Was Geld ist und wie damit umgegangen wird oder werden sollte – ein Purgatorium aus Falschheit und Verdruss. Erklärungsversuche auf nicht fälschungssicheren Papieren gibt es zentnerweise. Wer die irrealen Phänomene der neoliberalen Wirtschaftstheorie und -politik verstehen will, wird in der Geldtheorie von Karl Marx reichliche Anregungen finden. Allerdings bedarf es einer gewissen Anstrengung, mehr als einige Dutzend Seiten über das „Rätsel des Geldfetischs“[1] und die Zirkulation des Geldkapitals in Marxens „Kritik der politischen Ökonomie“ zu lesen; nicht jedem Zeitgenossen wird die notwendige Ausdauer abzuverlangen sein. Das provoziert die Frage, ob es neben der logisch-systematischen Methode noch andere Erklärungsmuster gibt.
Hans Magnus Enzensberger hat es belletristisch versucht. In seinem „kleinen Wirtschaftsroman“ mit dem Titel „Immer das Geld!“[2] verschränkt sich eine narrative Story mit Informationen und Polemik. Darin erscheint wie aus heiterem Himmel Tante Fé, vermögend, exaltiert, in „sozusagen einer Kernfamilie im Normalzustand“: Bei den Federmanns mit ihren drei Kindern. Und diese „Patentante“, von der man gar nicht weiß, was es mit ihr auf sich hat, versucht Felicitas, die junge Erzählerin, Bruder Fabian und die unbescholtene Fanny über Gebrauch, Missbrauch und Segnungen des Geldes aufzuklären.
Zunächst denkt der neugierige Leser, Enzensberger wolle in Gestalt der Tante Fé das Geld personifizieren. Eine tolle Idee: literarische Inkarnation. Doch am Ende erweist sich, dass die charmante Dame sich auch nur in gut situierte Verhältnisse hochgeschlafen hat und durch Erbschaft sowie einige Spekulation zu Reichtum gelangt ist. Etwas zweifelhaft, ob Jugendliche den Lektionen der Tante im Hotel „Vier Jahreszeiten“ so geduldig folgen würden. Auch bleiben manche Erklärungen – etwa was Kapital ist, wie sich ein schwankender Zinsfuß auswirkt – recht oberflächlich. Aber die umtriebige Glücksbringerin weiß auch mit einfachen Sätzen zu überraschen: „An das Geld muss man glauben, sonst funktioniert es nicht.“ Wie wahr: Wir glauben an das Geld.
Indes – hier steht „Glauben“ in einem gewöhnlichen Sinn für „ich nehme an“, „ich vertraue“. Ich vertraue darauf, dass dieser Schein mit dem Aufdruck 50 Euro oder 50 Dollar einen entsprechenden Wert hat. Der mir gesichert ist, jedenfalls solange keine Krise das darauf einzulösende Äquivalent schmälert. Auf diesem Vertrauen beruht nicht nur die Nutzung des Geldes als Zahlungsmittel, sondern auch der Drang zur Vorteilsnahme. Die Gier der großen und kleinen Aktienbesitzer, Dividende abzuschöpfen, auf Risiko zu spekulieren, so viel wie irgend möglich Geld anzuhäufen. Damit sind wir im Bereich des „Geld heckenden Geldes“. Und ist ein entsprechend dickes Portefeuille angelegt, verselbständigt sich nicht nur der Schatz, sondern auch der Prozess, ihn zu vergrößern. Wo der Umschlagspunkt vom pragmatischen Glauben zu einem zwanghaften, manifesten Kult liegt und an welchen Kriterien er auszumachen ist, darüber gibt es noch wenig Untersuchungen.
