In dieser Rubrik kommentieren wir einige ausgewählte Beiträge, die uns im Kontext linker Debatten wichtig erschienen. (Red.)
Querfront und rechte Kapitalismuskritik
Klassenfragen und antikapitalistische Orientierungen spielen im Rahmen der Debatte zum Aufstieg einer modernisierten radikalen Rechten in Deutschland und Europa verstärkt eine Rolle. Teile der Rechten versuchen, mit diesen Themen weitere Einbrüche in linke Wählerschaften zu erlangen und suggerie-ren eine Auflösung des klassischen Rechts-Links-Gegensatzes. Querfrontdebatte und Kapitalismuskritik von rechts sind dabei nicht neu, haben aber angesichts einer aufstrebenden bewegungs- und parteipolitischen Rechten an Einfluss gewonnen. Nicht erst die Debatten um den Journalisten Ken Jebsen oder die Umtriebe des ehemaligen Linken Jürgen Elsässer haben dieser Ausrichtung Aufmerksamkeit verschafft. Rechte „Diskurspiraterie“ hat eine Tradition, die sich bis zur sogenannten „Konservativen Revolution“ zurückverfolgen lässt und die als Bezugspunkt einer gegenwärtigen intellektuellen Rechten um das Institut für Staatspolitik (vgl. Z 90 [Juni 2012], 54ff.) nach wie vor zentrale Bedeutung für diese Richtung besitzt. Im Argument-Heft mit dem Schwerpunkt „Krise des Politischen“ arbeitet Richard Gebhardt Geschichte, ideologische Bezugspunkte, Strategie der Rechten und offene Flanken der Linken heraus.[1]
„Antiimperialismus“, „Gegnerschaft zu NATO, USA und transnationalen Konzernen“, sowie den „Menschenrechtskriegen“ des Westens (353) sind Diskurse innerhalb der Rechten, mit denen linke Themen aufgegriffen und im eigenen Sinne umgedeutet werden. Die Blindheit gegenüber der ideologischen Grundlage der Rechten ist es, die Teile der Linken dazu verleitet, in der gleichlautenden Frontstellung politische Gemeinsamkeiten zu unterstellen, wo es doch nur antagonistische Gegensätze gibt. Denn „Kapitalismuskritik“ von rechts basiert immer auf einer völkischen Grundlage, die Klassengegensätze systematisch leugnet. So bleibt die zentrale Kritik am vor allem politischen Liberalismus von rechts immer reaktionär, so sehr sie auch mit Versatzstücken radikal linker Analysen arbeitet.
Gebhardt zeigt ausgehend von der „Konservative Revolution“ die Traditionslinie dieses Strangs der intellektuellen Rechten auf, die sich nicht zufällig in den 1960er Jahren mit der Nouvelle Droite in Frankreich herausbildet. Die Marx- und Gramsci-Bezüge von rechten Theoretiker wie Alain de Benoist werden von Gebhardt als „Entwendungsstrategie“ beschrieben, mit denen Begriffe wie kulturelle Hegemonie umfunktioniert, ihrer klassenpolitischen und emanzipativen Bezüge beraubt und zu taktisch eingesetzten Vokabeln wurden. Während Benoist mit der Verwischung des rechts-links-Gegensatzes noch explizit an Kooperationen mit Linken dachte, träumen die heutigen jüngeren Vertreter dieser Linie laut Gebhardt davon, die in ihren Augen ideologisch inzwischen mehrheitlich unzuverlässige Linke zu beerben. Auch das ein Ausweis des neuen Selbstbewusstseins der intellektuellen Rechten, die entscheidenden Einfluss auf den völkischen Flügel der AfD ausübt.
Verfangen kann die „Diskurspiraterie“ von rechts laut Gebhardt auch durch eine „unbestimmte Zielsetzung einer auf Massenzustimmung fixierten Linken.“ (360) Und mit den Worten von W.F. Haug folgert er: „Wo das ‚Anti‘ des Antikapitalismus es bei weitem davonträgt über das ‚Pro‘ des sozialistischen Projekts, ist die Gefahr besonders groß.“ (Ebd.)
