Marx-Engels-Forschung

Inwertsetzung der Natur oder Wertrevolution?

Ein Diskussionsbeitrag zur Weiterentwicklung der Marx’schen Arbeitswerttheorie

von Thomas Kuczynski
März 2018

Im Zusammenhang mit der ökologischen Krise einerseits und der Entwicklung von Konzepten eines Green Capitalism andererseits hat das Wort von der Inwertsetzung der Natur weite Verbreitung gefunden; auch ich selbst habe ganz undifferenziert vom Wert der Natur geschrieben,[1] und der setzt ja wohl ein „Inwertsetzen der Natur“ voraus. In der Tat ist aber zu unterscheiden zwischen den Dingen, die von Natur aus vorhanden und in ihrer vorgefundenen Beschaffenheit unabhängig von der Tätigkeit des Menschen entstanden sind, und jenen, die die Menschen aus dem ursprünglichen Naturzusammenhang gerissen und mehr oder minder weiterbearbeitet haben, etwa losgebrochenes Erz, geerntete Wildpflanzen, zur Energiegewinnung vernutzte Wassergefälle usw. Das in der Erde ruhende Erz, die ungeerntete Wildpflanze, das ungenutzte Wassergefälle – sie alle haben aus ökonomischer Sicht keinen Wert, präziser: keinen Arbeitswert[2], denn in ihnen hat sich keine Sekunde Arbeit vergegenständlicht. So betrachtet, besteht offenbar keinerlei Grund, Dingen, in denen sich keine Arbeit vergegenständlicht hat, einen Arbeitswert zuzuschreiben. Erst in dem Moment, wo sie von der Hand eines Menschen bzw. von einem durch ihn geschaffenen Arbeitsmittel berührt worden sind, sind sie Produkt menschlicher Arbeit und erhalten auf diese Weise Wert.

Ebenso missverständlich scheint mir das häufig gebrauchte Wort von der Naturzerstörung. Zwar ist es dem Menschen gelungen, viele Dinge hervorzubringen, die es von Natur aus nicht gibt – angefangen von domestizierten Nutztieren bis hin zu Weltraumstationen –, aber all dies geschah und geschieht im Einklang mit den unabhängig von seiner Existenz wirkenden Naturgesetzen. Für seine Zwecke ausnutzen kann er diese Gesetze, sie jedoch niemals außer Kraft setzen. Wie sollte er eine Natur zerstören können, deren Gesetze er nicht außer Kraft setzen kann? Es sind stets nur Teile der Natur, die der Mensch durch ihre unsachgemäße Be- und Vernutzung zerstört (hat), darunter für ihn überlebenswichtige wie z. B. die Ozonschicht in der unteren Stratosphäre.

In der Tat handelt es sich nicht um die Natur schlechthin, deren Existenz durch die Tätigkeit des Menschen im Zeitalter des Kapitalozän[3] gefährdet ist, sondern um einen winzigen Ausschnitt daraus, die Biosphäre, also den belebten Teil des Planeten Erde, der von Menschen sukzessive ge- und vernutzt wird.[4] Der russisch-sowjetische Geowissenschaftler Vladimir I. Vernadskij (1863-1945), der die Biosphäre zu einem eigenständigen Forschungsgegenstand erhob, war noch der optimistischen Auffassung, der Mensch verwandle diese Sphäre allmählich in Noosphäre, also eine Sphäre der Vernunft.[5] Dieser Traum ist bislang nicht in Erfüllung gegangen, vielmehr verwandelt sich die Erde zur Zeit, unter der Herrschaft des Kapitals, mehr und mehr in eine Sphäre der Unvernunft in dem Sinne, dass die kapitalistische Produktion, Marx zu zitieren, „die Springquellen allen Reichtums“ – allen stofflichen Reichtums – „untergräbt: Die Erde und den Arbeiter.“[6] Kann diesem Zerstörungsprozess auf vernünftige Weise Einhalt geboten werden, möglicherweise sogar unter den Bedingungen fortdauernder kapitalistischer Produktion?

Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs trivial und erfordert ein tieferes Durchdenken der Marx’schen Arbeitswerttheorie als gemeinhin üblich. Wenn wir uns darauf beschränken, den Wert einer Sache als durch die in ihr vergegenständlichte Durchschnittsarbeit bestimmt zu betrachten, verbleiben wir auf dem Stand, den Marx in Kapitel I seines opus magnum dargelegt hat.[7] Genau diesen Stand aber hat er in Kapitel XVII drastisch als „abgeschmackt“ bezeichnet, denn „der Wert einer Ware [ist] nicht durch das Quantum wirklich in ihr vergegenständlichter, sondern durch das Quantum der zu ihrer Produktion notwendigen lebendigen Arbeit bestimmt“.[8]

