruppen ihre Einsatzzeiten per Smartphone ab. Eigenverantwortlich, kurzfristig, flexibel. Gearbeitet wird nach Bedarf – genau dann, wenn der Kunde ordert. Das Forschungsprojekt ‚KapaflexCy‘ löst die übliche ‚pauschale‘ Personalflexibilität ab. Als Beitrag zum Zukunftsprojekt ‚Industrie 4.0‘ der Bundesregierung entwickeln wir vorausschauende Strategien und smarte Assistenten für die flexible Produktionsarbeit der Zukunft.“[4] Wer sich die Situation in den Betrieben der Metallindustrie – der Kernbranche der Industrie 4.0 – vor Augen führt, erkennt, wie massiv diese Forderungen sind. Durch Arbeitszeitkonten, Überstunden und Schichtarbeit sind die Beschäftigten bereits heute belastet – der Arbeitsdruck nimmt zu. Die Beschäftigten sind per Smartphone oder Tablet mit den Maschinen verbunden oder arbeiten direkt mit einem PC. Große Datenmengen, „Big Data“ genannt, können gespeichert werden. Diese ermöglichen weitgehende Auswertungen.
Assistenzsysteme sollen die Arbeitnehmer bei der Entscheidung unterstützen, erläutert Professor Gunther Reinhart, Institutsleiter des Instituts für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb): „Damit der Mensch mit der Produktionssteuerung oder der Maschine interagieren kann, muss die mobile Assistenz zunehmen. Bei einer Fehlermeldung einer Maschine kann sich das ‚iProductionPad‘ vor Ort vernetzen und den Fehlerspeicher auslesen und interpretieren. Das ‚iProductionPad‘ kann Temperaturen oder Frequenzen der Maschine messen, Anweisungen geben und deren Zustand sehr schnell analysieren und diagnostizieren“.[5] Möglich wird so zugleich die totale Überwachung des Maschinenbedieners, der jederzeit ortbar ist und dessen Verhalten dokumentiert wird.
Ein Vorzeige-Unternehmen der Digitalisierung ist Amazon. Die Arbeitsbedingungen des amerikanischen Handelsriesen wurden inzwischen wissenschaftlich untersucht. Die Wissenschaftler Oliver Nachtwey und Philipp Staab haben die Auswirkungen der neuen Technik auf die Beschäftigten analysiert. Ihznen zufolge verdeutlichen die Strategien des Versandhandelsriesen, „dass digitale Technologien zunehmend Potenzial für die Ausübung betrieblicher Herrschaft in bisher ungeahntem Ausmaß“ haben und zu radikaleren Rationalisierungsmodellen führen.[6] Dies zeige die Arbeitsorganisation im Lagerbereich: „Picker, also jene Beschäftigte, die zu Fuß in den riesigen Lagerhallen die einzelnen Produkte einsammeln und zu den Packstationen bringen“ werden mit Handscannern ausgestattet. „Smartphones nicht unähnlich verfügen die Handscanner über Kameras und aufnahmefähige Mikrofone und liefern detaillierte Bewegungsdaten der Beschäftigten. Das Unternehmen kann durch das Nutzen dieser Daten individualisierte Leistungsprofile erstellen und die Performanz unterschiedlicher Beschäftigter im Detail vergleichen. Jede außerplanmäßige Verschnaufpause wird so für das Management offensichtlich“, verdeutlicht Oliver Nachtwey. Der Technikeinsatz bei Amazon stehe für ein „bisher kaum erreichtes Ausmaß technischer Prozesskontrolle“. Die Arbeitsgeräte „geben ihren Trägern jeden noch so kleinen Arbeitsschritt unmittelbar vor, weisen ihnen beispielsweise detailgenau den effizientesten Weg zwischen zwei anzusteuernden Stationen in den Großlagern“. Die Arbeitsweise sei „mit mobilen Fließbändern zu vergleichen“ und mache die Beschäftigten zu Maschinenanhängseln. Andere Unternehmen orientieren sich zunehmend an Amazon, etwa die H&M-Zentrallager in Hamburg und Großostheim.