Gerd Wiegel
„Inklusive Klassenpolitik“
Die tiefe Enttäuschung über das Abschneiden der Linken in der Bundestagswahl vom 24. September hat eine schon länger vor sich hin dümpelnde Debatte über die zukünftige Orientierung linker Politik befeuert, aber zunächst auch auf Nebengeleise gelenkt. Grundsätzlich ist eine solche Debatte nicht nur für die Linkspartei, sondern für die gesamte politische und gesellschaftliche Linke überhaupt bitter notwendig. Sie greift allerdings zu kurz, sofern sie sich vorrangig um eine vermeintlich verfehlte Flüchtlingspolitik dreht und zudem mit einer macht- und fraktionspolitischen Aufladung versehen und mit persönlichen Anfeindungen geführt wird. Im Grunde geht es um die Problematik einer inklusiven Klassenpolitik, wenn über die Zukunft linker Politik gestritten wird. Tatsächlich hatte bereits Klaus Dörre im vergangenen Jahr mit mehreren Beiträgen u.a. in der Zeitung „Neues Deutschland“ noch vor der Bundestagswahl wichtige Impulse gegeben, die in den folgenden Monaten aber kaum aufgenommen wurden. Das scheint sich langsam zu ändern.1
Dörre unterstreicht: Die „Bundesrepublik ist eine Klassengesellschaft“, jedoch eine „demobilisierte“. Denn: „Klassen sind keine homogenen Kollektivsubjekte“. Und Klassenzugehörigkeit allein gibt keine politischen Orientierungen vor. Dazu bedürfe es „der aktiven Vermittlung politischer Überzeugungen“, und genau das gelinge der politischen Linken immer weniger.
Massenhaft verbreitete Erfahrungen von Ungleichheit, Unsicherheit und ein verletztes Gerechtigkeitsempfinden würden „nur sehr begrenzt zum Katalysator für solidarisches Klassenhandeln“. Um das zu erreichen, bedürfe es einer „inklusiven Klassenpolitik“.
Auch hier drohen Missverständnisse. Das Plädoyer für mehr linke Klassenpolitik interpretieren manche als Wende rückwärts zu einer Art Proletkult von vorgestern, als nostalgische und national beschränkte Sozialpolitik nach Art des rheinischen Kapitalismus der alten Bundesrepublik. Die Kämpfe von MigrantInnen und Frauen würden so für „sekundär“ erklärt. Zeitgemäße Klassenpolitik müsse vielmehr den Blick auf die Migrationsbewegungen, die Reproduktionsarbeit und die feministischen Kämpfe richten.2 Auf der anderen Seite gab es Wortmeldungen, die die Verteidigung der Interessen von „Arbeitern und Arbeitslosen“, von denjenigen, „die sich am unteren Ende der Einkommensskala befinden“, ins Zentrum stellten.3
Dörre argumentiert differenzierter: Inklusive Klassenpolitik dürfe sich „nicht ausschließlich auf Produktionsarbeiter beziehen“. Überhaupt gehe es nicht um die „Renaissance der verfehlten Doktrin von Haupt- und Nebenwiderspruch“. Es gebe nicht nur ein „Vorwärts“, sondern auch ein „Rückwärts“ zur Klassenpolitik. „Rückwärts heißt, Partikularinteressen von – vorwiegend männlichen – Produktionsarbeitern zu allgemeinen Anliegen zu erklären und diese gegen so genannte identitätspolitische Themen auszuspielen“. Auf der anderen Seite helfe es aber auch nicht weiter, den „Innen-Außen-Konflikt der Rechtspopulisten mit umgekehrten Wertungen“ zu betreiben und die Lohnabhängigeninteressen der alten kapitalistischen Zentren für überholt zu erklären, um stattdessen die Kämpfe um Migration und Gender zum Dreh- und Angelpunkt zu machen. Stephan Lessenich haut in diese Kerbe, wenn er sich darüber lustig macht, die „in SPD und Linkspartei organisierte Sozialdemokratie“ sei „darauf erpicht, den deutschen Arbeiter als erstes Opfer der Globalisierung darzustellen“, wo er doch der deutschen Linken als „revolutionäres Subjekt“ schon vor hundert Jahren abhanden gekommen sei. Stattdessen erlebten wir heute ein aggressives „Aufbegehren“ der „neuen Mitte“, den Klassenkampf der „großen Koalition der Wohlstandsbewahrer“.4 Die „klassische Industriewirtschaft“ des reaktionären „sozialen Kapitalismus‘“ und die „neue Mitte“ der modernisierenden Variante eines „grünen Kapitalismus“ hätten sich verbündet gegen die „anderen, die von den männlich-deutschen Lebenswelten und den privilegierten Lebensverhältnissen des westlichen Wohlstandskapitalismus … Ausgeschlossenen“, die nun endlich aufbegehrten.
