„Is America over?“ titelte die einflussreiche US-Zweimonatszeitschrift „Foreign Affairs“ in ihrer November/Dezember Ausgabe 2011. Die beiden Hauptartikel verknüpften ostentativ Ungleichheit und den geopolitischen Machtverlust der USA. Während Joseph Parent (University of Miami) und Paul MacDonald (Wellesley College) die Sinnhaftigkeit einer reduzierten und sparsameren Miltärpolitik begründeten, die dennoch die US-Vormachtstellung bewahren könne, verbindet der Staff Writer des Magazins „The New Yorker“, George Packer (2011), unmittelbar die desaströse US-Interventionspolitik im Irak mit der in den letzten drei Dekaden massiv gewachsenen Ungleichheit in den USA („Inequality and American Decline“). Der gebrochene Sozialvertrag habe eine strukturelle Arteriosklerose der US-Institutionen zur Folge gehabt, mit entsprechenden Konsequenzen auch in einer verfehlten Außenpolitik. Der Befund ist wenig überraschend: Die Reagan Revolution habe 1978 (also vor Reagans Präsidentschaften ab 1980) mit dem Einsetzen von Lobbyismus auf hoher Stufenleiter begonnen, der das Machtgleichgewicht massiv zugunsten des „organisierten Geldes“ („organized money“; Packer 2011:28 bezieht sich hier auf Hacker/Pierson 2010) von Business-Gruppen verschob. Demokratische wie republikanische PolitikerInnen stünden heute in einer strukturellen Abhängigkeit von Spendengeldern aus Big Business bzw. den Finanzmärkten. Die Ungleichheit gefährde die Demokratie. Die Frage, die Packer (2011:21) an den Beginn stellt: „Is it true that we’re just not that good anymore?“ und mit der sowohl Moral (Polarisation, Ungleichheit) als auch Effizienz (öffentliche Infrastruktur) gemeint zu sein scheint, klingt wie die Wehmut des Privilegierten beim Gedanken an die gute alte Zeit. Als goldene Zeit des Kapitalismus wird oft jene Phase nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet, die Anfang der 1970er zu Ende ging. Sowohl aus Perspektive der internationalen Entwicklung als auch für Teile der US-Bevölkerung wird man jedoch eher fragen müssen: Was war gut an der US-Hegemonie vor 1978? An vielen Orten würde die Rolle der USA im internationalen Staatensystem auch vor 1978 anders betrachtet werden, z.B. in Hiroshima und Nagasaki, Kinshasa, Hanoi oder Santiago de Chile. Auch die TeilnehmerInnen der UN-Konferenz von Cocoyoc im Oktober 1974 hätten mit „good“ wenig angefangen. Ihre Abschlussdeklaration hatte einen radikalen Bruch mit dem herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gefordert: Die Probleme, die einem „sicheren und glücklichen Leben für alle“ im Wege stünden, seien „nicht durch einen gegenwärtigen Mangel an physischen Ressourcen verursacht“. Sie lägen vielmehr in „ökonomischer und sozialer Fehlverteilung und Missbrauch; das Dilemma der Menschheit wurzelt vor allem in ökonomischen und sozialen Strukturen und Verhalten in und zwischen Ländern.“ (Cocoyoc Declaration 1974:1; vgl. auch: Bernier 2011, Galtung o.J.). Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger wies die Deklaration in einem „drei Fuß langen Telegramm“ (Galtung o.J.) an die beiden UN-Direktoren ab. Die reichen Länder drängten den Einfluss der UNO-Organisationen, in denen periphere Länder eine Mehrheit hatten, zurück (Bernier 2011:8).
Eine Annäherung an das Thema dieses Beitrags, nämlich gegenwärtige ungleiche Entwicklung, Machtverschiebungen und Auf- und Abstiegsprozesse im Weltsystem theoretisch zu verorten, muss zuerst den theoretische Rahmen abstecken, bevor ein Versuch, die gegenwärtige Lage einzuschätzen, gewagt werden kann. Ich werde dabei einige wenige zentrale Ansätze auswählen, anhand derer ich meine Argumentation ausbreiten werde. Diese meine Gewichtung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Hegemonie: theoretische Eingrenzung
Die Vormachtstellung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg, die schon im 20. Jahrhundert Bruchlinien aufwies und im 21. Jahrhundert Verfallserscheinungen zeigt, wurde oft als Hegemonie bezeichnet, ein Begriff in dem etymologisch der (An)Führer (griechisch: hēgemṓn) steckt. (Haug 2004: Sp. 4)
Erklärungsansätze, die Hegemonie als Eckpfeiler von Stabilität im Kapitalismus begreifen, scheinen bis auf Charles Kindlebergers bekannte Darstellung der Weltwirtschaftskrise 1929/33 aus dem Jahre 1973 zurückzugehen (vgl. Overbeek 2008:180, Hettne 1995:14). Kindleberger (2010: 370) kam damals „zu dem Schluss, dass die Depression nach 1929 so breit, so tief und so lang war, weil das internationale Finanzsystem durch die britische Unfähigkeit und den amerikanischen Unwillen, die Verantwortung für die Stabilisierung zu übernehmen, instabil war.“ Für die 1970er Jahre konstatierte Kindleberger (2010:389), dass den USA „die Führung allmählich zu entgleiten“ beginne. Die Protagonistinnen der Macht sah er aber in der Folge in den USA und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, heute: EU). Kindleberger (2010:390) hielt jeweils drei instabile und drei stabile Ergebnisse der Auseinandersetzung um die Macht fest. Zu vermeiden seien Ergebnisse, die zu Instabilität führten: „1. ein Tauziehen der USA und der EWG um die Führung in der Weltwirtschaft; 2. eine Situation wie von 1929 bis 1933, als ein Partner unfähig zur Führung war und der andere dazu nicht bereit; 3. beidseitiger Vetovorbehalt gegenüber Plänen zur Förderung der Stabilität oder zur Stärkung des Systems, ohne dass eigene konstruktive Beiträge geleistet werden.“ Die drei stabilen Resultate seien „1. eine Fortsetzung oder Erstarkung der amerikanischen Führungskraft […]; 2. die Geltendmachung des Führungsanspruchs und die Übernahme der Verantwortung für die Stabilität des Weltwirtschafts- und Währungssystems durch Europa; 3. eine effektive Übertragung der wirtschaftspolitischen Souveränität auf internationale Institutionen: eine Weltzentralbank, einen Weltkapitalmarkt und ein wirksames allgemeines Zoll- und Handelsabkommen. Die letzte Möglichkeit ist die attraktivste, aber vielleicht die unwahrscheinlichste, weil am schwierigsten zu erreichen.“
Mit der Weisheit der Rückschau kann man festhalten: Die USA konnten in der Tat ihre Führungsschwäche überwinden, aber nur kurzfristig. Das europäische Ende des Taus konnte nur wenig Zugkraft aufbringen, Europa scheint seinen Platz am Tau zu verlieren. Eine Situation wie 1929 bis 1933 scheint eingetreten, aber durch spätes und zauderndes Handeln der USA und der EU nur aufgehalten worden zu sein. Eine Weltzentralbank ist nicht in Sicht. Die WTO als Nachfolge des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) ist zwar eine Organisation im erweiterten UN-System, die USA und die EU konnten dieses System in bilateralen Verhandlungen aber immer wieder unterlaufen.