Die Entwicklung ist aber nicht auf einfache Arbeiten etwa in der Logistik begrenzt. Auch Büroarbeitsplätze sind davon betroffen. Voraussetzung sind Auswertungen durch moderne Systeme. Dabei finden häufig Workflow-Systeme Anwendung. Die dazugehörende Dokumentation und Verwaltung von Beschäftigten- und Kundendaten mit Hilfe moderner Technik ist von besonderer Bedeutung. Auch die Auswertung der einzelnen Arbeitsschritte und somit die Kontrolle der Beschäftigten zählen zu den Möglichkeiten. Voraussetzung ist oft eine Datenbank, über die Daten der Kunden und einzelne Arbeitsschritte der Beschäftigten ausgewertet werden. Mussten früher eingehende Briefe noch gescannt werden, erfolgt die Kommunikation heute meist über Internet. Dies erleichtert Unternehmen, Beschäftigte unter Druck zu setzen, bis hin zu innerbetrieblichem „Benchmarking“. So müssen sich die Angestellten rechtfertigen, warum ein Telefonat eine bestimmte Dauer überschritten hat oder in einem anderen Team die Kundenanfragen viel schneller bearbeitet werden.
Ein Beispiel ist das Programm „Workforce Management“. „Das Ziel von umfassenden Workforce-Management-Lösungen ist es, Personalressourcen intelligenter und effizienter einzusetzen“ erläutert Gunda Cassens-Röhring, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Organisationsberatung und Softwareentwicklung mbH.[7]
Mithilfe von Algorithmen sollen der Arbeitsanfall und Kundenverhalten prognostiziert und stundentaktgenaue Vorgaben des Arbeitsvolumens ermittelt werden, um Personalkapazitäten und die Verteilung der Arbeitszeiten bis hin zur Lage der Pausen vorschreiben zu können. „Ausgehend von Vergangenheitsdaten zur Prognose des künftigen Arbeitsvolumens wie Aufträge, zu produzierende Stückzahlen, Kassentransaktionen, prognostizierte Planumsätze, Calls oder Ergebnisse von Kundenfrequenz-Messungen entsteht ein Forecast, der die Basis für die Personaleinsatzplanung bildet“.
Die Folge sind standardisierte Prozesse, d.h. die konkrete Vorgabe von Arbeitsschritten für Bildschirmarbeitsplätze. „Routinetätigkeiten können und müssen standardisiert beziehungsweise automatisiert werden“, lautet die Vorgabe. Der Geschäftsprozess beginnt mit der Kundenanfrage und reicht bis zur Feststellung der Kundenzufriedenheit. Gemessen werden etwa die Bearbeitungsdauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten oder Antwortzeiten. Auf dieser Basis werden die Prozesse ständig gemessen, standardisiert und durch Zeitvorgaben kontrolliert.
So wirkt die digitale Arbeitswelt alles andere als modern, sondern knüpft an die Anfänge der Industrialisierung an. Beschäftigte sind Anhängsel der Technik, werden von Software verplant und per Algorithmus kontrolliert. Dies knüpft an die Anfänge der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ von F.W. Taylor an, der den Arbeitern der Ford-Werke sogar einzelne Handgriffe vorschrieb und genaue Zeitkontrollen einführte.
[1] www.ergo- online.de/site.aspx?url=html/aktuelles/37022017.htm.
[2] BKK Gesundheitsreport 2017, im Internet: http://www.wz.de/home/wirtschaft/digitale-arbeitswelt-staendige-verfuegbarkeit-verursacht-psychische-stoerungen-1.2565687.
[3] www.iga-info.de.
[4] Siehe www.kapaflexcy.de.
[5] Fraunhofer-IAO: Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0, Seite 155.
[6] APuZ – „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Ausgabe 18–19/2016, S. 26.
[7] https://zeitschriften.haufe.de/ePaper/personalmagazin/2017/68F278B7/files/assets/basic-html/page60.html.