Darin steckt ein Korn Wahrheit. Auch Dörre sieht, dass die „Lohnabhängigenklassen der alten kapitalistischen Zentren“ ihre gesellschaftliche Position einer „Internalisierung von Sozialkosten“ verdanken. Aber anders als Lessenich schießt er nicht übers Ziel hinaus: Sie sind „keine Arbeitereliten, die von der Not im globalen Süden in erster Linie profitieren.“ Wie soll es mit linker Politik also weitergehen? Lessenichs Durcheinander von „klassischer Industriewirtschaft“, „neuer Mitte“ und den daraus „Ausgeschlossenen“ führt da in die falsche Richtung.
Dörre insistiert: Eine linke Klassenpolitik ist nur möglich, wenn sie „der Intersektionalität von Klassenverhältnissen, ihrer Verschränkung mit den Konfliktachsen Ethnie/Nationalität, Geschlecht und ökologische Nachhaltigkeit Rechnung trägt“. Eine solche Politik müsse vermeiden, „die Konfliktlinie ‚Klasse‘ etwa gegen ‚Umwelt‘ oder Gender auszuspielen“. Das klingt einleuchtend, wäre allerdings im Konkreten durchzubuchstabieren. Kämpfe um Frauenrechte haben eine kulturelle Seite, aber eben auch einen handfesten ökonomischen Kern: Bei den Kämpfen der (überwiegend weiblichen) Beschäftigten im Gesundheitswesen geht es um ökonomische Verbesserungen und auch um Anerkennung. Und selbst die Streiks der (überwiegend männlichen) Metaller um Arbeitszeiten, die zum Leben passen, haben für beide Geschlechter ein emanzipatorische Element.
Dörre will eine solche Herangehensweise nicht als populistisch, wohl aber als popular verstanden wissen. Es gehe nicht darum, dem Rechtspopulismus einen linken entgegenzustellen. Es gelte aber, eine „populare Klassenpolitik von unten zu erfinden“. Dazu bräuchte es allerdings eine „kohärente und der heutigen Zeit angemessene Neukonzeption des Klassenbegriffs“. Das stößt in der Linken nicht überall auf Zustimmung. Denn dort geht die Tendenz schon lange weg vom Denken in Klassenbegriffen und Klassenstrukturen und hin zu „Intersektionalität“, „Differenzen“ und „Milieus“, um die sich verändernden politischen Orientierungen zu erklären. Dabei werden Ungleichheiten zwar durchaus auf- und wahrgenommen. Aber unterschiedliche soziale Gruppen mit unterschiedlichen politisch-kulturellen Präferenzen stehen dann nur noch nebeneinander, während der Gesamtzusammenhang sozialer Beziehungen aus dem Blickfeld gerät und die kausalen Zusammenhänge zwischen der Macht der einen und der Subalternität der anderen ausgeklammert bleiben. Dörre sieht das klar: „Klassentheorien zeichnen sich allgemein dadurch aus, dass sie, anders als Schichtungsmodelle, Kausalmechanismen benennen, die das Glück der Starken mit der Not der Schwachen verbinden.“ Er schlägt vor, von „Lohnabhängigenklassen“ im Plural zu sprechen. Dieser Ansatz wird sich gegenüber den milieutheoretischen Erklärungen behaupten müssen. Die Diskussion darüber ist allerdings noch zu führen. Dörres Plädoyer ist klar: Denn auch wenn Klassen „keine homogenen Kollektivsubjekte“ sind, können Klasseninteressen für die „Konfliktdynamik einer Gesellschaft zentral sein, sie müssen es aber nicht“. „Zu kollektivem Handeln von Lohnarbeiterklassen kommt es nur, sofern ein geteiltes Bewusstsein für eben jene Kausalmechanismen entsteht, die Arm und Reich, Ausbeuter und Ausgebeutete, Herrscher und Beherrschte zueinander in Beziehung setzen.“
Jürgen Reusch
Rückkehr des ‚Hauptwiderspruchs’?
