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Populismus … und kein Ende

von Dieter Boris
März 2018

Nachdem nun auch in der Bundesrepublik Deutschland der Rechtspopulismus als drittstärkste Partei im politischen System dieses Landes angekommen ist, scheint es nicht nur angebracht, sondern höchste Zeit zu sein, aus berufenem Munde zu hören (und zu lesen), wie es darum bestellt ist. Aus der Lektüre von „dreißig Büchern“, die „zu diesem Thema“ allein 2017 erschienen sein sollen, einer „unüberschaubar“ gewordenen Anzahl von Artikeln, Aufsätzen sowie in Konsequenz eigener Beobachtungen hat nun die höchste Instanz der „Dritten Gewalt“ dieses Landes, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, der unkontrollierten (und teilweise gefährlichen) Meinungsvielfalt zu dem Phänomen „Populismus“ ein Ende bereitet. Die im Verlauf eines Vortrags näher ausgeführte Begründung seiner Position nimmt er schon einleitend prägnant vorweg:“ Der Populist ist bei genauerer Betrachtung … ein Gegner der Demokratie. Wer die Demokratie verteidigen will, der sollte populistische Verhaltensweisen daher offen kritisieren und bekämpfen. Dafür brauchen wir aber eine konkrete Vorstellung davon, was Populismus in seinem negativen Begriffskern bedeutet und welche Gefahren von ihm ausgehen.“ (FAZ v. 23. Nov. 2017, S.6)

Voßkuhle versucht fünf Widersprüche zwischen der „populistischen Ideologie und dem im Grundgesetz niedergelegten Verständnis von Demokratie“ aufzuzeigen, um zu diesem – höchstrichterlichen – Urteil zu gelangen. Einen grundlegenden, wesentlichen Unterschied von Rechts- und Linkspopulismus vermag er nicht festzustellen, auch wenn deren Ziele sehr unterschiedlich sein können. Dieses Problem wird nicht weiter verfolgt. Auch scheinen Herrn Voßkuhle soziologische und psychologische Deutungen wenig hilfreich, sogar „eher kontraproduktiv“ zu sein. Allerdings finden sich in seinen ganzseitigen Ausführungen keinerlei Gedanken darüber, warum es wellenförmig immer wieder zu einem Anwachsen populistischer Bewegungen kommen kann. Das scheint eine Ebene zu sein, die sich nur jenseits der jurisprudenziellen Weisheit ansiedeln lässt. Daher muss man der höchstrichterlichen Meinungsäußerung nicht einen derart autoritativen Rang zuweisen, dass nun alle Debatten um „Populismus“ ein für allemal entschieden wären, nach dem altrömischen Spruch: „Roma locuta, causa finita.“

Wahrscheinlich hätten die Autoren der hier vorzustellenden Bücher[1] über Populismus und Linkspopulismus ihre Werke auch verfasst, wenn sie früher von Voßkuhles Ansicht zu dem Phänomen „Populismus“ Kenntnis gehabt hätten.

Jörke/Selk (Politikwissenschaftler an der TU Darmstadt) haben eine Einführung zu „Theorien des Populismus“ herausgebracht, die vor allem drei Fragen beantworten möchte: „Was charakterisiert Populismus? Wieso entsteht er? Und: Wie ist er zu bewerten?“ (9) Zunächst gehen sie jedoch im ersten Kapitel auf die sehr unterschiedlichen „Facetten des Populismus“ (17-49) ein und zeigen, dass es in unterschiedlichen geografischen Regionen/Ländern zu differierenden Zeitpunkten populistische Bewegungen gegeben hat (diese sogar teilweise Regierungen gestellt haben) und sie infolgedessen sowohl von der Wählerbasis wie auch von ihrem politischen Profil her eher basisorientiert, linkspopulistisch (inklusiv), rechtspopulistisch-nationalistisch, teilweise sogar rassistisch sein und/oder antisemitische Züge aufweisen konnten; gelegentlich kam es zu einer gewissen Mischung von unterschiedlichen Elementen, die „normalerweise“ nicht zusammengehören: z.B. Antiliberalismus, konservative, nationalistische Kulturpolitik und traditionelle sozialdemokratische Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die Verwirrung wird zudem noch dadurch gesteigert, dass bei manchen rechtspopulistischen Bewegungen/Parteien sich im Laufe der Zeit eine Verschiebung der Wählerbasis und entsprechend eine deutliche Modifikation der politischen Programmatik beobachten lässt (z.B. beim Front National in Frankreich und der Dänischen Volkspartei, wo gegenüber einer ursprünglich stark neoliberalen Ausrichtung in den letzten Jahren eine stärker sozialprotektionistische Programmatik zu erkennen ist).