Die grobe Skizze von Kindleberger und viele folgende elaboriertere Studien unterschiedlicher ontologischer Ausrichtung konzentrierten sich auf Machtverschiebungen zwischen Staaten und deren ungleichmäßige Produktivkraftentwicklung; sie verstanden Hegemonie sehr allgemein als Dominanz oder verwendeten den Begriff als Euphemismus für Imperialismus (vgl. Overbeek 2008:169, Cox 2000:60, Arrighi 1994:27). Die „Entdeckung“ von Antonio Gramscis Analyse der Hegemonie, ursprünglich angewandt auf innerstaatliche Klassenbeziehungen, brachte ein Jahrzehnt nach Kindlebergers Studie eine neue Dynamik in die Untersuchung der internationalen politischen Ökonomie. Giovanni Arrighi, Robert Cox, Stephen Gill und andere haben Gramscis Konzept wieder auf die Ebene der Analyse zwischenstaatlicher Beziehungen zurückgebracht und fruchtbar gemacht (Arrighi 2009:70f, Arrighi 2000:150; für bibliographische Hinweise zur „Wiederentdeckung“ Gramscis Werk in Frankreich nach 1968 bzw. für den englischsprachigen Raum von Perry Anderson und Tom Nairn in der Zeitschrift New Left Review, siehe Overbeek 2008:51; für die Verwendung von Hegemonie vor, bei und nach Gramsci, siehe Haug 2004 und Davidson 2004). Für die Analyse der politökonomischen Prozesse, die hinter der Oberfläche der reinen Staatenkonkurrenz und deren ungleichmäßiger Produktivkraftentwicklung ablaufen, müssen „umfassende innergesellschaftliche Machtverschiebungen“ berücksichtigt werden, wie Overbeek (2008:169) es ausdrückt: „Sie gehen mit einer Restrukturierung der Machtbeziehungen zwischen sozialen Gruppen, der Bildung neuer Machtkoalitionen (historischer Blöcke) sowie mit einem grundlegenden Wandel der „sozialen Struktur der Akkumulation“ einher. Dies betont die grundlegende Bedeutung von Cox’ Ansicht, dass Hegemonie im Staatensystem auf komplizierte Weise mit den Klassenstrukturen innerhalb des hegemonialen Staates und des transnationalen Raumes verwoben ist.“
Gramsci hatte erkannt, wie Cox (2000:51f.) ausführt, dass die dominante Klasse einer Gesellschaft diese Vorherrschaft nicht nur mit Gewalt ausübte, sondern auch konsensual über einen hegemonialen Machtapparat. Zugeständnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft konnten zu Formen sozialer Demokratie führen, die das kapitalistische System bewahrte und der Bourgeoisie die Macht sicherte, ohne dass diese selbst in der Regierung sein musste. Es verlor die Bedeutung, die Definition des Staates nur auf die Elemente der Regierung zu beschränken, sie musste die Untermauerung der politischen Struktur in der Zivilgesellschaft (also für alle Klassen einer Gesellschaft) mit berücksichtigen: „[D]ie Kirche, das Bildungssystem, die Presse, alle die Institutionen, die halfen in den Menschen bestimmte Verhaltensweisen und Erwartungen im Einklang mit der hegemonialen sozialen Ordnung zu erzeugen. […] Die Hegemonie einer dominanten Klasse überbrückte so die konventionellen Kategorien von Staat und Zivilgesellschaft, Kategorien, die eine bestimmte analytische Nützlichkeit behielten, aber in der Realität aufhörten, unterscheidbaren Einheiten zu entsprechen.“ (Cox 2000:51) Je etablierter die Zivilgesellschaft, desto eingefahrener seien die Strukturen und schwieriger eine Gesellschafts- und Staatsänderung, weil neue Fundamente einer Gegenhegemonie erst aufgebaut werden müssen (während in schwachen Staaten dessen Institutionen leichter erobert werden könnten). Basis (materielle Bedingungen) und Überbau (Ideen) einer gesellschaftlichen Formation mit einer hegemonialen Klasse bilden einen „historischen Block“, wobei die beiden Ebenen einander wechselseitig beeinflussen. Ein neuer historischer Block kann entstehen, wenn eine untergeordnete Klasse eine Hegemonie errichten kann. (Cox 2000:52ff.) In einem solchen Prozess spielen „organische Intellektuelle“ eine wichtige Rolle: „Gramsci sah sie als organisch mit einer sozialen Klasse verbunden. Sie erfüllen die Funktion, mentale Bilder, Technologien und Organisationen zu entwickeln und zu erhalten, die die Mitglieder einer Klasse und eines historischen Blocks innerhalb einer gemeinsamen Identität zusammen binden.“ (Cox 2000:57) Es ist nicht schwer zu sehen, wie Elemente eines solchen historischen Blocks der USA und im historischen Block der Phase der US-Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehen haben.
Elemente des historischen Blocks der US-Hegemonie
„Entwicklung“ als Begriff erscheint bis heute mit den ideologischen Vorstellungen des Kalten Kriegs belastet, als „die Entwicklungstheorie zunehmend zur Entwicklungsideologie [mutiert]“, wie Bachinger/Matis (2009:97) es ausdrücken: „Im Westen wird die Modernisierungstheorie zur vorherrschenden Richtung des Entwicklungsdenkens. Sie stellt eine sozialwissenschaftliche Reaktion auf die Führungsrolle der USA dar und trägt im Hinblick auf die postkolonialen Länder dem Bedürfnis nach einem inhaltlich weiten Sammelbegriff Rechnung, der nicht so diskriminierend klingt wie ‚Verwestlichung’ oder ‚Zivilisierung’.“ Periphere Länder wurden als sich in einem Stadium der Unterentwicklung befindend begriffen. Der „wohl einflussreichste Vertreter der Modernisierungstheorie“ (Bachinger/Matis 2009:100), der US-amerikanische Ökonom, Historiker und Berater der Präsidenten Kennedy und Johnson, Walt W. Rostow, entwarf in seinem Buch „Stages of Economic Growth. An Anti-Communist Manifesto“ 1960 eine Konstruktion von Entwicklung, die sich um die Herstellung der industriellen Revolution in nachholenden Gesellschaft dreht („take-off“), mit „Massenkonsum als Verheißung, als kapitalistisches Erlösungsversprechen für alle, die sich dem amerikanischen Traum anschließen“. (Bachinger/Matis 2009:114) Politisch wirkte eine solche Vorstellung konservativ, wie Fischer/Hödl/Parnreiter (2007:13ff.) deutlich machen, weil in der Zeit des Wartens auf und Arbeiten für das versprochene Heil Agenden politischer Veränderungen verschoben wurden. Der ideologische Triumph des kapitalistischen Systems, schreibt Prabath Patnaik (zit. nach Andersson 2004, Sp.861), „bestehe in der Illusion, die es kreiere, inklusive unter seinen Opfern, dass sein Erfolg im Zentrum überall replizierbar sei“. Interessant ist, dass jener US-amerikanische Soziologe „als Galionsfigur agiert und zahlreiche Modernisierungstheoretiker direkt oder indirekt beeinflusst“ (Bachinger/Matis 2009:98), der wesentlich dafür verantwortlich ist, dass Max Weber nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt wird: Talcott Parsons (Bachinger/Matis 2009:448). Ein „organischer Intellektueller“? Die „Weber-These“ scheint die wissenschaftliche Grundlage für das Heilsversprechen innerhalb der USA gebildet zu haben, der „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Saga. Sie könne nämlich so gelesen werden, argumentiert Heinz Steinert (2006, zitiert nach Bachinger/Matis 2009:527): Disziplinierte Arbeit und bescheidenes Leben sind die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg, vor allem für den mäßigen Erfolg in der Lohnarbeit und in der kleinbürgerlichen Produktionsform. Die „protestantische Ethik“ ist, ohne viel Theologie, längst identisch mit dem „amerikanischen Traum“. Die „Weber-These“ lebt weiter und ist plausibel, weil sie der (säkularisierten) Wirtschaftsreligion der USA entspricht. In dieser Version gibt es keinerlei Tragik oder gar Dialektik der Vernunft und der Rationalisierung. Es handelt sich um den Kern von kapitalistischer Arbeitsmoral. Die „Weber-These“ lebt heute davon, dass die USA, die sich (immer noch, zunehmend kontrafaktisch) als protestantisch verstehen, daraus wahlweise ihre Wirtschaftsform oder ihre Religiosität oder vorzugsweise beides bestätigt sehen können. Aber schon Gramsci scheint dies gesehen zu haben, schreibt er doch, die Entwicklung der puritanischen Ideologie in den USA diene dazu, „eine neue Anpassung an die neue Arbeit zu erreichen, […] welche dem innewohnenden brutalen Zwang die äußere Form der Überredung und des Konsenses verleiht“ (zit. nach Haug 2004, Sp. 18).