In der Prokla intervenieren die Jenaer Soziologinnen Silke van Dyk, Stefanie Graefe und Emma Dowling in die linke Debatte um Klassen- und Identitätspolitik sowie den Erfolg rechter Parteien bei Arbeitermilieus und sozial Deklassierten.1 Bewusst zuspitzend wenden sie sich gegen die von ihnen behauptete Tendenz, die Kritik einer primär auf Diskriminierung statt auf Ausbeutung und Umverteilung orientierten Identitätspolitik zugunsten einer „Hierarchisierung gesellschaftlicher Widersprüche“ zu überziehen und „die Errungenschaften und Erkenntnisse der neuen und neuesten sozialen Bewegungen über Bord zu werfen“. Dies führen sie in mehreren Einwänden und kritischen Anmerkungen aus. So gehe die von ihnen hinterfragte Argumentationslinie von der Existenz eines „eigentlichen“ und „homogenen Klassensubjekts“ aus, das aus „Notwehr“ – wegen eines fehlenden linken Adressaten für soziale Anliegen – oder aufgrund übermäßiger politischer Präsenz von Anliegen gesellschaftlicher Minderheiten, nicht aber aus Überzeugung sein Heil bei rechten Parteien suche. Dabei drohe die geforderte stärkere Frontstellung gegen neoliberale Politik in eine „Suche nach dem ‚echten’, nicht durch Vielfalteuphorie verwässerten Klassensubjekt“ umzuschlagen, das es so nie gegeben habe. Die Perspektive, „Rechtspopulismus und Neoliberalismus gleichermaßen zu kritisieren – ohne Antirassismus oder Antisexismus auf der einen und soziale Gleichheit bzw. Gerechtigkeit auf der anderen Seite gegeneinander auszuspielen“ – gerate ins Hintertreffen. Die Soziologinnen wenden sich auch gegen die Annahme, hinter der Sympathie für rechte Parteien stünde letztlich nur „ein zwar verstelltes, prinzipiell aber legitimes oder sogar begrüßenswertes Begehren nach Gleichheit und/oder Gerechtigkeit“ – was etwa Rassismus und Nationalismus als eigenständige „ideologische Formationen“ verharmlose. Reaktionäre Motive würden so in gute umgedeutet, die von links unmittelbar aufzugreifen seien – wobei hier womöglich die „Sehnsucht nach einem verloren geglaubten revolutionären (Arbeiter-)Subjekt“ aufscheine. Ferner wenden sie sich gegen eine als pauschalisierend empfundene Kritik der Identitätspolitik. Sie erinnern an den ursprünglichen Impuls entsprechender Bewegungen, „aufzuzeigen, dass und wo sich universale Versprechen als machtvolle Verallgemeinerungen der partikularen Interessen bestimmter sozialer Gruppen erweisen“. Gegenüber dem Vorwurf der Komplizenschaft von Neoliberalismus und Identitätspolitik verweisen sie auf die Existenz kritischer und marxistisch inspirierter Strömungen des Feminismus oder Antirassismus. Zwar sei die neoliberale Vereinnahmung etwa des liberalen Feminismus nicht von der Hand zu weisen und auch die „Klassenvergessenheit der Gender- bzw. Intersektionalitätstheorie“ existiere – nur sei das kein Argument gegen Intersektionalität selbst, sondern vielmehr für deren konzeptuelle Schärfung.