Im nachfolgenden Kapitel (51-89) wird der Frage: Was ist Populismus? nachgegangen. Da er nur in Demokratien (Berufung auf Volk und Volkssouveränität) vorkommen könne, werden unterschiedliche historische und sachliche Elemente von gegenwärtigen „repräsentativen Demokratien“ umrissen, um vor diesem Hintergrund die teils graduellen, teils tiefen Unterschiede zu den Charakteristika „des“ Populismus (den es so fixiert eigentlich nicht gibt) aufzuweisen. Danach werden Populismus und Faschismus bzw. Rechtsradikalismus voneinander abgegrenzt und sodann verschiedene Definitionen bzw. Akzentsetzungen zum Phänomen Populismus vorgeführt, ohne dass die Verfasser sich für die eine oder andere Variante stark machen; sie betonen auch hier die Vielfalt der Verständnisse/Konnotationen von Populismus von basisorientierten, plebiszitären zu autoritär-personalistischen, ja charismatischen Typen von populistischer Herrschaft.

Das nächste Kapitel (91-126) versucht Antworten auf die Frage zu geben: „Warum entsteht Populismus?“ Hier bieten die Autoren fünf unterschiedliche Antworten an, deren jeweiliges Gewicht und deren Ausschließlichkeit oder Ergänzungsverhältnis zueinander nicht durchweg den LeserInnen klar gemacht wird. Zum einen sind es „kollektive Enttäuschungserfahrungen“ gegenüber vorherrschenden Formen der Demokratie (mit ihren Tendenzen zur Oligarchisierung, Bürokratisierung, Intransparenz etc.). Zum anderen sind Strukturumbrüche infolge von Modernisierungsprozessen mit dem Ergebnis von „Modernisierungsgewinnern“ und „Modernisierungsverlierern“ – auf ökonomisch-sozialer Ebene, aber auch in kultureller Hinsicht – eine wichtige Erklärungsdimension für Unzufriedenheit mit Demokratie und den mit ihr verbundenen Partizipationsmöglichkeiten. Die Verfasser sind der Ansicht, dass damit unter Umständen auch autoritäre oder „bonapartistische“ Herrschaftsformen bzw. der Wunsch danach seitens der „Modernisierungsverlierer“ einhergehen können. In der „liberalen Modernisierungstheorie“ stelle der Populismus eine rückwärtsgewandte, irrationale Orientierung verunsicherter Massen infolge „beschleunigten sozialen Wandels“ dar (106f.) Obwohl die Verfasser der „Modernisierungstheorie“ skeptisch gegenüber stehen, scheinen sie an manchen Stellen deren Aussagen bezüglich des Populismus zu akzeptieren. Allerdings können die populistischen Bewegungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA (als Kritik am voranschreitenden Monopolkapitalismus) und die vielen populistischen Bewegungen in Lateinamerika zwischen 1930 und 1950 als Träger vorwärtsweisender Programmatiken in der Wirtschafts- und Sozialpolitik (nachholende Industrialisierung, Verringerung der Außenabhängigkeit, Einführung sozialstaatlicher Elemente etc.) gelten. Dies gilt z.B. für den Peronismus in Argentinien in seiner Regierungszeit von 1946-1955.[2]