Mit der Selbstermächtigung dieses Prozesses und seines Heils oder seiner Heilserwartung bekommt „Glaube“ eine sehr viel größere Dimension. Geld nimmt die Attribute einer göttlichen Segnung an, wird selbst zum Gott-Ersatz. Schon das Matthäus-Evangelium wusste von einer unguten Rivalität: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Heutzutage wird die Vergötterung des Geldes weder durch religiöse Rückbesinnungsappelle noch durch die Berufung auf Arbeit und wirklichen Verdienst gestört. Selbst der Versuche, Mammonskult und Gottesfurcht in Einklang zu bringen, bedarf es nicht mehr; das 19. Jahrhundert hatte sich noch darum bemüht. Die Frage „Gott oder Geld“ ist für die meisten entschieden und selbstredend fehlt es nicht an Leuten, die das für einen Fortschritt halten. Das Geld oder, besser gesagt, das Kapital ist über alle Bereiche erhaben und der wahre Gott. „Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“, heißt es bei Matthäus (6,21). Und wie bei aller Schatzbildung in religiösen Gemeinden, wird es als obszön empfunden, nachzufragen, auf welche Weise in wessen Händen der Reichtum zustande gekommen ist.
Gelegentlich wird in den Medien der Kapitalismus im Allgemeinen, seine theoretische Substanz wie die davon abgeleitete Verhaltensweise der Menschen, als Religion bezeichnet. Das sind, so dahingesagt, journalistische Metaphern. Erhellenderweise gibt es ein paar Zeitgenossen, die sich darüber ernsthaft Gedanken machen. Friedrich Schorlemmer schrieb einmal, sich auf die Mahnung im Evangelium berufend: „Das Geld kann Gott werden, ein Gott, der alles regiert, der uns regiert, dem alles unterworfen wird, dem man auch all sein Vertrauen und seine Hoffnung schenkt.“[3] Der Satz, in den Indikativ gebracht, charakterisiert treffend die gegenwärtige Lage und macht die verheerenden Folgen, wie sie sich in der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise manifestiert haben, zumindest teilweise erklärlich.
Das alles ist so klar wie das Wasser des Jordan, mit dem Johannes das Volk taufte, wenngleich in konträrer Absicht, nämlich Sühne und Umkehr abverlangend. Womit sich in unserer berechnenden Welt nur noch die Zeugen Jehovas lächerlich machen. Seit Geld zu einem Fetisch geworden ist, hat der pragmatische, weitgehend auf Egoismen beruhende Alltag die göttliche Demut, teilweise oder gänzlich, durch ein sehr profanes Glaubensziel ersetzt. Wie ist das möglich? Folgen wir den Ausführungen des Religionskritikers Ludwig Feuerbach, der in frühen Jahren selbst eifrig Theologie studiert hat, dann ist jede Gottheit austauschbar. Nicht zuletzt stehen Konvertiten konsequent für den Götterwechsel ein. Feuerbach verdeutlicht die Austauschbarkeit der Glaubensadresse am Beispiel der Naturreligionen, die (wie wir heute das Geld) auch Gegenständliches vergöttert haben: die Sonne oder das Salz, eine Schlange oder einen Heiligen Berg. „Ob du den Jehova oder den Apis, ob du den Donner oder Christus, ob du deinen Schatten, wie die Neger der Goldküste, oder deine Seele, wie die alten Perser, ob du den flatus ventis (einen Furz, J.G.) oder deinen Genius, kurz, ob du ein sinnliches oder geistiges Wesen anbetest – es ist eins; Gegenstand der Religion ist nur etwas, inwiefern es ein Objekt der Phantasie und des Gefühls, ein Objekt des Glaubens ist.“[4]