Der Text hakt an zentralen Fragen ein und legt die Einwände der an sozialen Bewegungen orientierten, emanzipatorischen Linken pointiert dar. Weil dabei jedoch erstens unklar bleibt, wer genau die im Beitrag beschriebene ‚Tendenz’ samt der von den Autorinnen unterstellten Konsequenzen eigentlich vertritt, zielen zentrale Vorwürfe eher auf Pappkameraden denn auf tatsächliche Positionen. Wer etwa vertritt ernsthaft, dass z.B. feministische und antirassistische Anliegen gegenüber Klassenfragen zu vernachlässigende Nebenwidersprüche seien? Die Debatte verhandelt weniger die Frage nach der Priorisierung von Klassen- oder Identitätspolitik als deren Verhältnis. Nicht jeder, der dabei Leerstellen und Ungleichgewichte feststellt, träumt vom homogenen Klassensubjekt fordistischer Zeiten. Zweitens verhandelt der Text mitunter auf konzeptueller Ebene, was aber praktische Probleme linker Politik sind – weshalb die Zurückweisung der „Notwehr-Diagnose“ mehr auf Spekulation als auf Empirie beruht und die Antikritik der gegen Antidiskriminierungs- und Identitätspolitik vorgebrachten Kritik nur bedingt trifft. So nützt es wenig, den Hinweis auf die neoliberale Vereinnahmung etwa des liberalen Feminismus mit dem Verweis auf die Geschichte und Existenz marxistischer, radikalerer Spielarten des Feminismus zu kontern. Die Frage ist nicht, ob diese existieren – sondern warum sie heute auch im eigenen Lager marginal sind. Schließlich bleibt drittens unklar, was die Perspektive der Autorinnen selbst wäre, die gegenwärtige rechte Formierung zu beantworten. Wenn deklassierte Anhänger rechter Parteien diese nicht auch (!) aus „Notwehr“, sondern aus reiner Überzeugung wählen – welche politischen Konsequenzen impliziert das?
John Lütten
„Imperiale Lebensweise“ und ihre Widersprüche
Im Frühjahr 2017 veröffentlichten die kritischen Sozialwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen ihr Buch „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“. Es ist inzwischen in vierter Auflage erschienen und erfährt eine – für ein linkes Buch – erstaunliche Resonanz. Eine kritische Debatte dazu wurde von Dieter Boris eröffnet1, der vor allem auf die analytischen Schwächen des Begriffs der IL hinwies: Das Konzept reproduziere eine Kapitalismusanalyse, die das Verhältnis ‚Zentrum-Peripherie‘ zur Grundlage der Produktions- und damit auch Lebensweise erkläre und schildere diese als „relativ homogene Entität“ (7/8-2017, 65), übersehe innere Widersprüche und Konfliktlinien. Dem ist m.E. zuzustimmen. Würde die Entfaltung des Kapitalismus vom Verhältnis ‚Innen-Außen‘ bestimmt, wie das Buch unterstellt, dann würde dies (mit umgekehrtem Vorzeichen) die Sichtweise sowohl der neoliberalen als auch der nationalistischen Fraktion der Herrschenden reproduzieren: Dass nämlich die Standortkonkurrenz bzw. der Kampf gegen ‚unerwünschte‘ Migration im Mittelpunkt zu stehen habe. Demgegenüber müssen die inneren Widersprüche der Produktions- und damit auch der Lebensweise in den Mittelpunkt gerückt werden.