Drittens wird der Wandel des Parteiensystems vor allem in Richtung auf „Kartellparteien“(Annäherung der großen Parteien aneinander, enge Kooperation dieser mit dem Staatsapparat etc.) als Motiv populistischen Protests genannt, wobei es hier zu neuen Mischungsverhältnissen auf der Links/Rechts-Achse durch gegenläufige Positionen in wirtschafts- und sozialpolitischer einerseits und gesellschaftspolitisch-kultureller Hinsicht andererseits kommen konnte. Das heißt z.B., dass wirtschafts- und sozialpolitisch „linke“ Wähler gleichzeitig in sozio-kultureller Hinsicht für eher konservative oder rechte Optionen einzutreten bereit sind, was z.B. den wachsenden Arbeiteranteil als Wähler bei einigen neu ausgerichteten rechtspopulistischen Parteien erklären könnte (113ff.) Freilich hängen derartige Wählerwanderungen auch mit den jeweiligen politischen Akzentsetzungen bei konservativen bzw. sozialdemokratischen Parteien zusammen. Schließlich wird, viertens, die Entfaltung von Ressentiments und autoritären Charakterstrukturen – als Ergebnis bestimmter gesellschaftsstruktureller Sozialisationserfahrungen – als weitere Hintergrunddimension für das Aufkommen von Populismus genannt, wobei die Ausmaße gesellschaftlicher Polarisierung als eventuelle Determinante solcher Entwicklung in diesem Zusammenhang recht vage bleiben. Fünftens werden die Medien in ihrer tendenziellen Ähnlichkeit in vielen politischen Positionen als Reibungsfläche populistischer Enttäuschungs- und Ausschlusserfahrung kurz erwähnt; sowie die Möglichkeit, dass seitens populistischer Medienauftritte die inzwischen üblichen Praktiken der Personalisierung, Vereinfachung, Emotionalisierung, Skandalisierung etc. ebenfalls mit Erfolg für ihre Zwecke angewandt und eingesetzt werden können (124f.).

Im letzten Hauptkapitel (127-154) schließlich geht es um die Bewertung von „Populismus“, wobei hier analytische und normative Kriterien nicht immer klar auseinanderzuhalten sind. Es werden die „liberale Kritik“ am Populismus, die „postmarxistische Affirmation“(s. u.) desselben sowie, drittens, „vermittelnde Positionen“ vorgestellt. Die liberale Kritik, die ja bekanntlich von der großen Mehrheit der Politiker und Sozialwissenschaftler/Politologen vertreten wird, stellt den Anti-Pluralismus, einen Mangel an rechtsstaatlichem Denken, die Gefährdung von Minderheitenrechten und ein geringes Verständnis vom Eigengewicht intermediärer Institutionen, autoritäre Tendenzen und Unterhöhlung des Prinzips der Repräsentation in den Vordergrund ihrer Kritik und sieht im Populismus eine ernsthafte Bedrohung der Demokratie. Kritisch merken die Autoren an, dass die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und Wirkungen der liberalen Demokratie – der privatwirtschaftliche, kapitalistische Reproduktionsprozess – nicht in die Betrachtungen einbezogen wird, um die enttäuschten Erwartungen an der Demokratie zu klären. Und zweitens führe die „liberale Kritik zu einer moralisierenden Selbstabschottung der ‚guten Demokraten’“ (138), was die Populisten immer wieder zu bestätigen und zu bestärken scheint. Die „postmarxistische Affirmation“[3], die die Position von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in Kurzform wiedergibt, orientiert sich vor allem daran, dass Demokratie nicht in erster Linie Konsens, „vernünftige Lösung“ aller Probleme und Harmonie bedeutet, sondern dass Konflikt, Auseinandersetzung bis hin zum Antagonismus ihr wesentlich zugehöre, da sie politisch die gesellschaftlichen und ökonomischen, aber auch kulturellen Widersprüche und Spannungen in einer hierarchischen Herrschaftsordnung ausdrückt. Dabei werden die Bedingungen der Mobilisierung und Hegemoniegewinnung durch bestimmte klassenübergreifende Diskurse in der Theorie Laclaus – zunächst strukturell formal oder relativ inhaltsleer – geschildert, was auch die Autoren als teilweise widersprüchlich und gefährlich (im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen Links- und Rechtspopulismus) empfinden (143f., 148). In einem letzten Abschnitt dieses Kapitels werden „vermittelnde Positionen“, die Populismus als grundsätzlich „ambivalentes Phänomen“ betrachten und denen die Verfasser offenbar – zumindest partiell – zuzuneigen scheinen, vorgestellt. Dabei wird Populismus einerseits nicht als eindeutige Gefahr für die Demokratie angesehen, andererseits werden ihm nicht nur positive Effekte zugeordnet. Er könne zur Korrektur von Missständen, zu Reformen und der Einlösung von – zuvor enttäuschten – demokratischen Ansprüchen führen; aber es könnten auch – in bestimmten, keineswegs immer und notwendigerweise auftretenden Fällen – durch übermäßige Personalisierung (durch bestimmte Führungsfiguren) oder allzu deutliche Geringschätzung intermediärer Instanzen z.B. Minderheitenschutz und rechtsstaatliche Formen unter Druck gesetzt werden und in autoritär-plebiszitäre Herrschaftsformen übergehen. Wie sich die Anteile dieser verschiedenen Charakteristika und Tendenzen jeweils darstellen, hängt mit den Ausgangsbedingungen, den historischen Kontexten und den Auswirkungen von Populismus auf die jeweiligen Gesellschaften zusammen und muss jeweils empirisch bestimmt werden. Gegenüber der liberalen Populismuskritik halten die Autoren aber – offenbar in Übereinstimmung mit anderen „vermittelnden Positionen“ – fest, dass bestimmte zeitgenössische Tendenzen (Machtgewinn supranationaler und technokratischer Institutionen, Implementation neoliberaler Reformen, die die Handlungsfähigkeit der demokratischen Nationalstaaten zugunsten von Wirtschaftsunternehmen und internationalen Märkten einschränken) zu einem übersteigerten Liberalismus geführt haben, „der sich von der Demokratie entkoppelt hat“ (153f.). In dieser Konstellation stelle der Populismus „im Wesentlichen eine illiberale demokratische Antwort auf einen undemokratisch gewordenen Liberalismus dar“ (153).