Wenn Geld an sich schon religiöse Anverwandlungen zu erwirken vermag, wie erst kann in einer Welt, die dem ungebrochenen Streben nach Maximalprofit unterworfen ist, in einer Welt maßloser Akkumulation, wie erst kann im finanzgetriebenen Neoliberalismus das monetäre Teufelswerk vergöttert werden? Der Krisenparcours von 2007 bis 2014/15 hat nicht nur das internationale Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs geführt, sondern auch Millionen Arbeitsplätze vernichtet und Länder wie Griechenland, Irland, Spanien weitgehend ihrer Souveränität beraubt. Und schon wieder sehen Analysten nicht nur der Deutschen Bank die Gefahr einer neuen Krise am Horizont. Hat dieses schlimmste Dilemma seit dem Zweiten Weltkrieg, ein „singuläres Ereignis“, wie der Volkswirtschaftler Karl-Georg Zinn sagte, zu einem Umsteuern geführt? Ja, es wurden einige Korrekturen vorgenommen, etwa zur Erhöhung des Eigenkapitals der Banken, aber grundsätzlich hat sich nichts geändert. Die maßgeblichen europäischen Politiker, ihre Ratgeber in der Mainstream-Ökonomie und die Claqueure in den dominierenden Medien verkünden die gleichen Dogmen, als sei nichts geschehen. Muss unter diesen Umständen nicht der Verdacht aufkommen, dass das gegenwärtige gesellschaftliche System einem säkularen rituellen Feld unterliegt, wie es die US-amerikanischen Religionssoziologen Charles Glock und Rodney Stark für moderne Religion geltend gemacht haben? Ist den Phänomenen des Neoliberalismus mit den Komponenten und „Dimensionen des Religiösen“[5] beizukommen?
Zu prüfen wäre also, ob, und wenn, wie die Kriterien des Religiösen auf die heutige Wirtschaftstheorie und -politik zutreffen. Über Neoliberalismus nachzudenken erfordert eine differenzierte Betrachtungsweise. Mit diesem Namen verbinden wir Vorstellungen nicht generell gültiger Gemeinsamkeiten einer marktwirtschaftlichen Produktionsweise, sondern eine bestimmte Form oder Gestalt „des Kapitalismus“. Insofern ist eine Voraussetzung für religiöses Denken gegeben, die Ludwig Feuerbach als „Basis des Glaubens“ bezeichnet hat: die Differenz zwischen der allgemeinen oder „natürlichen Vernunft“ und einer besonderen, durch „besondere Wahrheiten, Privilegien und Exemtionen“, also Befreiung von allgemeinen Pflichten, herausgehobenen Vernunft.[6]
Wie „besondere Wahrheiten“ in den Religionen sich verselbständigen, ist vielfältig beschrieben worden. Sie gipfeln in einem absoluten Element, das verschiedene Namen trägt: In den monotheistischen Religionen ist es Gott, bei Hegel der „absolute Geist“ oder die „höchste Vernunft“. Das auch als letzter, unhinterfragbare Gedanke bezeichnete Absolute wird in anerkannter Weise als das entscheidende Kriterium von Religion angesehen. In dem hier betrachteten Zusammenhang ist – und zwar erklärtermaßen – das Absolute der Markt und seine konkrete Entäußerung, der Gewinn. Den Slogan „Markt, Markt und nochmals Markt!“ hat vor einigen Jahren Prof. Hans-Werner Sinn geprägt, damals Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass der unregulierte, der freie Markt alle gesellschaftlichen Probleme zur Zufriedenheit löse. Professor Sinn behauptet, wenn der Arbeitsmarkt den reinen Marktbedingungen unterworfen wäre, brauchte es keine Arbeitslosigkeit zu geben, wären Kündigungsschutz, Tarifverträge, Sozialunion europäischer Länder und übrigens auch Gewerkschaften überflüssig.[7] Das ist, auf eine Formel gebracht, das Programm des Neoliberalismus, das Programm der konkreten Realisierung, wie sich einige Ökonomen das Primat der Wirtschaft gegenüber der Politik vorstellen. Das sind die höchsten Gedanken, die der Neoliberalismus hervorbringt.