Die Autoren des Buchs weisen die Kritik von Boris zurück und erklären dessen Sichtweise als Ausdruck von (unbewussten oder bewussten) Missverständnissen. Dies erscheint wenig überzeugend, zumal auch Samuel Decker, ebenfalls Anhänger des IL-Begriffs, schreibt: „Das Konzept der imperialen Lebensweise bringt zum Ausdruck, dass kapitalistisches Wirtschaften auf der Ausbeutung peripherer Räume basiert…“ (2-2018, S. 55) Die Antwort von Brand/Wissen belegt allerdings eine gewisse theoretische Beliebigkeit des Begriffs. So wird z.B. der Linken in Deutschland und Österreich vorgehalten, sie kümmere „sich kaum um sozial-ökologische Fragen“, sie stelle einseitig „soziale Fragen“, d.h. die Umverteilung, in den Mittelpunkt (12-2017, 66). Das ist eine Entgegensetzung, die – vor dem Hintergrund der auch von Brand/Wissen beklagten Einkommensungleichheiten – wenig überzeugend ist. Was genau bedeutet der Begriff „sozial-ökologisch“, wenn nicht die Tatsache, dass der Kampf gegen die ökologische Krise an den Interessen der subalternen Klassen – im Norden wie im Süden – anknüpfen muss? Zu beantworten wäre die Frage, wo die Widersprüche der behaupteten IL liegen, und zwar in allen Gesellschaften. Das hätte Konsequenzen für den Begriff selbst: Wenn die Autoren Boris zustimmen, der in seiner Kritik auf die zentrale Rolle der „inneren Akkumulation“ hinweist (ebd. 64), dann müsste man eigentlich die Bezeichnung IL selbst problematisieren, die sich stark auf Konsummuster bezieht. Brand/Wissen lassen in ihrer Antwort auf die Kritik von Boris erkennen, dass sie sich der „Unschärfen“ ihres Ansatzes bewusst sind: So zitieren sie kritische Bemerkungen von Hans-Jürgen Urban, der sie aufgefordert hatte, „klassenanalytisch und -politisch nachzuschärfen“ (ebd. 67), weil die Einbindung in die IL je nach Klassenlage durchaus unterschiedlich sei. Dies versucht Samuel Decker, ohne aber den Begriff selbst zu problematisieren. Er plädiert dafür, den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital mit den Konflikten zwischen Zentren und Peripherie „organisch miteinander (zu) verbinden.“ (2-2018, 56) Dies ist leichter gesagt als getan: Decker zufolge besteht die Schwierigkeit vor allem in der Globalisierung, die Kämpfe im Rahmen von Nationalstaaten als „überholt“ (ebd., 57) erscheinen ließen. Seiner Ansicht nach „müsste eine Art neuer Internationalismus entwickelt werden, der linke Politik und Brüche im Rahmen des Nationalstaats mit ihren transnationalen Ermöglichungsbedingungen verknüpft und diese zum Teil von Hegemonieprojekten macht.“ (ebd.) Dieses Wortgeklingel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an praktischen Vorstellungen mangelt, wie nationale Klassenkämpfe auf die Internationalisierung des Kapitals reagieren sollten. Dagegen ist anzuführen, dass Ausgangspunkte von sozialen Konflikten immer noch die inneren Widersprüche von Gesellschaften sind, die sich als national verfasst verstehen. Insgesamt zeigen der Erfolg des Buchs und die Debatten darüber – trotz der analytisch unklaren Fundierung des Begriffs – dass hier ein Punkt angesprochen wurde, der in sozialen Bewegungen, die sich gegen die neoliberale und ressourcenintensive Globalisierung richten, große Resonanz findet. Notwendig wäre es in diesem Kontext, den inneren Zusammenhang zwischen den Problemen der Nord-Süd-Beziehungen, der ökologischen Zerstörung und den sozialen Ungleichheiten deutlich zu machen. Der Kampf gegen letztere kann sich angesichts der ökologischen Krise nicht in Umverteilung erschöpfen, es kann allerdings auch nicht bloß um Wohlstandsverzicht gehen: Notwendig ist – da ist Decker zuzustimmen – „eine andere Vorstellung (und Praxis) von Wohlstand…“, die nicht mehr Konsum in den Mittelpunkt stellt (ebd., 57). Ansätze dazu gibt es z.B. in den Bewegungen gegen die neoliberale Freihandelspolitik; auch bietet die Tatsache, dass in der klassischen gewerkschaftlichen Tarifpolitik Fragen der Arbeitsqualität, der Arbeitszeit und der Zeitsouveränität an Stellenwert gewinnen positive Anknüpfungspunkte.