Der Unterschied zwischen den beiden Wertbestimmungen wird besonders deutlich bei der Betrachtung von Effekten im Gefolge plötzlicher gravierender Wertveränderung im konstanten Kapital. Marx bemerkt in diesem Zusammenhang: „Der Begriff des konstanten Kapitals schließt eine Wertrevolution seiner Bestandteile in keiner Weise aus. Nimm an, das Pfund Baumwolle koste heute 6 d. und steige morgen, infolge eines Ausfalls der Baumwollernte, auf 1 sh. Die alte Baumwolle, die fortfährt verarbeitet zu werden, ist zum Wert von 6 d. gekauft, fügt aber jetzt dem Produkt einen Wertteil von 1 sh. zu. Und die bereits versponnene, vielleicht schon als Garn auf dem Markt zirkulierende Baumwolle fügt dem Produkt ebenfalls das Doppelte ihres ursprünglichen Werts zu. Man sieht jedoch, dass diese Wertwechsel unabhängig sind von der Verwertung der Baumwolle im Spinnprozess selbst. Wäre die alte Baumwolle noch gar nicht in den Arbeitsprozess eingegangen, so könnte sie jetzt zu 1 sh. statt zu 6 d. wieder verkauft werden [...] Die Wertveränderung entspringt hier in dem Prozess, der Baumwolle produziert, nicht in dem Prozess, worin sie als Produktionsmittel und daher als konstantes Kapital funktioniert. Der Wert einer Ware ist zwar bestimmt durch das Quantum der in ihr enthaltnen Arbeit, aber dies Quantum selbst ist gesellschaftlich bestimmt. Hat sich die gesellschaftlich zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit verändert – und dasselbe Quantum Baumwolle z. B. stellt in ungünstigen Ernten größeres Quantum Arbeit dar, als in günstigen –, so findet unmittelbare Rückwirkung auf die alte Ware statt [...], deren Wert stets durch gesellschaftlich notwendige, also auch stets unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen notwendige Arbeit gemessen wird.“[9]

Die Idee, dass die Wertgröße einer Sache nicht durch die in ihr vergegenständlichte Arbeitszeit bestimmt ist, sondern durch den unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen notwendigen Aufwand an lebendiger Arbeit, die lebendige Arbeitszeit, ist meines Erachtens von fundamentaler Bedeutung für das Begreifen jenes Vorgangs, der bislang und sehr missverständlich Inwertsetzen der Natur genannt worden ist: Die in der Natur vorgefundene Sache hat, arbeitswerttheoretisch betrachtet, keinen Wert; anders, wenn dieselbe Sache reproduziert werden soll, wobei allerdings zwischen zweierlei Arten der Reproduktion zu unterscheiden ist, ob die Sache durch die Arbeit des Menschen reproduziert werden muss oder unabhängig von dieser, auf natürlichem Wege, reproduziert werden kann. Beispielsweise: Solange sich Fischpopulationen ohne Zutun des Menschen regenerieren, erfordert ihre Regeneration keinerlei Arbeitsaufwand; solange Wasser und Luft auf dem Wege natürlicher Selbstreinigung zur Verfügung stehen, erfordert auch dieser Vorgang keinerlei Arbeitsaufwand; solange die Sonne scheint, steht uns das natürliche Tageslicht gratis zur Verfügung. Und umgekehrt: Die Anlage von Fischteichen oder von Kläranlagen und Filtern bedeutet einen gewissen Arbeitsaufwand, der in die dort (re)produzierten Sachen eingeht, ganz im Unterschied zum weiterhin von der Sonne gratis „produzierten“ Tageslicht. Die Beispiele zeigen übrigens in aller Deutlichkeit, dass die Eigenschaft, etwas wert zu sein, den Dingen nicht von Natur aus zukommt, sondern von der Gesellschaft selbst produziert wird: Solange die Natur ihren „Haushalt“ (z. B. den Wasserhaushalt) selber regeln kann – und das kann sie, solange sie nicht gesellschaftlich überfordert ist –, solange stehen ihre Produkte den Menschen in der Tat gratis zur Verfügung.

Wie steht es aber mit den Dingen, die die Natur gratis zur Verfügung stellt und nun, infolge übermäßiger Nutzung, gesellschaftlich reproduziert werden müssen? Zunächst geschieht mit ihnen dasselbe wie mit dem einer gravierenden Wertveränderung unterliegenden konstanten Kapital; statt mit ihrem ursprünglichen Wert in den Wert der zu produzierenden Sachen einzugehen, gehen sie mit ihrem veränderten Wert ein. Insofern aber ihr ursprünglicher Wert Null war und nun von Null verschieden ist, trifft auf sie in ganz andrer und besonders treffender Weise der von Marx (soweit ich sehe nur an dieser Stelle) gebrauchte Terminus Wertrevolution zu. Die in Produktion und Konsumtion ge- bzw. vernutzte Natur erhält auf diese Weise im Nachhinein einen Reproduktionswert,[10] der jedoch nicht von Natur aus vorhanden, sondern durch die gegenwärtigen Bedingungen gesellschaftlicher Reproduktion bestimmt ist.