Der katholische Politikwissenschaftler und Philosoph Eric Voegelin war es, der den Begriff der „politischen Religion“ prägte und am Beispiel des Nationalsozialismus aufzeigte, wie so etwas funktioniert. Die allgemeine Säkularisierung des Lebens und der Gesellschaft habe dazu geführt, dass der Mensch „das Göttliche in Teilinhalten der Welt finde“, schrieb er in seinem Hauptwerk „Die politischen Religionen“ (Plural!).[8] Es gibt also eine Religiosität, die ohne jenseitigen Gott auskommt, die sich innerhalb des Weltlichen, der mythisch verfremdeten, irdischen Heilserwartung – und da sind wir wieder beim Geld – bewegt und erschöpft.
Im profanen Leben gelingt die Überhöhung von „Teilinhalten der Welt“ am besten mittels Ideologie. Für säkulare Religionen ist es konstituierend, dass sie sich durch die Überhöhung von Ideologien sowie deren Transzendierung ins Unwirkliche entfalten. Ideologie vermag, reale Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen des Menschen in eine „über dem Menschen“ behauptete Vorsehung zu transzendieren: autoritäre Anerkennung zu verwandeln in Personenkult, Vaterlandsliebe in Nationalismus und Chauvinismus, politische Ratlosigkeit in Nationalsozialismus. Dass sich ökonomische Theorien und Absichten, nur weil sie ökonomische sind, ideologischer Instrumentalisierung entziehen sollten, wäre ein schwer zu begründender Sonderfall.
Im Gründungsdokument der Mont-Pèlerin-Gesellschaft, der ersten internationalen Vereinigung neoliberaler Ökonomen (1947), wird nicht zufällig vom Glauben gesprochen, nämlich vom „Glauben an das Privateigentum und an die Wettbewerbsmärkte“.[9] Geflissentlich übergehen die ambitionierten Ratgeber, dass der Markt nur unter bestimmten Gültigkeitsgrenzen und Randbedingungen zuträglich funktioniert. Seitdem wirkten die wichtigsten Theoretiker des Neoliberalismus, Milton Friedman, ein Ökonom der Chicago-Schule, und sein Bruder im Geist, der österreichische Konjunkturforscher Friedrich von Hayek, über verschiedene Think Tanks auf die öffentliche Debatte um Weltanschauung ein. Friedmans und von Hayeks Fundamentalismus gipfelt in der Gleichsetzung von sozialstaatlicher Regulierung und Sozialismus. Was Sozialismus vom gesellschaftswissenschaftlichen Standpunkt definitiv ist (und in praxi sein könnte), davon hatten sie nicht die geringste Ahnung. Deshalb auch die Identifikation der von ihnen in begründeter Weise abgelehnten administrativ-staatlichen Planwirtschaft mit Sozialismus generell. Von Hayek war so verblendet, jede staatliche Regulierung als sozialistische Unterwanderung zu diffamieren, und Friedmans Unterstellung, der westeuropäische Wettbewerbskapitalismus praktiziere eigentlich Sozialismus, bewegt sich auf dem Niveau der deutschen Zentrumspolitiker, die Bismarck des „Staatssozialismus“ bezichtigten, weil er die Unfallversicherung einführte. Resümee: Die neologischen Wirtschaftstheorien waren und sind stark ideologisch geprägt, und das macht sie, wie alle Ideologie, anfällig für säkular-religiöse Implikationen.
Das Paradoxe daran: Innerweltliche Glaubensphänomene werden geradezu regelhaft wissenschaftlich begründet. Das hat – auch wenn es nicht so aussieht – einen durchaus populistischen Hintergrund. Die meisten Menschen vertrauen dem Selbstzeugnis der Ökonomen, sie befassten sich ausschließlich mit Tatsachen. Flüchtig betrachtet scheint der Gegenstand der Ökonomie jede Transzendenz auszuschließen. Doch der Schein trügt. Auch Fakten können die Folie sein für den metaphysischen Übergang ins Reich der Spekulation, ja das Faktum selbst, allgemein gesprochen das Seiende, kann durch Auswahl, überhöhte Bewertung, Verabsolutierung transzendiert werden. Es versteht sich, dass hier Transzendenz nicht im theologischen, sondern im weiteren Sinn als Überschreiten eines Bereiches möglicher Erfahrung in eine höherstufige Sphäre des Geistes gemeint ist, so wie Heidegger, Sartre und der Göttinger Philosoph Nicolai Hartmann den Begriff gebraucht haben.