Jörg Goldberg
Revolutionslektüren
In der quartalsweise erscheinenden Zeitschrift Berliner Debatte Initial, die sich jüngst wiederholt mit den russischen Revolutionen von 1917 und ihren Auswirkungen beschäftigt hat, legt Wladislaw Hedeler eine umfassende, materialreiche kritische Übersicht zu den im Kontext des 100. Jahrestages insbesondere im deutschsprachigen Raum erschienen Büchern, Zeitschriften- und Zeitungsaufsätzen vor.1 Er ergänzt diese oft über Annotationen hinausgehenden Berichte mit Eindrücken von in Deutschland, aber auch in Russland stattgefundenen Konferenzen und Ausstellungen.
Hedeler eröffnet einen guten Einblick in die aktuellen Debatten um jene Ereignisse vor 100 Jahren, die wesentlich das 20. Jahrhundert, aber auch noch die Gegenwart prägen. Die Zeiten des hohen Liedes auf den Roten Oktober sind für viele Linke heute vorbei. Während manche bürgerlichen Betrachter immer noch ihrer Kalten-Kriegs-Rhetorik huldigen, ermöglicht einigen die historische Distanz und die heute offensichtlich von links fehlende Bedrohung des realen Kapitalismus, differenzierter über historische Ereignisse und Akteure zu forschen und zu diskutieren. Dies macht die fachhistorischen Diskussionen auch für die linke Debatte produktiver.
Unverkennbar ist, dass an diesen Jahrhundertereignissen niemand vorbeigehen kann, jedoch bleibt die Frage eines möglichen Aufgreifens der historischen Erfahrungen auch für Linke umstritten. So gut Hedeler es versteht, die Fülle der Angebote und Diskussionsstränge zumindest anzudeuten, so klar hält er mit seinen eigenen, in zahlreichen Publikationen untermauerten Positionen nicht hinter dem Berg. Hier kommt ihm auch seine quellengesättigte Beschäftigung mit der zeitgenössischen russischen Diskussion von 1917 zwischen den unterschiedlichen linken Parteien und Gruppierungen im Umfeld der Revolutionen zugute.2 Schon das ist für eine differenzierte Sicht außerordentlich hilfreich, weil sie sowohl die kanonisierten „marxistisch-leninistischen“ Interpretationen wie auch die Mainstream-Verdikte damit außen vor lassen kann.
Hedeler stellt vier Fragen in den Mittelpunkt seiner Literaturrecherche. Da ist zuallererst das Verhältnis von Februar und Oktober. Nachdrücklich wird die vermeintlich deutliche Trennung zwischen diesen beiden Revolutionen aufgehoben; die Verbindungen und die in beiden Ereignissen handelnden politischen und sozialen Kräfte werden herausgestellt. Damit gewinnt (auch in den aktuellen Debatten) der Februar deutlich an Kontur, allerdings mit der Tendenz, dass er als „die“ wirkliche Massenaktion auf den Straßen mit der unmittelbaren Erlebbarkeit der Demokratie vor allem in Gestalt der Sowjets den Oktober überstrahlen soll. Die Oktoberrevolution wird in nicht wenigen der ausgewerteten Publikationen als ein wahrscheinlich vorschnell durch die bolschewistische Avantgarde herbeigeführter, scheinbar weniger in Massenstimmungen und gesellschaftlicher Reife verwurzelter Umsturz gedeutet. Die realen politischen Auseinandersetzungen und der rasche Einflussgewinn Lenins und seiner bolschewistischen Losungen für Frieden, Brot, Land, nationale Freiheiten im Sommer und Herbst 1917 bleiben in diesem Kontext unterbelichtet.