In einem „Epilog“ (155-168) zeigen die beiden Autoren in Schlussfolgerungen ihr eigene Position deutlicher auf und verweisen gegenüber der großen Mehrheit der liberalen Populismuskritiker und sozialwissenschaftlichen Autoren in diesem Lager (allen voran Jan Werner Müller, dessen Populismusschrift medial sehr breit und überwiegend positiv rezipiert wurde[4], auch die eingangs zitierte höchstrichterliche Stimme adelt den berühmten Politikprofessor aus Princeton indem sie sich positiv auf ihn beruft!) darauf, dass mit einem Verzicht auf einen „moralisierenden Gestus“ sowohl präzisere Erkenntnisse über Populismus zu Tage gefördert werden könnten als auch der politischen Bekämpfung eventueller antidemokratischer Tendenzen besser gedient sei. Um die Hintergründe des populistischen Protests wirklich zu ergründen (ohne vorschnelle moralische Verurteilung) wären die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die starke gesellschaftliche Polarisierung (ökonomisch-sozial wie auch politisch, aber auch kulturell) infolge entfesselter neoliberaler Marktlogik als zentrale Determinante zu überprüfen. Aber der „postdemokratische Liberalismus“ und seine Wortführer in Wissenschaft, Medien, Ökonomie, Kultur und Politik fordern weiter mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Öffnung und Rationalisierung, ihre Zielwerte sind an der „Funktionslogik der Privatwirtschaft“ orientiert. Kulturell tritt man ein für mehr Toleranz und für zivilgesellschaftliche Partizipation. Aber: „Grundlegende Kritik an dieser Gesellschaftsform, insbesondere am Kosmopolitismus und Freihandel wird von ihnen als unvernünftig, indiskutabel oder gar böswillig ausgegrenzt… Der postdemokratische Liberalismus schützt die bestehende Privilegienstruktur, indem er die Gesellschaftsstruktur vor grundlegender Veränderung abschirmt.“ (160f.)

Im Rechtspopulismus komme es zur Verquickung von Interessen- und Identitätspolitik: Privilegien und Ungerechtigkeiten werden dabei häufig nicht als ökonomische und politische Probleme wahrgenommen, sondern in kulturelle und ethnische umdefiniert. Dabei wird er in gewisser Hinsicht von einer „Neuen Linken“ oder einem linksliberalen Milieu herausgefordert und begünstigt. Durch die enge Verbindung von liberalem Kosmopolitismus und Neoliberalismus, die zwar gegenüber Diskriminierung und identitären Forderungen wichtige Fortschritte erzielten, aber gleichzeitig eine sozio-ökonomische Politik des neoliberalen Establishments in Kauf nahmen und für die eine Verschlechterung der Lebenschancen vieler Menschen in den Hintergrund trat („Progressiver Neoliberalismus“ nach Nancy Fraser und lange zuvor schon von Richard Rorty bemerkt), sei ein soziales und politisches Vakuum entstanden, in das die Rechtspopulisten erfolgreich hineinstoßen konnten. Entscheidend sei dabei, „dass die Linke nicht mehr vermag, ihre traditionellen Wählermilieus anzusprechen, weil diese sich mit den neuen Werten und ihren Protagonisten nicht identifizieren können… (und) diese ‚neue’ Linke nicht vermochte, neben der kulturellen Diskriminierung auch der Ausbeutung und der wachsenden sozialen Ungleichheit etwas entgegenzusetzen“ (165f.). Auf diese Weise können das gegenwärtige Aufkommen von Rechtspopulismus – wie Populismus allgemein – sehr viel überzeugender erklärt und entsprechend auch andere politische Konsequenzen daraus gezogen werden.