Die Protagonisten argumentieren fast ausschließlich mit wirtschaftlichen Kennziffern, sie führen Statistiken auf und Bilanzen und halten sich den Pragmatismus wirtschaftlichen Managements zugute. Alles sieht so aus, als hätte dies mit Glaube, gar mit – wenngleich säkularer – Religion nichts zu tun, als sei es Wissenschaft. Dennoch fehlt es wie bei der pauschalen Wertung des Kapitalismus als Religion, etwa durch Walter Benjamin[10], auch in Bezug auf den Neoliberalismus nicht an öffentlichen Stimmen, die ihn als „Religion des alles bestimmenden Totalen Marktes“ einstufen, so Carl Amery. „Hinter einer Menge pseudowissenschaftlichen Wustes“ verberge sich „bei fast völliger Transzendenzarmut“ eine beinahe „unreflektierte und daher fast unwiderstehliche profane Religiosität“.[11] Auch kritischen Theologen ist aufgefallen, dass der Neoliberalismus nicht das ist, was er zu sein verheißt. Der Münsteraner Religionswissenschaftler Hermann Steinkamp kritisierte in scharfer Form die mit einer „Trübung des Bewusstseins“ einhergehende neoliberale Praxis und kommt dann ebenfalls auf die „Religion des Kapitalismus“ zu sprechen.[12]
Wie aber konstituiert sich eine Weltanschauung, die man getrost als Wirtschaftsglaube bezeichnen kann? Neben den allgemeinen Gegebenheiten: der „besonderen“ Vernunft und der Wahlmöglichkeit dessen, was vergöttert werden kann, ist es nicht zuletzt das Gefühl der Abhängigkeit, in dem der Theologe Friedrich Schleiermacher den eigentlichen Grund dafür gesehen hat, warum es überhaupt Religion gibt. Dass die Intensität der Abhängigkeit im Vergleich zu früheren Epochen entscheidend nachgelassen hätte, können wir nicht behaupten.
Keine Religion kommt ohne eine Lehre aus. Das Christentum hat sich die Theologie geschaffen, der Finanzkapitalismus den auf der sogenannten Neoklassik (der Adaption Adam Smith‘, David Ricardos) beruhenden und sie verfälschenden Neoliberalismus. Die Lehre setzt – wie das Christentum in Gott – ein Absolutes: Der „freie Markt“ ist das höchste Prinzip der gesellschaftlichen Evolution, die letzte Autorität, von der alle Parameter des Handelns (auch des politischen Handelns) abgeleitet werden. Symptomatisch für die Überhöhung eines an sich realen Faktums zu einem „göttlichen Prädikat“, für diese „Überschwänglichkeit“, um noch einmal auf Feuerbach zurückzukommen, ist Hans-Werner Sinns Losung „Markt, Markt und nochmals Markt!“
Lehre und Lehrsätze sind zu Dogmen erstarrt, die „gebetsmühlenartig“ wiederholt und zu Mythen stilisiert werden. Wir wissen, welche Bedeutung der Dogmatik in der Theologie zukommt, sie ist ein eigenes Lehrfach. Hier gibt es ganz nahe liegende Parallelen zwischen theosophischen und politischen Religionen. Um nur einige Floskeln zu erwähnen:
– Der Staat muss wie ein Unternehmen geführt werden.
– Arbeitszeiten müssen verlängert werden, damit Wachstum angeregt wird und neue Arbeitsplätze entstehen. (Eine Forderung von Prof. Klaus Zimmermann, ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Dabei wird offen gelassen, wer die Mehrprodukte kaufen soll, wenn mit der Einführung eines Niedriglohnsektors die Einkommen sinken.)
– Wenn es den Unternehmen gut geht, geht es der Gesellschaft gut.