Dieses Verständnis von Entwicklung und Wohlstand ist ein Aspekt der Stabilisierung von Hegemonie. Die Risse, die dadurch entstanden, dass sich die Heilsversprechungen nicht einstellten, können exemplarisch wieder an der Deklaration von Cocoyoc abgelesen werden: „[D]er Ausgangspunkt für den Entwicklungsprozess unterscheidet sich von einem Land zum anderen, aus historischen, kulturellen und anderen Gründen. Folglich betonen wir die Notwendigkeit, viele verschiedene Entwicklungswege einzuschlagen. Wir weisen die einseitige Sichtweise zurück, die Entwicklung notwendigerweise und zwangsläufig als Bemühung begreift, das historische Modell der Länder zu initiieren, die aus verschiedenen Gründen heute reich sind. Deshalb weisen wir das Konzept von Gefällen [„gaps“] in der Entwicklung zurück. Das Ziel ist nicht „aufzuholen“, sondern die Lebensqualität für alle sicherzustellen, mit einer produktiven Basis kompatibel mit den Bedürfnissen zukünftiger Generationen.“ (Cocoyoc Declaration 1974:6)
Staaten, Hegemonie und ungleiche Entwicklung
Der Staat im erweiterten Verständnis von Gramsci, als Ausdruck der Klassenauseinandersetzung und Sozialstruktur, tritt als Akteur mit anderen Staaten in Beziehung. Die Ausprägung entscheidet in diesem Verständnis über die Machtposition: „[D]ie Staaten, die mächtig sind, sind jene, die eine tiefgreifende soziale und ökonomische Revolution durchlebt hatten und die Konsequenzen dieser Revolution am stärksten in Form von staatlichen und sozialen Beziehungen umgesetzt haben.“ (Cox 2000:59) Solche mächtigen Entwicklungen, wie etwa im Frankreich der Revolution bzw. in den USA und in der UdSSR, seien über die nationalen Grenzen hinaus wirkende „international weitreichende Phänomene“. In jenen Ländern, die Empfänger solcher Phänomene waren und in denen Veränderungen nicht einer weitreichenden eigenständigen ökonomischen Entwicklung entsprangen, sondern die vielmehr internationale Entwicklungen reflektierten, die ihre Auswirkungen auf die Peripherie abstrahlten, sprach Gramsci von „passiver Revolution“. (Cox 2000:59) Eine passive Revolution scheint „Revolutionen“ von oben einzuschließen, die, wie in Bismarcks Deutschland, die davon profitierende Klasse nicht hegemonial werden lässt. Wie Peter Thomas (2006:73ff.) ausführt, entwickelte Gramsci diese konkreten historischen Beobachtungen (Deutschland, Italien) zu einem allgemeinen Konzept, ausgehend von Marx’ Analyse, dass eine Gesellschaftsformation nie untergehe, bevor alle Produktivkräfte entwickelt seien, für die sie weit genug ist, bzw. neue, höhere Produktionsverhältnisse die alten ersetzen, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben „im Schoß der alten Gesellschaft“ entstanden seien: „Revolution bezeichnet hier“, argumentiert Peter Thomas (2006:73), „die Kapazität der herrschenden Klasse weiterhin substanzielle und wirkliche historische Vorteile zu bringen, indem sie wirkliche soziale Transformationen produziert, die, zumindest formell, als progressiv verstanden werden konnten; passiv bezeichnet weiterhin den Versuch, diese Transformationen ohne weitreichende Involvierung der unteren Klassen zu erzeugen, aber durch die molekulare Absorption von deren führenden Elementen in ein hegemoniales Projekt. Passive Revolution aber als Konzept bezeichnet nicht länger ein wieder erkennbares Ereignis. In dieser finalen Verwendung hat passive Revolution eher eine allgemeinere Bedeutung als Logik einer bestimmten Art von Modernisierung. Auf eine bestimmte Art wurde dieses Konzept fast ein Synonym für Moderne, die nun als melancholische Erzählung gesehen wird, in der die Masse der Menschheit reduziert wird zu reinen Zusehern einer Geschichte, die ohne ihre Beteiligung fortschreitet.“
Ähnliche Vorstellungen finden sich in der Analyse von Leo Trotzki zu den Beziehungen zwischen Regionen unterschiedlicher politökonomischer Entwicklung, die dieser ab 1905 entwickelte und Theorie ungleicher und kombinierter Entwicklung nannte. Wie bei der passiven Revolution bringen äußere Einflüsse die Vorstellung der selbstständigen Produktivkraftentwicklung innerhalb eines Landes durcheinander. Trotzki (1930: Band 1, Kapitel 1) versuchte die Entwicklungen in Russland zu erklären, die rückständig waren im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten, dennoch aber deren Einfluss ausgesetzt: „Ein rückständiges Land eignet sich die materiellen und geistigen Eroberungen fortgeschrittener Länder an. Das heißt aber nicht, daß es ihnen sklavisch folgt und alle Etappen ihrer Vergangenheit reproduziert. […]“. Die globale kapitalistische Entwicklung habe eine Tendenz zur Angleichung (Konvergenz), in dem Sinn, dass sobald ein rückständiges Land dem kapitalistischen Einfluss ausgesetzt ist, der Pfad der Entwicklung geändert ist: „Gezwungen, den fortgeschrittenen Ländern nachzueifern, hält das rückständige Land die Reihenfolge nicht ein: das Privileg der historischen Verspätung – und ein solches Privileg besteht – erlaubt, oder richtiger gesagt, zwingt, sich das Fertige vor der bestimmten Zeit anzueignen, eine Reihe Zwischenetappen zu überspringen. […] Die Entwicklung einer historisch verspäteten Nation führt notgedrungen zu eigenartiger Verquickung verschiedener Stadien des historischen Prozesses. In seiner Gesamtheit bekommt der Kreislauf einen nicht planmäßigen, verwickelten, kombinierten Charakter.“ Aber: „Die Möglichkeit, Zwischenstufen zu überspringen, ist selbstverständlich keine absolute; ihr Ausmaß wird letzten Endes von der wirtschaftlichen und kulturellen Aufnahmefähigkeit des Landes bestimmt. Eine rückständige Nation drückt außerdem die Errungenschaften, die sie fertig von außen übernimmt, durch Anpassung an ihre primitivere Kultur hinab. Der Assimilationsprozeß selbst bekommt dabei einen widerspruchsvollen Charakter.“ Westliche Technik und Ausbildung, europäische Rüstung und Anleihen hätten auch „die Verschärfung des Leibeigenschaftsrechtes als Grundform der Arbeitsorganisation mit sich“ gebracht und zu einer „Befestigung des Zarismus“ geführt, „der seinerseits die Entwicklung des Landes hemmte“. „Die geschichtliche Gesetzmäßigkeit hat nichts gemein mit pedantischem Schematismus. Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses, enthüllt sich am krassesten und am verwickeltsten am Schicksal verspäteter Länder. Unter der Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu machen. Aus dem universellen Gesetz der Ungleichmäßigkeit ergibt sich ein anderes Gesetz, das man mangels passenderer Bezeichnung das Gesetz der kombinierten Entwicklung nennen kann im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen.“
Die Theorie der ungleichen und kombinierten Entwicklung eröffnet unterschiedliche Entwicklungspfade. „Rückständige“ Länder können einen Vorteil haben, „nicht selten ist das Resultat aber eine Form von modifizierter Rückständigkeit“ (van der Linden 2007:149). Van der Linden nennt die Weiterentwicklung dieser Theorie „Trotsky-Novack-Mandel approach“, nach Ernest Mandel und dem US-Philosophen George Novack. Mandel argumentierte, dass inter-imperialistischer Wettbewerb zu weiterer Differenzierung führe, der Vorteil des Sprungs vorwärts und der kompletten Wiederholung des Prozesses der Industrialisierung, wie es Deutschland gelungen ist, aber verschwunden sei (van der Linden 2007:151ff).
