Mohssen Massarrat, Braucht die Welt den Finanzsektor? Postkapitalistische Perspektiven, VSA: Verlag Hamburg 2017, 304 S., 24,80 Euro
Dass der Kapitalismus ungeheuer anpassungsfähig ist und auch die größten Krisen unbeschadet überlebt hat, ist eine Binsenweisheit. Betrachtet man heute die (kapitalistische) Welt, so scheint Kapitalismus kompatibel zu sein mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen und Rahmenbedingungen – die Umverteilung des Mehrprodukts durch den Staat, die Abwesenheit von Privateigentum im europäischen Sinn, sogar die politische Führung durch kommunistische Parteien wird von diesem ökonomischen System integriert.
Merkwürdigerweise wurden aus dieser Tatsache bislang kaum analytische Schlussfolgerungen gezogen. Dies in Angriff genommen zu haben ist das Verdienst des vorliegenden Buches, das im Übrigen mehr leistet als der Titel ankündigt. Die sieben Kapitel lassen sich in drei Komplexe einteilen: In Kapitel 1 und 2 entwickelt der Autor zwei zentrale analytische Kategorien: die Unterscheidung zwischen „logischem“ und „historischem“ Kapitalismus einerseits und den Zusammenhang zwischen Macht und kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten andererseits. Die Kapitel 3 bis 6 schildern – belegt mit gut ausgewähltem empirischem Material – drei historische „Kapitalismusformationen“ (234), den Freihandelskapitalismus, den keynesianischen Kapitalismus und den aktuell herrschenden Finanzkapitalismus. Dies sind nach Ansicht des Autors nicht einfach Entwicklungsstufen des Kapitalismus, sie werden vielmehr von wechselnden „Machtbeziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit einerseits und Machtbeziehungen unter den Kapitaleigentümern andererseits“ bestimmt (287). Wichtig ist die These, dass die Krise des keynesianischen Kapitalismus in den 1970er Jahren auch mit den „schrumpfenden Wachstumsressourcen“, also den „ökologischen Grenzen des Wachstums“ zusammenhängt. Schon deshalb ist der an anderer Stelle (junge Welt v. 30.10.2017) geäußerte Vorwurf, der Autor wolle „zurück zum Keynesschen Kapitalismus“, unzutreffend. Leider behandelt Massarrat die Kapitalismusformen in den aufstrebenden Schwellenländern nicht, sodass unklar bleibt, ob bzw. wie diese in die an der europäischen Geschichte orientierten Formationsbeschreibungen eingeordnet werden können. So gibt es z.B. auch in China Momente des Finanzkapitalismus, die sich bislang allerdings nicht verselbständigt haben. Im 7. Kapitel befasst sich der Autor mit Überlegungen zur Überwindung des Kapitalismus und zu postkapitalistischen Gesellschaftsordnungen. Dabei sollen hier nur zwei Aspekte hervorgehoben werden: Die Überwindung des Kapitalismus kann nach Ansicht des Autors nur „in zwei evolutionären Schritten erfolgen“, wobei es im ersten Schritt um die „friedliche Zerschlagung des (…) Finanzkapitalismus“ geht (235). Nur so könne es gelingen, gesellschaftliche Mehrheiten zu mobilisieren – ohne Zwischenschritte würde man mit dem Kapitalismus verbundene Gruppen wie „Mittelschichten, Teile der Arbeiterschaft und die liberale Zivilgesellschaft“ (ebd.) an die Seite der Finanzoligarchie treiben.
Veränderungen im Kapitalismus benötigen gesamtgesellschaftliche Perspektiven, die die unterschiedlichen Interessen der Lohnabhängigen bündeln: Nach Ansicht des Autors ist die „radikale Verkürzung der Arbeitszeit“ ein Konzept, das zum Kern eines neuen „gegenhegemonialen Projekts“ werden kann. Innovative Formen der Arbeitszeitverkürzung verbinden den Kampf um Wohlstandsgewinne mit dem ökologisch gebotenen Ende von quantitativem Wachstum und Ressourcenverbrauch.
Das Buch ist klar strukturiert und verständlich geschrieben. Die Kernthesen sind schlüssig entwickelt und skizzieren m.E. Grundzüge eines realistischen und modernen Konzepts zur Überwindung des Kapitalismus. Auch wer nicht alle Aussagen des Buchs teilt, wird in Zukunft nicht umhinkommen, sich an Massarrats Thesen abzuarbeiten. Es ist eine Arbeit, die auch über die aktuelle Situation hinaus Gewicht besitzt. Die Erkenntnis, dass es sich hier um eine grundlegende Arbeit, einen bedeutenden Beitrag zur Analyse des modernen Kapitalismus handelt, wird durch die Wahl des Titels nicht unbedingt erleichtert: Dieser spricht etwas irreführend vom „Finanzsektor“, wobei der Leser immerhin im Vorwort erfährt, dass damit nicht der Bankensektor gemeint ist, welcher natürlich „für die Kreditversorgung der Ökonomie unverzichtbar“ ist (204). Die oben erwähnte Buchbesprechung in der Jungen Welt rennt offene Türen ein, weil sie die vom Autor im Text herausgearbeitete Unterscheidung zwischen Kreditversorgung und Investmentbanking, zwischen Finanzsektor und Bankensektor, nicht zur Kenntnis nimmt.