– Strengstes Sparen konsolidiert den Staatshaushalt. (Worüber die Griechen je nach Mentalität nur lachen oder weinen können.)
Alle diese Dogmen halten keiner strengen ökonomischen Prüfung stand, d.h. die Lehre steht im Widerspruch zur Wirklichkeit. Die Differenz zwischen einem Lehrgebäude auf den Gipfeln der Abstraktion und dem realen Leben charakterisiert jede Religion, egal ob es sich um das Christentum, den Islam oder die Schamanen der indigenen Völker handelt. Auch die „besonderen Wahrheiten“ des Neoliberalismus sind fiktiv. Im Grundsatz werden nur besondere Interessen (Feuerbach: „Privilegien und Exemtionen“) als besondere Wahrheiten ausgegeben. Heiner Flassbeck, über viele Jahre Chefökonom der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung in Genf, erzählte mir in seiner ruhigen, von vielen Enttäuschungen entschiedenen Art, wie empirisch nachprüfbare Tatbestände systematisch verdrängt werden. Beispiel: die angeblich zu hohen Löhne in Deutschland. Gegenbeweise werden von der Mainstream-Ökonomie ignoriert, weil sie ihr Weltbild zerstören würden. Der Glaube an die wirklichkeitsfremde Regel, dass Arbeitslosigkeit nur existieren könne, wenn die Löhne zu hoch sind, sei so tief eingeprägt, sagt Flaßbeck, dass Vertreter der herrschenden Lehre gegenläufige Ergebnisse in ihren Schreibtischen verstecken, weil sie ihren Job nicht verlieren wollen. Flassbeck formuliert hart: „Jeder wissenschaftliche Anspruch wird sofort gebrochen; es gibt überhaupt keinen wissenschaftlichen Anspruch mehr.“[13]
Wir haben es also mit einem Kanon von Unantastbarkeiten zu tun. Und wie wir wissen: Die Heiligkeit von Aussagen ist der Kern jedes religiösen Denkens. Demzufolge werden alternative Ansätze in der offiziellen Debatte nicht zugelassen. Individuen, die sich dem Dogmenkanon widersetzen, werden aus der community ausgegrenzt „analog der Scheidung der Christen von den Heiden“, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler sagt.[14]
Die in sich geschlossene Lehre tritt mit dem Anspruch der „Kontingenzbewältigung und der Sinndeutung der menschlichen Existenz im Diesseits“ auf (Wehler).[15] Es ist der Versuch einer Sinnstiftung mit aufeinander abgestimmten Lehrsätzen, die – und das ist das Entscheidende – als unbezweifelbare, letztgültige Wahrheit verkündet werden. Im Besitz der alleingültigen Wahrheit zu sein, ist ebenfalls ein Hauptkriterium von Religion. Und wir erinnern uns: Sowohl Gerhard Schröder als auch Angela Merkel behaupteten hartnäckig: Es gibt keine Alternative.
Vom Absoluten – dem Markt – geht eine Heilserwartung bzw. ein Heilsversprechen aus. Die Verkündung des Heils ist mit Wunschvorstellungen vom Weg dorthin verbunden, die auf einer Vereinseitigung bestimmter Komponenten des gesellschaftlichen Beziehungssystems beruhen (Feuerbachs „besondere Vernunft“). Dass sich Angebot und Nachfrage untrennbar aufeinander beziehen, das Eine des Anderen bedarf, ist so banal wie die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Münze. Aber dass Angebotspolitik und Nachfragepolitik ebenso ein Aufeinander-Abgestimmtsein erfordern, scheint nicht in den Kopf der Neoliberalen zu passen. Die Bevorzugung der Angebotspolitik hat zu einem Verlust des gesamtwirtschaftlichen Denkens geführt; es wurde durch vornehmlich betriebswirtschaftliche Maximen abgelöst, die mit einer seit Jahren gleichbleibenden Liturgie nach Texten der Deregulierung, Privatisierung, Flexibilisierung und der sozialen Enthaltsamkeit gelesen wird.