Der Reproduktionswert ist Ausdruck des für die Herstellung einer Sache erforderlichen vollen Arbeitsaufwands und hängt daher von dem für die Herstellung aller anderen produzierten Produktions- und Konsumtionsmittel erforderlichen Arbeitsaufwand ab. Auf ihn trifft also genau das zu, was Marx schon in einem (wohl 1865 geschriebenen) „Nachtrag zu den Produktionspreisen“ im Manuskript zum Dritten Buch festgehalten hatte, dass der Produktionspreis einer einzelnen Ware „bestimmt ist nicht allein durch den Wert der besondren Ware, sondern durch den Wert aller Waren [...]“[11] Der Reproduktionswert lässt sich daher auch nicht durch die bloße Addition der diversen Arbeitszeitgrößen ermitteln. Seiner Messung muss vielmehr ein zweckmäßig formuliertes Modell der erweiterten Reproduktion zugrunde liegen, das neben Zähl- und Messgrößen wie Stück, Meter und Kilogramm (und deren Ableitungen) noch den in Stunden gemessenen Aufwand an lebendiger Arbeit enthält, und zwar nicht nur für die Sache, deren Reproduktionswert gemessen werden soll, sondern auch für all jene Produkte, die bei deren Produktion ge- bzw. vernutzt werden. Deshalb ist die Dimension des Reproduktionswerts selbst eine reine Zeitgröße, der in Arbeitsstunden gemessene volle Arbeitsaufwand.[12] Marx fasste diesen Sachverhalt an anderer Stelle in dem Satz zusammen: „Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.“[13]

[1] Vgl. Thomas Kuczynski: Vom Wert der Natur. In: Kontroversen über den Zustand der Welt. Hamburg 2007, S. 173ff.; ders.: Geschichten aus dem Lunapark. Historisch-kritische Betrachtungen zur Ökonomie der Gegenwart. Köln 2014. S. 93ff.

[2] Da im Folgenden nicht von der Erscheinungsform des Wertes, dem Tauschwert, die Rede ist, scheint es zur Vermeidung von Konfusion zweckmäßig, den präziseren Ausdruck Arbeitswert zu verwenden. Zu den (zuweilen auch bei Marx selbst vorhandenen) Konfusionen vgl. meinen Aufsatz Work in progress – „Das Kapital“. Die Erstausgabe und ihre weitere Bearbeitung durch Marx. In: Marxistische Blätter (Essen), Jg. 55 (2017), H. 5, S. 56ff., insbes. S. 62-67.

[3] Zu diesem Terminus vgl. Elmar Altvater: Anthropozän. Steigerungsformen einer zerstörerischen Wirtschaftsweise. In: Emanzipation. Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis (Frankfurt/M.), Jg. 3 (2014), H. 1, S. 71ff.; ders.: Nach 150 Jahren „Das Kapital“ – Kritik der politischen Ökonomie am Pflasterstrand. In: Z111 (September 2017), S. 82ff.

[4] Es wird hier abgesehen von einigen tausend Tonnen Weltraumschrott irdischen Ursprungs, die als Überreste von Raketen, Satelliten usw. innerhalb des Sonnensystems, insbes. im erdnahen Raum, umherfliegen.

[5] Vgl. Vladimir I. Vernadskij: Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft. Hrsg. v. W. Hofkirchner. Frankfurt/ M. etc. 1997. Zu den Originalarbeiten von Vernadskij vgl. insbes. Biosfera. Leningrad 1926, und Neskol’ko slov o noosfere. In: Uspechi sovremennoj biologii (Moskau), Nr. 18 (1944), Vyp. 2, S. 113ff.

[6] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. Neue Textausgabe. Bearb. u. hrsg. v. Th. Kuczynski. Hamburg 2017, S. 447 (im Folgenden: NTA); so auch in Marx/Engels: Werke (im Folgenden: MEW), Bd. 23, Berlin 1962, S. 530, sowie in Marx/Engels: Gesamtausgabe (im Folgenden: MEGA2), Bd. II/6, S. 477.

[7] Vgl. NTA, S. 17, bzw. MEW, Bd. 23, S. 53, bzw. MEGA2, Bd.II/6, S. 72/73.

[8] NTA, S. 452; vgl. MEW, Bd. 23, S. 558/59, bzw. MEGA2, Bd.II/6, S. 499.

[9] NTA, S. 170/71; vgl. MEW, Bd. 23, S. 224/25, bzw. MEGA2, Bd.II/6, S. 220.

[10] Diesen Terminus hatte ich schon in den in Anm. 1 genannten Aufsätzen verwendet.

[11] MEGA2, Bd. II/4.2, S. 282; in Engels’ Edition, vgl. MEGA2, Bd. II/15, S. 204, bzw. MEW, Bd. 25, S. 216, steht „Gesamtwert aller Waren“ statt „Wert aller Waren“, was m.E. eine in die Irre führende Ergänzung ist: Marx konstatiert an der Stelle, dass Wechsel im Wert der Waren sich gegenseitig ausgleichen können und sich daher nicht in einem Wechsel der Produktionspreise ausdrücken müssen. Deshalb sollte die fragliche Ergänzung kontextgemäß „Wert aller einzelnen Waren“ lauten.

[12] Der Verfasser hofft, demnächst ein solches Modell zur Diskussion stellen zu können.

[13] Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858. Berlin 1953, S. 89, bzw. MEGA2, Bd. II/1, S. 103, bzw. MEW, Bd. 42, S. 105.