Hegemonie und internationale Ebene
Hebt man nun die Vorstellung der Hegemonie von der nationalen Ebene auf die internationale, wie es Cox (2000:61) in Anlehnung an Gramsci tut, dann „würde es scheinen, dass, historisch betrachtet, um hegemonial zu werden, ein Staat, eine Weltordnung gründen und beschützen müsste, die universell in der Konzeption ist, d.h. keine Ordnung, in der der Staat andere direkt ausbeutet, aber eine Ordnung, die die meisten anderen Staaten […] mit ihren Interessen kompatibel empfinden. So eine Ordnung würde kaum in zwischenstaatlichen Begriffen allein verstanden werden […]. Das hegemoniale Konzept einer Weltordnung ist nicht nur in der Regulation zwischenstaatlicher Konflikte begründet, sondern auch als global verstandene Zivilgesellschaft, d.h., eine Produktionsweise globaler Reichweite, die Verbindungen unter den sozialen Klassen der Länder, die sie umfasst, mit sich bringt. […] Eine Welthegemonie ist daher am Beginn eine Außenexpansion der internen (nationalen) Hegemonie, die von einer hegemonialen Klasse etabliert worden ist.“ Wie schon besprochen können periphere Länder ökonomische und soziale Strukturen bzw. Technologien und kulturelle Elemente in einer passiven Revolution übernehmen, ohne dass die politischen Modelle des Zentrums übernommen werden. Ein Mechanismus, der dabei der Verbreitung dient, sind internationale Institutionen. (Cox 2000:61ff) Giovanni Arrighi (1994:29) basiert seine sehr elaborierte Analyse von Hegemonie auf Gramscis Vorstellungen: „Ein dominanter Staat übt eine hegemoniale Funktion aus, wenn er das Staatensystem in eine gewünschte Richtung führt, und, indem er das tut, dies als Ausübung eines allgemeinen Interesses empfunden wird.“ Er könne damit aber auch die anderen Staaten auf den Pfad der eigenen Entwicklung führen und damit deren Macht vergrößern, was letztlich zu mehr Konkurrenz führe und die Hegemonie unterwandere. Dieses „allgemeine Interesse“ sei aber international schwerer zu definieren als auf der nationalen Ebene.
Weitere Elemente des historischen Blocks der US-Hegemonie
Neben der Modernisierungstheorie und der Weber-These können auch anti-kommunistische Vorstellungen im Kalten Krieg zu diesem historischen Block gehören. Die Rolle der Wissenschaft für die Ideologiebildung hat Karl Georg Zinn pointiert festgehalten: „Die politische Notwendigkeit, die Herrschaftsdoktrin in einem säkularisierten, wissenschaftsgläubigen Zeitalter mit Rückgriff auf wissenschaftliche Argumentation anzureichern, gibt der Wissenschaft auch für die Ideologiebildung eine herausragende Rolle, die [...] in vorindustriellen Zeiten der Theologie zukam. Die Politische Ökonomie nimmt in diesem Kontext wiederum eine Sonderstellung ein, da sie sich mit der Wirtschaft, dem zentralen historischen Phänomen der Industriegesellschaft, befaßt.“ (Zinn 1987: 20) Diese politische Ökonomie wurde im Zeitalter des Imperialismus und der Herausbildung des Monopolkapitalismus des 19. Jahrhunderts zur Ökonomie, eine Wissenschaft, die sich von der Sozialwissenschaft zu distanzieren suchte und Gesetzmäßigkeiten analog zur Mechanik in der Physik behauptete. Anachronismus, kontrafaktische Annahmen und theoretische Widerlegungen konnten Erfolg und Renaissance der dominanten neoklassischen Theorie in der Ökonomie wenig anhaben. (Für eine sehr geraffte Darstellung vgl. Weissenbacher 2008:85ff.) Übersehen wird oft, dass schon die am Reißbrett entstandene ursprüngliche Neoklassik eine antimarxistische ideologische Agenda gehabt zu haben scheint. (Screpanti/Zamagi 1993:154) Ab den 1970er Jahren begann sich, ausgehend von den USA, ein Paradigma bestehend aus einer Kombination von neoklassischer Wirtschaftstheorie, neoliberaler Wirtschaftsideologie und postmoderner Konsumideologie global durchzusetzen. (vgl. Weissenbacher 2008:107ff.) In diesem „historischen Block“ läuft die „Zivilgesellschaft“ Gefahr unter die Räder zu kommen, wie Haug (2004: Sp.3f.) schreibt, sie erodiere „konsumistisch unterm Einfluss TV-vermittelter Zerstreuung. Zumal in den USA erreichen hegemonierelevante Debatten nur eine Minderheit, während die Mehrheit – als „Nichtwähler“ – hegemoniepolitisch neutralisiert ist“. „Die ideologische Präferenz von mächtigen sozioökonomischen Gruppen für einen neoklassischen Typ von Theorie“, schrieb der unlängst verstorbene österreichische Ökonom Kurt Rothschild (2002:440) sei „nicht die Ursache der Existenz oder sogar der Dominanz der neoklassischen Theorie, aber es würde ebenso naiv sein zu übersehen, dass das Anhängen an diese Theorie die Akzeptanz in einflussreichen Zirkeln erleichtere und zusätzliche Forschungsmittel sichere. […] Extrem formuliert könnte man sagen, dass gesellschaftliche Macht die Untersuchung von Modellen machtloser Gesellschaften fördere.“ Auch die derzeitige Krise konnte dieser Dominanz noch nichts anhaben: „Die analytische Hilflosigkeit der Neoklassik war angesichts der Krise offensichtlich, so manche Auftritte ihrer Vertreter wirkten nur noch peinlich“, heißt es im Editorial zum Heft Nr. 164 der „Prokla“ (2011:340), geschadet habe dies der Neoklassik nicht sehr viel. Ben Fine (2006:12) spricht von Amerikanisierung der Ökonomie, die unter weitreichender Führung von wenigen Individuen und Institutionen stehe. Der kanadische Ökonom Michel Chossudovsky (1996:42) hält es für die Hauptfunktion von Universitäten, loyale und vertrauenswürdige Ökonomen zu produzieren. In den für die Vermittlung von Hegemonie so wichtig eingeschätzten internationalen Organisationen arbeiten AbsolventInnen von Universitäten weniger Länder: Studien aus den 1990er Jahren haben gezeigt, dass 90% der promovierten IWF-MitarbeiterInnen PhD-Abschlüsse von US- oder kanadischen Universitäten hatten, mehr als 80% der hochrangigen MitarbeiterInnen aus den Abteilungen Forschung, Politik und externe Angelegenheiten der Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank) hatten in Ökonomie oder Finanzwissenschaften an Universitäten in England oder den USA graduiert (Woods 1998:100). Private Gremien gewannen an Bedeutung für die internationale politische Ökonomie, die 1973 erfolgte „Gründung […] der trilateralen Kommission […] geht auf die Notwendigkeit in den 1980er Jahren zurück, die japanischen Eliten in die informellen Netzwerke der herrschenden atlantischen Klasse zu integrieren.“ (Overbeek 2008:199). Multinationale Konzerne sind weitere Elemente in diesem System (vgl. Overbeek 2008:200). Nicos Poulantzas hatte den Einfluss des US-amerikanischen Kapitals in den 1970er Jahren untersucht und zwischen Compradorenbourgeoise und innerer Bourgeoise unterschieden. Unter ersterer verstehe man „für gewöhnlich die Fraktion der Bourgeoise, die nicht über eine eigene Basis der Kapitalakkumulation verfügt, die gewissermaßen als bloßer „Vermittler“ des ausländischen imperialistischen Kapitals agiert“, zweitere, „die mit eigentlich compradorischen Sektoren koexistiert, besitzt, wenn auch in ungleichen Abstufungen in den verschiedenen Formationen, nicht mehr die strukturellen Merkmale der nationalen Bourgeoise. Aufgrund der Reproduktion des amerikanischen Kapitals innerhalb dieser Formationen selbst ist sie […] durch vielfältige Abhängigkeiten in den Prozess der internationalen Arbeitsteilung und Kapitalkonzentration unter der Herrschaft des amerikanischen Kapitals verstrickt.“ (Poulantzas 2001:51f.) Der Staat werde durch die US-Hegemonie nicht abgeschafft, vielmehr internalisieren und unterstützen Fraktionen der jeweiligen inneren Bourgeoisie deren Elemente und Interessen (Poulantzas 2001:53ff.).