Natürlich „betet“ heutzutage niemand mehr um des Erfolges wegen. An die Stelle des Gebets sind Appelle und mediale Beschwörungen getreten. Die alte dehnbare Maxime „Fürchte dich!“ ist im öffentlichen Disput (und nur dort!) durch die ebenso dehnbare Floskel „Freiheit“ ersetzt worden. Dagegen sei an einen Satz des französischen Revolutionärs Rousseau erinnert: „Zwischen den Starken und den Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“
Jede kritische Betrachtung führt zu dem Schluss, dass dem Neoliberalismus, dem freien Schalten und Walten des Geldes und des Finanzmarktes, eine Reihe eindeutig religiöser Wesensmerkmale zugesprochen werden kann. Der Neoliberalismus ist – auf die Gesamtgesellschaft bezogen – eine den Realitäten enthobene, auf Wünschen beruhende Wirtschaftstheorie, die, mit den Attributen des Göttlichen versehen, uns als die nicht mehr zu hinterfragende, „absolute“ Wahrheit gepredigt wird. Dass gerade deswegen Wünsche einer privilegierten Kaste erfüllt und den unterprivilegierten Schichten grundlegende Bedürfnisse entzogen werden, steht damit nicht im Widerspruch.
Das drängt geradezu die Frage auf: Warum in aller Welt lassen sich die Geprellten solche Benachteiligung gefallen? Niedriglohn und Leiharbeit, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, Mietenwucher, Sozialkürzungen, die vielen Ungerechtigkeiten … Zynismus auf der einen Seite, Apathie auf der anderen. Dem liegt ein Konzept zugrunde. Die Verunsicherung des lohnabhängigen Volkes ist politisch gewollt. Den Konstrukteuren des Neoliberalismus war ja klar, dass ihre „Lösungen“ von denjenigen, denen sie aufgezwungen werden sollten, aus freien Stücken niemals akzeptieren würden. Deshalb orientierte Milton Friedman auf eine „Schocktherapie“, die seitdem die Entscheidungen der G8-Regierungen, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds usw. bestimmen. Im Schockzustand rebellieren die Betroffenen nicht. Sie haben Angst um ihre Existenz, Angst, den mühsam erreichten Status quo zu verlieren. Mit der Folge, dass sie sich selbst von der Ideologie neoliberaler, angeblicher Zwänge infizieren lassen. Insofern ist das alte religiöse Diktum doch wieder Allgemeingut geworden: Das entkräftende „Fürchte dich!“ Fürchte dich vor dem Markt und dessen Ungewissheit! Schock und Furcht vor der säkularen Gottheit Geld sind wieder eins.
[1] MEGA II/5, S. 59; MEW 23/108.
[2] Hans Magnus Enzensberger, Immer das Geld!, Berlin 2015.
[3] Friedrich Schorlemmer, Eisige Zeiten, München 1998, S. 67.
[4] Ludwig Feuerbach, Das Wesen der Religion, in: Werner Schuffenhauer (Hrg.), Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, Berlin 1990, Bd.10, S. 75.
[5] Siehe „Metzler Lexikon Religion“, hrg. von Ch. Auffarth, J. Bernard, H. Mohr, Stuttgart 2000, Bd. 3, S. 164 f.
[6] Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 5.
[7] Siehe Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten? München 2003.
[8] Eric Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1938.
[9] Zitiert nach Gerhard Willke, Neoliberalismus, Köln 2003, S. 108.
[10] Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion, in: Gesammelte Schriften Bd. VI, Frankfurt am Main 1985, S. 100 ff.
[11] Carl Amery, Global Exit, München 2002, S. 17 und 19 f.
[12] Publik-Forum. Zeitung kritischer Christen, 2. 3. 2004.
[13] Persönliche Mitteilung.
[14] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.3, München 1995, S. 943.
[15] Ebenda.