Die sehr gelungene Einführung, die nicht nur für „Populismus-Anfänger“ oder „-Einsteiger“ außerordentlich geeignet ist, sondern auch für mit der Materie vertrautere LeserInnen höchst gewinnbringend scheint, ist übersichtlich strukturiert, flüssig lesbar sowie argumentativ durchweg überzeugend. Sie stellt vor allem ein hervorragendes Gegengewicht gegenüber dem politisch und sozialwissenschaftlich stark vertretenen affirmativen Mainstream dar. Demgegenüber fallen kleine, am Rande liegende Fehler kaum ins Gewicht, so z.B., dass sich Brasilien an der Seite Deutschlands und Italiens am Zweiten Weltkrieg beteiligt habe (29); Raúl Haya del la Torre (so der richtige Name!), Begründer der peruanischen populistischen Bewegung/Partei APRA, ist niemals Staatspräsident gewesen (27).

Das zweite hier anzuzeigende Buch, verfasst von Thomas Goes, Sozialwissenschaftler an der Göttinger Universität und Violetta Bock, „Organizing“-Spezialistin und Stadtverordnete der Kasseler „Linken“, weist Ähnlichkeiten und Unterschiede zur vorher kommentierten Arbeit auf. Ähnlichkeiten sind darin zu sehen, dass es im Kern gegen einen hiesigen Mainstream (der auch große Teile der Linken erfasst hat) argumentiert und als Einführung zum Thema „Linkspopulismus“ betrachtet werden kann[5]; im Unterschied zur Studie von Jörke und Selke ist das zweite Buch, wie der Titel schon verrät, eher eine politische Positionsbestimmung in der aktuellen Diskussion, die sich auf Arbeiten zur politischen Theorie, aber auch auf empirische Untersuchungen stützt.