Diese knappen Bemerkungen verweisen auf a) eine gute Verankerung des „historischen Blocks“ der US-Hegemonie, auch mit „organischen Intellektuellen“, und b) die Schwierigkeiten, diesen „historischen Block“ mit Ausformungen einer Gegenhegemonie zu ersetzen, da man einer sich universalistisch präsentierenden, national und international verankerten Hegemonie in einem nationalen Prozess (der ja nach Gramscis Vorstellungen dem internationalen vorangestellt ist) begegnet.
Das Ende der Hegemonie?
Phasen der Hegemonie dauern nicht lange. Grob gesprochen habe die britische von 1845-75 gedauert, argumentiert Cox (2000:60f.), bevor eine Phase begann, in der sie herausgefordert wurde (1875-1945). Die US-Hegemonie habe ungefähr von 1945-65 gedauert, bevor unsichere Zeiten gefolgt seien. Drei Möglichkeiten der strukturellen Reform hätten sich eröffnet: „eine Rekonstruktion der Hegemonie mit einer Verbreiterung des politischen Engagements entlang der Linien, die die Trilaterale Kommission vorgesehen habe; größere Fragmentierung der Weltökonomie um ökonomische Sphären von Großmachtzentren; und die mögliche Geltendmachung einer drittweltbasierten Gegenhegemonie mit einer konzertierten Forderung für eine neue ökonomische Weltordnung als Vorbote.“
Im Jahr 1973, als die Trilaterale Kommission zum ersten Mal zusammentrat, schien sich ein Zeitfenster für Veränderungen aufzutun. Die Hegemonie der USA hatte Risse bekommen. Die Regierung Nixon hatte 1971 den Gold-Standard aufgegeben und de facto das Bretton Woods System aufgekündigt. Davor hatten die Zentralbanken alliierter Staaten US-Dollars gehortet, die diese etwa zur Finanzierung des Vietnamkriegs oder der Programme von Lyndon B. Johnson gedruckt hatten, und so den Wechselkurs stabil gehalten und den USA einen kostenlosen Kredit gewährt. Ab 1974 gab es die europäische Währungsübereinkunft („Währungsschlange“), die auch eine Weigerung, weiterhin US-Dollar zu horten, beinhaltete. Die westeuropäischen Staaten versuchten, aus der US-Hegemonie auszubrechen und in einer Annäherung an Drittweltstaaten bzw. ölproduzierende Länder eine Gegenposition zu den USA zu entwickeln. Im Yom Kippur-Krieg Ägyptens und Syriens gegen Israel, der auch mit einem Ölembargo gegen die USA verbunden war, hemmten die EWG-Staaten US-Kriegsbemühungen. Grundsätzlich zeigten die Westeuropäer aber eine größere Anfälligkeit gegenüber der Ölpreisbildung der OPEC (Vervierfachung des Preises 1973) als die USA. Dollarüberhängen von OPEC-Staaten wurde mit Beteilungs- und Kaufbeschränkungen von und bei US-Unternehmen begegnet. Am Ende von 1973 setzte die erste globale Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Vorstellungen einer neuen ökonomischen Weltordnung konnten sich nicht durchsetzen. (Für eine detaillierte Analyse siehe: Hudson 2005)
Die Wiederherstellung der Hegemonie
Die Wiederherstellung der US-Vormachtstellung stützte sich auf die „Kampfideologie Neoliberalismus“ (Hirsch 2001b:194), die mit den Regierungen Thatcher ab 1979 in England und Reagan ab 1980 in den USA auch international verbreitet wurde. Die Stärkung des US-Dollar wurde mit der Hochzinspolitik der USA ab 1979 („Volcker-Schock“) eingeleitet, die die Zinsen auf internationale Kredite (LIBOR, US-Prime) über Nacht explodieren ließ, Kapital in die USA zog, internationale Kredite teuer und knapp machte (Kreditkrise). Diese Mechanismen sind vielfach beschrieben worden (Weissenbacher 2005: Kap.IV), Kredite wurden mit Bedingungen verknüpft, die den peripheren Ländern neoliberale Rezepte oktroyierten, die später als Washington Consenus bekannt wurden. Kontrolle der Leitwährung, Verbreitung eines liberalen ökonomischen Paradigmas, die Macht, dieses Paradigma falls notwendig zu brechen (Protektionismus, Beteiligungsverbot, „freiwillige Selbstbeschränkungen“) und Aushöhlung der Möglichkeiten der Nationalstaaten auf eine eigene Geldpolitik (aufgrund der Liberalisierung der Finanzmärkte) restrukturierten das kapitalistische System und stellten die US-Vormachtstellung wieder her. Die Geldpolitik der USA und die Sparprogramme nach der Kreditkrise reduzierten die Preise für Güter aus peripheren Ländern in den 1980er Jahren um 40%, für Öl um 50%, schreibt Arrighi (1994:323): „Wie durch Zauberhand hatte sich das Blatt gewendet. Von nun an würden nicht länger Banker aus der 1. Welt Drittweltstaaten darum bitten, ihr überreichliches Kapital zu borgen; es würden Drittweltstaaten sein, die Regierungen der 1. Welt und Banker darum bäten, ihnen die notwendigen Kredite zu geben, um in einem zunehmend integrierten, konkurrenzbetonten und schrumpfenden Weltmarkt liquide zu bleiben.“ Auch innerhalb der USA kam es zu einschneidenden sozialen Veränderungen. Die mit der Reagan-Ära beginnende Aushöhlung des US-Sozialsystems und die Umverteilung nach oben (Martin 1990, Phillips 1990), führte, wie Gangl (2005:142) deutlich machte, zur größten Ungleichheit von Einkommen und Lebensstandard in der industrialisierten Welt. Der Druck auf die Löhne ermöglichte es US-amerikanischen Unternehmen ihre Profitabilität zu wahren. Dem Verlust des Konsumniveaus wirkte eine massive Verschuldung privater Haushalte entgegen. (Shaik 2010) Ein Teil des Wohlstandsverlustes in den USA (und auch Europa) wurde durch die Ausbeutung von Billigarbeitskräften in anderen Teilen der Welt kompensiert, die günstige Preise und niedrige Inflation gewährleisteten. (Pain/Koske/Sollie 2006:34, Blackburn 2008:66) Ein „Gefängnis-Boom“, der vor allem AfroamerikanerInnen ohne College-Abschluss traf (Western et.al. 2005:28), führte zur höchsten Prokopf-Gefängnisinsassenrate der Welt, weit vor dem Iran oder China (Liptak 2008).