Einige Darstellungs- bzw. Diskussionsprobleme seien abschließend erwähnt. Das erste betrifft die Unterscheidung zwischen „logischem“ und „historischem“ Kapitalismus. Diese Kategorien sind in meinem Verständnis auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen angesiedelt. Massarrat formuliert eingangs: „ (…) die Realität kapitalistischer Gesellschaften ist immer eine Synthese aus der Wechselbeziehung zwischen konkreten (? JG) Verwertungsmechanismen des Kapitals und dessen jeweils historischem Umfeld.“ (16) Dem könnte man zustimmen, wenn der Autor nicht im weiteren Gang stellenweise den Eindruck erweckt, als gäbe es Kapitalismen, die dem „logischen“ Kapitalismus näher oder ferner wären – Formulierungen wie „vom Kapitalismus in seiner kristallklaren Reinheit“ (94) sind diesbezüglich zumindest missverständlich. Die Frage, was genau die „kapitalistischen Funktionsmechanismen“ (16) sind, die universal gelten und die sich in unterschiedlichen gesellschaftlich-geografischen Umfeldern unterschiedlich ausprägen wird nicht behandelt. Die Formulierung, der „Logische Kapitalismus“ werde durch „äußere Faktoren“ modifiziert (16), wirkt eher verwirrend – als sei der „logische“ Kapitalismus doch irgendwie ein Idealtyp, dem die kapitalistische Wirklichkeit näher oder ferner stehen könne. Dass an mehreren Stellen vom „gleichgewichtigen Kapitalismus“ (141/238) gesprochen wird, dass so der Eindruck entstehen kann, ein nach den Wertgesetzen funktionierender Kapitalismus sei widerspruchsfrei, ist m.E. ein Darstellungsproblem – denn bei der konkreten Analyse der keynesianischen Kapitalformation wird ja deutlich, dass diese alles andere als „gleichgewichtig“ ist.
Ein Dissens sei zweitens auch hinsichtlich Massarrats Einordnung des klassischen Imperialismusbegriffs angemeldet – obwohl ich inhaltlich der Kritik an der Missdeutung der leninschen/luxemburgischen Imperialismusdefinition als „höchste“ Entwicklungsetappe zustimme: M.E. haben Hedeler/Külow in ihrer kritischen Neuausgabe der leninschen Schrift diese in den richtigen historischen Kontext gestellt und gezeigt, dass sie in den revolutionären Zyklus der Periode des Ersten Weltkriegs gehört (Vgl. Z 107, S. 198 ff.). Auch ist es m.E. nicht richtig und nicht durch den leninschen Text gedeckt, das Monopol durch Abwesenheit von Konkurrenz zu definieren (87) – Monopole im marxistischen Sinn sind ein Formwandel der Konkurrenz. Die Konkurrenz – im Sinne des Aufeinanderwirkens von Einzelkapitalen – gehört zu den grundlegenden Funktionsmechanismen des Kapitalismus, also zum „Logischen Kapitalismus“. Richtig ist dagegen die Kritik an der Vorstellung von Kapitalkonzentration als „lineare Entwicklung“ – dies aber vor allem deshalb, weil Konkurrenz und Monopol eben kein Gegensatz sind. Etwas ärgerlich (jedenfalls für einen Anhänger der SMK-Theorie) die unzutreffende Behauptung: „Diese Theorie lässt zwischen dem keynesianischen Sozialstaat und seinem neoliberalen Gegensatz genauso wenig Unterschiede zu wie sie auch ausschließt, differenzierte Reformstrategien herauszuarbeiten.“ (61) Genau das hat die SMK-Theorie getan, wenn auch eingeräumt werden muss, dass sie selbst dazu beigetragen hat, den Blick auf diese Leistungen durch die Verbindung zum politischen Konzept der ‚allgemeinen Krise des Kapitalismus‘ zu verstellen.1 Massarrats Strategie der Überwindung des neoliberalen Kapitalismus ähnelt doch ziemlich dem antimonopolistischen Bündnis der SMK-Theorie.
Diese kritischen Anmerkungen (über die man natürlich diskutieren kann) mindern den Wert des Buchs nicht: Massarrat macht deutlich, dass die reale Entwicklung des Kapitalismus, seine konkret-historische Ausprägung und Entwicklungsrichtung wesentlich vom Kräfteverhältnis der kämpfenden Klassen geprägt wird, dass ökonomische Prozesse, wie z.B. die relative Verselbständigung der Finanzsphäre gegenüber der Produktionssphäre im Finanzmarktkapitalismus, eng mit den Verteilungsverhältnissen und damit mit den Machtverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit verbunden sind. Es wird gezeigt, dass eine Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit ohne eine Einbeziehung des Klassenkampfes und der Kräfteverhältnisse in die Irre führen muss.
Jörg Goldberg
1 Vgl. Jörg Goldberg, Formwandel der kapitalistischen Produktionsweise und die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Ingo Schmidt (Hrsg.), Das Kapital@150. Russische Revolution@100, Hamburg 2017, S. 153 ff.