Im ersten einleitenden Kapitel (7-19) werden Intention, Umrisse der Gliederung sowie Grundpositionen der Studie dargelegt. „Linkspopulismus“ wird als politische Bewegung verstanden, die versucht, unterschiedliche Teile der beherrschten „Volksklassen“, „die sich oft gegeneinander ausspielen (lassen), in ein gemeinsames politisches Projekt einzubinden, sie zu sammeln und zu verbinden“ (11). Dieser herrschaftskritische, progressive Populismus ist „möglich und nötig – als Teil eines popularen Sozialismus, der von unten ermächtigt, der internationalistisch und feministisch ist und für die radikale Demokratisierung dieser Gesellschaft kämpft.“ (16) Und: „Die populistische Linke und ihr sich nach rechts radikalisierendes Gegenüber sind dabei wie Feuer und Wasser – nicht etwa zwei Varianten des Gleichen.“ (17) Das zweite Kapitel (21-28) nimmt kurz Bezug auf den Hintergrund bzw. die Ursachen populistischer Bewegungen. Die beiden Autoren verstehen deren Aufkommen als Antwort auf eine ökonomisch-soziale Krise bzw. politische Situation, verbunden mit einer politischen Legitimationskrise der herrschenden „Eliten“. Diese Konstellation ist ihrerseits das Resultat einer drei oder vier Jahrzehnte andauernden „Neoliberalisierung der Gesellschaft“ (mit ihrer Ausweitung der Kapitalmacht, Privatisierungspolitik, Abbau von sozialstaatlichen Elementen, Polarisierung, verstärkter Prekarisierung und politischer Kartellbildung), die allerdings mit einer gewissen „kulturellen und sozialen Modernisierung in den Bereichen der Migration, Geschlechter- und Familienpolitik einherging“ (26). Beides, verantwortet und teilweise getragen von den „großen Volksparteien“ führte zu Abspaltungen an den Rändern sowohl bei der CDU wie auch der SPD und in der Folge – über weitere Vermittlungen – zu einem Aufschwung des Rechtspopulismus in Deutschland (und anderswo). Die kurzen Bemerkungen über Populismus im Allgemeinen (29-33), in denen die Relativierung des „Volks“-Begriffs (als abhängig von politischen Auseinandersetzungen und Deutungskämpfen) und seine geringe Ideologiehaltigkeit unterstrichen wird, mündet darin, ihn „eher als eine politische Methode der Anrufung, Mobilisierung und der gesellschaftlich-politischen Interpretation“ (zu begreifen). Deshalb können seine Bestandteile in linke oder rechte Weltanschauungen eingeflochten werden.“ (32) Im vierten Kapitel (35-45) wird der „rechte Populismus“ behandelt, der von einem „rechtschaffenen Volk“ (und korrupten Eliten) ausgeht, wobei dieses Volk ethnisch und/oder kulturell definiert wird. „Nation“ und „Volk“ werden exklusiv gegenüber „Fremden“, den Migranten, Angehörigen bestimmter Religionszugehörigkeit, Abweichlern vom „normalen“ Verhalten etc. abgegrenzt. Diese hypostasierte, statische und rückwärtsgewandte Sicht von „Volk“ und „Nation“ verbindet sich mit heftiger Kritik an supranationalen Institutionen und Organisationen. Die wirtschaftspolitische Orientierung erscheint als ambivalent und unterliegt einer (teilweise opportunistischen) Anpassungstaktik in Richtung auf eine stärker globalisierungskritische und sozialstaatlich-nationale Elemente berücksichtigende Politik-Option. Rechtspopulismus wird sowohl vom traditionellen Rechts-Konservatismus als auch vom Rechtsextremismus/Faschismus definitorisch abgegrenzt und gefragt, warum er in Deutschland in den letzten Jahren (verspätet gegenüber anderen Ländern Europas) so klare Wahlerfolge erzielen konnte. Durch äußere Anlässe wie die Krise der EU und die sog. „Flüchtlingskrise“ sind Potentiale aktualisiert worden, die auch zuvor auf ca. 15-20 Prozent der Wahlbevölkerung angenommen worden waren. Soziale Polarisierung, Prekarisierung, Repräsentationskrise und Maxime des „Standortnationalismus“ haben die Aktualisierung dieses Potentials ebenso begünstigt wie die Herausbildung supranationaler Strukturen und die neoliberale kulturell-gesellschaftspolitische Modernisierung der CDU einerseits und die weitgehende Akzeptierung neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik durch die SPD andererseits.

Im fünften Kapitel (47-64) werden Umrisse von unterschiedlichen Bewusstseinsinhalten und Deutungsmustern, die die zuvor angedeuteten Tendenzen verarbeiten, dargestellt; dieses Kapitel geht wohl auf empirische Erhebungen eines Autors zurück[6] und gehört zu den besonders innovativen Passagen des Buches. Ausgegangen wird von der These „von einer Polarisierung des Massenbewusstseins …, die einen Nährboden sowohl für rechte wie für linke Politik bietet. Die Neoliberalsierung des deutschen Kapitalismus hat sowohl Verarbeitungsweisen hervorgebracht, die den Weg nach rechts bereiten, wie auch solche, die relativ deutliche Brücken nach links bieten. Dazwischen gibt es ein unübersichtlicheres Spektrum von widersprüchlichen und entwicklungsoffenen Bewusstseinsformen.“ (47). Bei der genauen Analyse der Zwischentypen von Deutungsmustern wird klar, dass manche Aussagen nicht eindeutig einem politischen Lager entlang der Links-Rechts-Achse zuzuordnen sind (61). Da auch einzelne Elemente eines Interpretationsmusters häufig nicht eindeutig und klar fixierbar sind, werden hier von Goes/Bock Ansatzpunkte einer politischen oder gewerkschaftlichen Aufklärung und damit „Brückenelemente“ hin zu einem linken Populismus gesehen.