„[D]ie neoliberale Globalisierungsoffensive seit den siebziger Jahren“, schreibt Joachim Hirsch (2001:114), müsse ganz wesentlich „als Versuch der USA gewertet werden […], die konkurrierenden europäischen und asiatischen – stärker staatskapitalistisch und staatsinterventionistisch geprägten – Fordismusmodelle auszuhebeln, d.h. das US-amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell wieder beherrschend zu machen“. Die USA wurden zwar durch die Hochzinspolitik in den Reagan-Jahren zu Netto-Schuldnern und verloren ihre Position in der verarbeitenden Industrie (Lamm 1988:15). Mit dem Plaza-Abkommen (Dollar-Abwertung) der G-5 Staaten konnten sie den Trend jedoch für 10 Jahre umkehren und die Belastung auf ihre Konkurrenten (vor allem BRD und Japan) abwälzen (Brenner 2000, 7ff.). Der zunehmenden internationalen Konkurrenz wurde schließlich auch militärisch mit einer Erhöhung der Rüstungsausgaben begegnet (Duffey 1988:83). Das US-Entwicklungsmodell wird vom bei weitem größten Militär- und Rüstungssystem der Welt getragen (Serfati 2004).
Diese wenigen Befunde deuten an, dass die Restaurierung der Vormachtstellung der USA national und international mit erheblichem Druck zustande gekommen ist. Diese Rivalität ist von vielen als Imperialismus bezeichnet worden (z.B. Hirsch 2001a, Harvey 2003). Ich bleibe aber bei dem Versuch, diese Veränderungen im Rahmen des Konzepts der Hegemonie zu betrachten. Anknüpfend an den französischen Historiker Braudel entwickelte Arrighi (Silver/Arrighi 2011, in dieser Kurzfassung finden sich die Literaturhinweise zu den vorangegangen Studien) ein Konzept von Hegemonie, in dem die Forcierung eines finanzgetriebenen Akkumulationsmodells und die wirtschaftlichen Erholung und Wiederherstellung der Hegemonie nach der Erschöpfung einer Phase der materiellen Expansion als „wiederkehrende Tendenz“ verstanden wird. Dies habe sich schon bei der Ablösung des genuesisch-spanischen Zyklus, des niederländischen, des britischen bis hin zum gegenwärtigen US-amerikanischen gezeigt. In allen vier Fällen habe sich die Profitabilität (und die Verteilung von Einkommen und Vermögen) von Handel und Produktion zu den Finanzmärkten verschoben. Am Beginn dieser Restauration stehe eine „Signalkrise“ (jene der US-Hegemonie sei die der 1970er Jahre gewesen), am Ende der jeweiligen Hegemonie, bevor eine neue entstehe, gebe es eine Endkrise („terminal crisis“). Die Phase der Finanzialisierung der Ökonomie sei der Herbst des scheidenden Hegemons und der Frühling des neuen. Zumindest in den drei historischen Fällen sei es so gewesen, die jeweilige wirtschaftliche Erholung (der Herbst) sei von kurzer Dauer gewesen (Silver/Arrighi 2011, Arrighi 2010).
Dieses Mal ist alles anders
In die Konzeption von Silver/Arrighi (2011) ist auch ein evolutionärer Prozess eingebaut. Die Hegemonie werde jeweils auf höherer Ebene restrukturiert, sowohl was das Territorium betrifft (vom Stadtstaat zum „militärisch-industriellen Komplex von kontinentaler Größe“) als auch die Zunahme an Macht und Komplexität. Dieser evolutionäre Prozess erreiche aber heutzutage seine Grenzen, weil „die Staats- und Kriegsführungsfähigkeiten der traditionellen Mächte so weit entwickelt sind, dass diese nur in der Formation eines wahrhaft globalen Empires weiter wachsen können“ (Arrighi 2010:381). Es seien keine direkten Schlüsse von den historischen Erfahrungen auf die Phase nach der US-Hegemonie möglich. Mit der Aufteilung von ökonomischer (Ostasien) und militärischer Macht (USA), zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus, sei eine kritische Anomalie aufgetreten: Die Militärmacht (USA) sei in Ostasien verschuldet. Arrighis ursprüngliche drei Szenarien von 1994 sahen folgendes vor: (1) Ein neues hegemoniales Regime müsste eine Regierungsorganisation haben, die einem Weltstaat näher käme und „am wichtigsten, das neue Regime würde die Kosten der Reproduktion menschlichen Lebens und der Natur internalisieren, was das US-Regime noch zu externalisieren tendiert hat“ (Arrighi 2010:379). Dieses Regime würde eine Formation aus den USA und den europäischen Verbündeten bilden; (2) die Formation einer nicht-kapitalistischen Welt, weil kein globales Empire entstehen konnte; dies wäre eine Weltmarktgesellschaft mit Ostasien im Zentrum, basierend auf „gegenseitigem Respekt der Weltkulturen und Zivilisationen“ (Arrighi 2010:381); (3) eine Situation endlosen Chaos’.