In Anschluss an Manfred Kossok favorisiert Hedeler (wie auch schon in seinem Aufsatz in Z 110: 93-104) die These von der „peripheren Revolution“, um herauszuarbeiten, warum der sozialistische Anspruch – der letztlich ja auch in Russland/Sowjetunion bitter scheiterte – im Westen mit seinen entwickelteren sozialen und politischen Strukturen keinen Erfolg haben konnte. Hier bleiben auch Hedeler und viele der von ihm ausgewerteten Autoren die Antwort schuldig. Dass die Möglichkeit des „Sozialismus in einem Land“, wie sie unter Stalin der Not gehorchend oder aus Unkenntnis der wirklichen, marxistisch begründbaren Schritte zur Überwindung des Kapitalismus gegangen wurden, abgelehnt wird, ist die logische Konsequenz seiner Argumentation. Allerdings beantworten die Analysen nicht die Frage, was aus damaliger Sicht solche angemessenen Schritte gewesen wären – außer dem Verzicht, zu den Waffen und nach der Macht zu greifen. Schließlich wird in nicht wenigen der analysierten Publikationen selbst der Revolutionsanspruch zugunsten einer demokratischen, auf Reformen setzenden Gesellschaftsveränderung in Frage gestellt. Einer Einsicht, der sich wohl auch Hedeler anschließen mag. Aber auch er kann aus seiner Lektüre nicht beantworten, wie historisch und erst recht aktuell eine solide verankerte und wehrhafte kapitalistische Gesellschaft überwunden werden kann.
Stefan Bollinger
[1] Richard Gebhardt, „Querfront“? Zur Kapitalismuskritik und Diskurspiraterie der Neuen Rechten, in: Das Argument 323 (2017), S. 347-362.
1 In einem abgekoppelten Wagen. Interview mit Klaus Dörre, in: Neues Deutschland, 23. 06. 2017; Klaus Dörre: Hoch oben, tief unten. Ungleichheit, Abstiegssorgen, Kollektividentität: Über die Bundesrepublik als Klassengesellschaft, Teil I, in: Neues Deutschland, 18. 09. 2017; ders.: Für eine inklusive Klassenpolitik. Warum eine bloße Rückkehr zu klassischer sozialdemokratischer Verteilungspolitik nicht ausreicht, Teil II, in: Neues Deutschland, 19. 09. 2017.
2 So Mario Neumann, in: ND, 12. 12. 2017.
3 So Oskar Lafontaine, in: ND 27. 09. 2017.
4 Süddeutsche Zeitung 03. 01. 2018.
1 Emma Dowling, Silke van Dyk, Stefanie Graefe, Rückkehr des Hauptwiderspruchs? Anmerkungen zur aktuellen Debatte um den Erfolg der Neuen Rechten und das Versagen der „Identitätspolitik“, in: Prokla Nr. 188, 47. Jg. 2017, Nr. 3, 411–420.
1 Die Debatte wurde im „Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung“ (Nr. 5-2017) eröffnet und in Nr. 6/7-2017 fortgeführt. Ich beziehe mich hier auf die erweiterten Texte in „Sozialismus“ von Dieter Boris; Ulrich Brand/Markus Wissen und Samuel Decker, Imperiale Lebensweise?, Kritik und Replik, in: Sozialismus, Heft 7/8-2017, 12-2017 und 2/2018
1 Siehe Wladislaw Hedeler, Ein Revolutionsjahr und seine Folgen, Teil 1 und 2. In: Berliner Debatte Initial. H. 2/2017, S. 121-136 und 4/2017, S. 147-168.
2 Siehe Wladislaw Hedeler, Russische sozialistische Parteien 1917 im programmatischen Wett- und Widerstreit. In: Z 109 (März 2017), S. 45-58; ders., Oktoberrevolution – periphere Revolution? Leitrevolution? In: Z 110 (Juni 2017), S. 93-104.