Das sechste Kapitel (65-91) ist nun explizit dem Linkspopulismus gewidmet. Als Beispielfälle bzw. Repräsentanten eines solchen diskutiert es das „bolivarische Projekt“ von Hugo Chávez (bis 2013), das bis zu seinem Niedergang in den letzten Jahren Venezuela stark veränderte und die Lage der Unterklassen wesentlich verbessert hatte; dann die spanische Partei „Podemos“, die aus der tiefen Krise des spanischen Kapitalismus entstand und die kurz nach ihrer Gründung bereits auf 21 Prozent der Stimmen bei nationalen Wahlen kam. Drittens werden die außergewöhnlichen Mobilisierungserfahrungen von Bernie Sanders im US-amerikanischen Wahlkampf angesprochen, wo er nur knapp seiner Demokraten-Rivalin Hillary Clinton unterlegen ist sowie, viertens, Sahra Wagenknecht, die als Vertreterin einer Position innerhalb der Linken vorgestellt wird. Dabei werden die Gefahrenmomente, Defizite dieser linkspopulistischen Ansätze nicht verschwiegen, bezüglich der zuletzt genannten Person sind die Kritikpunkte so zahlreich und deutlich, dass sie – trotz guter Ansätze (!) – „als linke Populistin… scheitert“ (84). Die aufgeführten Gründe für diese Einschätzung, die man auch eher als politische Meinungsäußerung verstehen kann, scheinen dem Rezensenten keineswegs überzeugend zu sein.[7] Das Kapitel wird abgerundet durch die Vorstellung der Kritik am Linkspopulismus von rechter und liberaler Seite sowie von Seiten Vertretern der Linken und eine jeweilige Entgegnung darauf.

Im abschließenden siebenten Kapitel (93-125) werden sieben Thesen zu einem „popularen Sozialismus“ präsentiert. Bei diesen Thesen handelt es sich um – durch eigene Erfahrung und andere Analysen gestützte – politische Postulate, die zeigen sollen, wie der langwierige und schwierige Weg zu einem Hegemoniegewinn eines „popularen Sozialismus“ und einem neuen, alternativen „Block an der Macht“ aussehen könnte. Genannt werden: Die Vision eines „Sozialismus von unten“, der Selbstaktivierung der sich emanzipierenden Unterklassen, eine organisierende und lernende Linke, welche die diversen Strömungen und Milieus der unteren und mittleren Klassen zu verbinden vermag sowie schließlich eine „populistische Verdichtung“ vorzunehmen in der Lage ist (111ff.); womit ein Anknüpfen an widersprüchliche Formen von Alltagsbewusstsein gemeint ist, welche durch gemeinsame – auch emotionsgeladene – Bezugspunkte gegenüber einem mächtigen Gegner zusammengeführt und diesem gegenüber polarisiert werden. Dabei sei der Kampf um soziale Teilhabe und die Ausweitung „popular-demokratischer Souveränität“ in den Mittelpunkt zu stellen, wobei nationale und internationale Ebene nicht in ein Gegensatzverhältnis gestellt werden dürfen (116ff.). Schließlich wird – in der siebenten These – vorgeschlagen, „rebellisch zu regieren und Übergänge zu schaffen“ (120ff.), wobei Kämpfe innerhalb des Staates mit solchen außerhalb des Staatsapparats verbunden werden müssten.

Ganz neu sind viele dieser Gedanken und Postulate nicht, es sei denn, dass sie im Kontext eines Plädoyers für einen „linken Populismus“ vorgetragen werden. Das „unanständige Angebot“ der Autoren enthält viele anregende Punkte, die von ihnen meistens nur kurz angetippt werden konnten und sicher intensiver und breiter zu belegen und zu diskutieren wären, so z.B. das Verhältnis von Nationalem und Internationalen, zu dem es auch teilweise widersprüchliche Äußerungen im Text gibt; oder die Bemerkungen über mögliche Wirkungen einer „radikalen Reformpolitik“, die ja nicht automatisch zu immer radikaleren Forderungen (124) führen muss, sondern umgekehrt möglicherweise auch zu einer Phase der Beruhigung und der relativen Zufriedenheit mit dem Erreichten. Auch die Verknüpfung von Kämpfen innerhalb und außerhalb des Staatsapparats, deren Legalitätsstatus in der Regel unterschiedlich ist, kann sich als extrem kompliziert gestalten (siehe die Unidad Popular-Erfahrung in Chile[8]).