Die „Belle Epoche“ der US-Hegemonie in den 1990er Jahren hatte darauf beruht, dass die USA zwei globale Funktionen ausüben konnte: die Rollen als Reservemarkt für Güterimport und als unabkömmliche politisch-militärische Macht. Beides war davon abhängig, dass der Rest der Welt für beide Funktionen Kapital auf einer immer größeren Skala zur Verfügung stellte. (Arrighi 2007:194) Nach der Endkrise („terminal crisis“) der US-Hegemonie (Platzen der New Economy-Blase, das Scheitern einer Reaktion auf 9/11 und die Finanzkrise 2008) erscheinen beide Funktionen gefährdet. Der Versuch der Regierung George W. Bush, unilateral ein neokonservatives Projekt für ein amerikanisches Jahrhundert, das schon vor 9/11, 1991, in der Zeit der Präsidentschaft Bush sen. formuliert worden war (Overbeek 2008:209), gewaltsam durchzusetzen, war die nicht vorhergesehene Wendung in Arrighis Konzept (Arrighi 2010:379, 2009:88). Die Beziehungen der USA zum Rest der Welt seien nun eine „Vorherrschaft ohne Hegemonie“. (Arrighi 2010:384, Arrighi 2007: Kapitel 7) Die USA seien aber weit davon entfernt, eine Basis für ein weiteres „amerikanisches“ Jahrhundert zu legen. Der Besetzung des Iraks habe die Glaubwürdigkeit der US-Militärmacht gefährdet, die zentrale Stellung der USA und ihrer Währung in der internationalen politischen Ökonomie unterminiert und „die Tendenz gestärkt, dass China als Alternative zur US-Führung in Ostasien und darüber hinaus entstehe“ (Arrighi 2007:209), auch wenn „ein multilaterales imperiales Projekt“ der USA und der EU nach dem Fehlschlag des unilateralen der USA „günstigere Bedingungen“ (Arrighi 2010:385) haben könnte.
Abschließende Betrachtungen
Wenn man die hier angedeuteten Aspekte von Hegemonie als konsensual versteht, in dem Sinne, dass die vertretenen Interessen als allgemeine empfunden werden, dann kann man sich diesem Konzept wohl nur mit Vorsicht nähern. Denn unmittelbare militärische Gewalt spielte zu jedem Zeitpunkt der US-Hegemonie eine wichtige Rolle. Andererseits wurden Stellvertreterkriege mit der Sowjetunion und, nach deren Implosion, Kriege oder Interventionen, die behaupteten, im Dienste der Menschenrechte durchgeführt zu werden, oft sehr gut und scheinbar mehrheitlich als im allgemeinen Interesse stehend medial verankert. Die kräftigen Dispositive des „historischen Blocks“ der US-Hegemonie bedürfen meiner Ansicht nach keiner Erläuterung, deren Wirksamkeit, aller kontrafaktischen Erkenntnisse zum Trotz, scheint mir deutlich zu sein. Die US-amerikanisierung reicht von der Wirtschaftswissenschaft bis zum Konsumismus, zumindest bei letzterem scheint mir, vermittelt durch das Fernsehen, eine sehr weitreichende Durchdringung offensichtlich. Dies könnte man vielleicht auch als Aspekt der ungleichen und kombinierten Entwicklung bzw. der passiven Revolution verstehen, wenn technische Neuerungen die letzten Winkel der Erde erreichen (damit auch Elemente des historischen Blocks vermitteln), nicht aber Institutionen etc.
Im skizzierten Sinne würde eine subalterne Klasse (mit Hilfe von organischen Intellektuellen) versuchen, national eine Gegenhegemonie aufzubauen, um einen neuen historischen Block zu formen. In der Folge würde dies international geschehen. Eine solche Abfolge erscheint unwahrscheinlich, insbesondere bei einer so starken Verankerung eines historischen Blocks mit Hilfe von Poulantzas’ inneren Bourgeoisien.
Arrighis Konzept von Hegemonie bezieht sich zwar auf Gramsci, aber scheinbar mehr auf die Definition von Hegemonie als auf die Veränderung durch Subjekte. Sonst müsste man sich auch die Frage stellen, ob es einen neuen historischen Block mit einer neuen Klasse als Basis eines neuen hegemonialen Modells gegeben habe (Genua/Spanien, Niederlande, Großbritannien, USA), oder ob dies Spielarten eines historischen Blocks gewesen seien. Spielt man diesen Gedanken weiter hinsichtlich der Frage nach einem chinesischen Modell der Hegemonie (Arrighi 2009:88f.), könnte man dann schnell ratlos werden. Wenn das chinesische Modell nun ein staatskapitalistisches ist, dann würde dem Hegemoniemodell zur Folge (eine schnelle Übernahme der Staatsinstitutionen ist offensichtlich nicht erfolgt) gerade eine kapitalistische Klasse einen neuen historischen Block gegenüber den Arbeiter- und Bauernklassen etabliert haben? Realistischer erschiene dann die Vorstellung einer passiven Revolution: Nicht hegemoniale Klassen (Bauern, in geringerem Maße: Arbeiter) übernahmen 1949 im Bürgerkrieg und im Kampf gegen die japanische Besatzung die Macht und bildeten dann Institutionen. Die Bürokratie des Staates und der Partei öffnete in den 1970er Jahren Wege zu Segmenten kapitalistischer Entwicklung, eine „passive Revolution“ öffnet einen Entwicklungspfad (ungleiche und kombinierte Entwicklung) zu einer staatsgelenkten Form des Kapitalismus mit offenem Ausgang hinsichtlich der Strukturen und Institutionen. Hinsichtlich der skizzierten Vorstellungen von Hegemonie erschiene dieses Entwicklungsmodell kein aussichtsreicher Kandidat für eine neue hegemoniale Macht, eher als Teil der alten. Folgt man Hyekyung Cho (2007), könnte ein solches Modell Plausibilität haben: Was die chinesische Transformation nach Experimenten mit Marktwirtschaft und Planwirtschaft „hervorgebracht hat, ist keine Marktwirtschaft, sondern ein autoritärer Staatskapitalismus“ (Cho 2007:265). China sei ein Land, „das eine rücksichtslose Ausbeutung und Entrechtung der Lohnabhängigen wie der Armen betreibt und jegliche Möglichkeiten für demokratische Kontrolle über politische und ökonomische Entscheidungsprozesse ablehnt […]“ (Cho 2007:253) „Die neuen Kapitalisten wachsen in einer engen Verbundenheit mit dem KP-Staat. Schließlich war er ihr Geburtshelfer. [Die Kapitalisten] bilden die Machtbasis der KP […] Diese enge Verbundenheit der neuen Kapitalisten mit der Partei ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass die KP-Herrschaft trotz aller sozialen Probleme stabil geblieben ist. (Cho 2007:266) Die wachsende Macht des Privatkapitals stelle eine Herausforderung für den autoritären Staatskapitalismus dar, dessen Erfolg an eine bestimmte Entwicklungsphase gebunden sei, „in der die Bedingungen für eine kapitalistische Marktwirtschaft noch nicht ausgereift waren. Wie der Untergang der autoritären Entwicklungsstaaten in Ostasien gezeigt hat, gerät die staatliche Bevormundung zunehmend in Konflikt mit den Interessen des wachsenden Privatkapitals.“ (Cho 2007:266)
Es hätte schlimmer kommen können, scheint Wang Hui (2009:xxvii) zu argumentieren: „Einfache Beschreibungen der Rolle des chinesischen Staates als „totalitär“ verwechseln oft die positiven mit den negativen Aspekten der Rolle des Staates.“ China habe in der Reformperiode keine Schocktherapie durchgeführt wie in Russland, sei aber wesentlich geschickter mit der ökonomischen Regulation verfahren. Dass das chinesische Finanzsystem sich als relativ stabil herausgestellt habe, sei dem Umstand geschuldet, das China eine bewusste Politik vollzogen habe, den neoliberalen Pfad nicht vollständig zu verfolgen. An die Adresse von Arrighi meint Wang, man dürfe bei der Betrachtung der langen Tradition von Märkten in China die Chinesische Revolution und deren Reorganisation sozialer Beziehungen nicht vergessen, die eine Transformation des traditionellen in den neuen Markt erst möglich gemacht habe. Besonders die Landreform habe für die Bevölkerung eine wichtige Rolle gespielt, dies werde deutlich, wenn man die chinesische Situation mit jener der Landbevölkerung in Lateinamerika oder Südasien vergleiche, die an das Land der Großgrundbesitzer gebunden sind (Wang 2009: xxivff.). Ob es nun lang zurückliegende oder jüngere Traditionen sind, die chinesische Entwicklung zum Kapitalismus scheint anders zu verlaufen. Die Analyse, dass „Chinas neue Herrscher […] zur Krisenüberwindung nicht fähig und an einem Ende der US-Hegemonie, unter deren Schutz sie sich so prächtig entwickelt haben, nicht interessiert“ seien (Schmidt 2010:522, der China als Juniorpartner der US-Hegemonie sieht, ähnlich wie Japan und die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg) scheint durch andere Befunde relativiert zu werden. China suche eine graduelle Modifikation der Pax Americana, keine direkte Herausforderung, schreiben Schweller und Xiaoyu (2011:53) und beziehen sich auf chinesische Wissenschafter und Politiker, die zu wissen meinen, dass die Zeit Chinas kommen werde. Ein entwicklungstheoretisch interessanter Aspekt betrifft den Umstand, dass der deutsche Nationalökonom Friedrich List, bekannt für sein Eintreten gegen Hegemonie und Freihandel Großbritanniens im 19. Jahrhundert, nun auch für die internationale politische Ökonomie des 21. Jahrhunderts wieder belebt wird. Ha-Joon Chang (2003) hatte in seinem Buch über die Widersprüche zwischen verordneter Wirtschaftspolitik im Rahmen des historischen Blocks der USA und den tatsächlichen Erfolgsrezepten der Länder des heutigen Zentrums bereits an List angeknüpft. Schweller und Xiaoyu (2011:71f.) verweisen auf List, wenn sie argumentieren, dass China für eine Balance gegen die US-Hegemonie deutlich machen müsse, dass diese gefährlich für Wohlstand und Sicherheit anderer Großmächte sei. Eine bemerkenswerte theoretische Analyse bietet Gerard Strange (2011) an. Er knüpft an (hier skizzierte Vorstellungen) von Arrighi an, kritisiert aber eine andere, sich auf Gramsci beziehende Schule, nämlich jene des „neuen Konstitutionalismus“ um Stephen Gill, aber auch die Ansätze des radikalen Geographen David Harvey. Strange weist Vorstellungen zurück, China sei seit dem WTO-Beitritt 2001 in einem neoliberalen Entwicklungspfad gefangen, hätte sich von keynesianischen Pfaden einer unabhängigen Modernisierung verabschieden müssen, und sei ein Wettbewerbsstaat autoritärer Prägung, der von ausländischem Kapital diszipliniert werde. Strange (2011:544) dreht diese Lesart von Konstitutionalismus um, indem er argumentiert, dass es China gerade innerhalb dieser internationalen Institutionen geschafft habe, die US-Hegemonie herauszufordern: „Als global orientierter oder „post-Listianischer“ Entwicklungsstaat, einer mit Marktregulierungsfähigkeiten und makroökonomischen Fähigkeiten, hat sich China erfolgreich dem Neoliberalismus widersetzt, indem es konstruktiv die liberale „Global Governance“ eingesetzt hat.“ Er spricht von post-Listianisch, um die „Dialektik einer Form des staatlichen Developmentalismus einzufangen, der von Beginn an innerhalb der Globalisierung handeln musste“. Eine Strategie nach List sähe vor, dass nationale Souveränität als Handlungsfreiheit definiert werde. Verschiedene Formen von Protektionismus könnten diese sicherstellen. Globalisierung nähme aber dem Entwicklungsstaat diese Möglichkeit und kreiere eine post-Listianische Welt. Um die für Entwicklung notwendige Autonomie herstellen zu können, „muss ein Akteur (globalen) Einfluss ausüben oder aktiv Macht anwenden: „Strukturelle Autonomie ist daher eine notwendige aber nicht ausreichende Bedingung für nachhaltige Entwicklung in einer globalisierten Welt. Demzufolge ist es eher der Imperativ des Einflusses als Protektionismus, der den post-Listianischen Entwicklungsstaat definiert.“ Einige der Aktivitäten seien hier kurz geschildert: China habe es geschafft, die Macht seiner Regulierungsbehörden so zu verankern, dass diese die Kontrolle über Technologie und Standards von Investitionszuflüssen ausübten. Hinsichtlich der makroökonomischen Autonomie und Macht der Geldpolitik sei die EU ein Beispiel eines Modells, das aufgrund der Passivität seiner Geldpolitik offen für US-amerikanische Macht sei, während China Geldpolitik und Wechselkursmanagement in den Dienst von Binnenentwicklungszielen gestellt habe. Innerhalb der WTO habe sich China vor unilateralen Maßnahmen der USA schützen können. Der Umstand, dass China Hauptkäufer von US-Staatsschuldentitel sei, was Wachstum und Nachfrage in den USA unterstütze, habe das Seine dazu beigetragen. Diese Gläubigerposition habe Chinas Verhandlungsmacht innerhalb des IWF verbessert. China habe sich Forderungen aus den USA nach einem chinesischen Plaza-Abkommen zur Aufwertung des Yuan entziehen können und habe seine Diplomatie gegenüber dem IWF (allein und als Teil der von BRIC-Staaten dominierten peripheren Länder) aktiver gestaltet. Substanzielle Änderungen im IWF seien parallel mit der chinesischen Strategie, anstelle einer direkten Konfrontation mit der US-Macht eine konstruktive Beziehung mit einem unabhängigen und multilateral gesonnenen IWF aufzubauen (der China auch ob seiner Währungsreserven braucht), zu beobachten gewesen. China fordere, dass Sonderziehungsrechte des IWF eine größere Rolle als globale Reservewährung bekomme, was den chinesischen Dollarüberhang in eine stabilere Reserve verwandeln würde. Die Verteilung des Stimmrechts habe sich zugunsten der peripheren Länder verbessert und die Rolle von China anerkannt. Das US-amerikanische Veto stehe zur Disposition. China fordere, die Rolle des IWF in den Beziehungen zu Mitgliedsländern hinsichtlich des Einflusses auf die Währungspolitik zu reformieren, was als Herausforderung an die Dollar-Hegemonie gesehen werde. China sei schließlich auch schon vom IWF gegenüber den USA in Schutz genommen worden.
Auch wenn die Vorstellung eines „Bejing Consensus“ (siehe auch Overbeek 2008:219) die Möglichkeiten Chinas überbewerte: Die Strategie, die US-Hegemonie innerhalb der Institutionen herauszufordern, sei konsistent mit den Vorstellung Arrighis von einer Auflösung der neoliberalen Hegemonie (Strange 2011:556). Ob und wie schnell sich die wachsende Position Chinas stärker manifestieren wird, bleibt abzuwarten. Der chinesische Botschafter hatte schon während der Verhandlungen zum Beitritt in die WTO gewettert: „Wir wissen, dass wir das Spiel jetzt nach Euren Regeln spielen müssen, aber in zehn Jahren bestimmen wir die Regeln!“ (zitiert nach Schweller/Xiaoyu 2011:54)
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