Diese und andere Fragen und Kritikpunkte (z.B. tauchen in der Literaturliste Titel nicht auf, auf die man im Text deutlichen Bezug genommen hatte) ändern nichts daran, dass die Arbeit von Goes/Block eine anregende, teilweise anspruchsvolle und Optimismus ausstrahlende, lesenswerte Publikation darstellt. Zumal sie eine Position intelligent und eloquent zu vertreten wagt, die hierzulande (und zwar auch innerhalb der Linken) ein kümmerliches Dasein fristet.

[1] Dirk Jörke/Veith Selk, Theorien des Populismus zur Einführung, Hamburg 2017 (Junius-Verlag), 192 S., 14,90 Euro; Thomas E. Goes/Violetta Bock, Ein unanständiges Angebot? Mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte, Köln 2017 (PapyRossa Verlag), 133 S., 12,90 Euro.

[2] Siehe hierzu: Ernesto Laclau, Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin 1981, S. 154 ff.

[3] Dieser von den Autoren benutzte Ausdruck (mit Bezug auf Laclau/Mouffe) meint einerseits die grundsätzlich positive Bewertung populistischer, mehr Demokratie fordernder Bewegungen („Affirmation“) und andererseits deren Herkunft aus einem Theorieansatz, der – vom Marxismus herkommend – wichtige Teile der marxistischen Theorie in Frage stellt („Postmarxismus“).

[4] Zu den wenigen kritischen Stimmen dazu siehe die frühe Kritik Jörkes: Moralismus ist zu wenig. Kommentar zu Jan-Werner Müllers Essay „Was ist Populismus?“, in: Zeitschrift für Politische Theorie 2/2016, S. 201-206, sowie meine Kommentare in: sozialismus, Nr.7-8/2016, S. 14-17, und in: Blätter für deutsche und internationale Politik H. 8/2016, S. 25-27, sowie Müllers Anti-Kritik in: ebd., H. 10/2016, S. 33-35.

[5] Siehe zur bisherigen Diskussion von „Linkspopulismus“ vor allem innerhalb der Linken z.B. meinen Beitrag „Aspekte von Linkspopulismus“ in: Z 107 (September 2016), S. 19-29, sowie die teilweise kritischen Reaktionen darauf in: Forum Wissenschaft, März 2017, S. 33 ff., und September 2017, S. 44 ff.

[6] Thomas Goes, Linkspopulismus und Prekarisierung, in: PROKLA 180 (2015), S.433- 451.

[7] Ohne an dieser Stelle in eine Debatte eintreten zu können, sei kurz vermerkt, dass hier Punkte aufgeführt werden, die an das in der Partei der „Linken“ schon fast übliche Wagenknecht-bashing erinnern: falsche Akzente in der Flucht/Asyl Frage, keine ausreichende internationalistische Position (es wird ihr ein „schlichtes Zurück zum Nationalstaat“(84) unterstellt – als ob das reiner Voluntarismus und nicht Realität wäre – und zu geringe Betonung, Akzentuierung sozialer Bewegungen und Kämpfe. Dass das Verhältnis von Nationalem und Internationalem komplexer ist als in diesen Passagen wird später auch teilweise gesehen (116f.), aber offenbar nicht für die Position Wagenknechts eingeräumt. Siehe gerade zu letzterem Problem die Ausführungen von Peter Wahl: Wie nationalistisch ist der Nationalstaat? In: Z 112 (Dezember 2017), S. 62-72.

[8] Auch hier urteilen die beiden Autoren recht vorschnell und wahrscheinlich ohne ausreichende Hintergrundkenntnisse, wenn sie formulieren: „Die Unidad Popular entschied sich gegen eine Konfrontation … und provozierte gerade dadurch den Militärputsch, der am 11. September 1973 stattfand.“ (125) Siehe dagegen meinen Interpretationsansatz: Dieter Boris, Die Unidad Popular in Chile (1970-1973) – ein gescheiterter Weg zum Sozialismus, in: Joachim Becker/Rudy Weissbacher, Sozialismen. Entwicklungsmodelle von Lenin bis Nyerere, Wien 2009, S. 208-222.

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