Editorial

Dezember 2017

Im Krisenherd Europa nehmen die zentrifugalen Tendenzen zu. Die „Kollateralschäden und -kosten“ der konkurrenzbetonten Kapitalexpansion im Rahmen der EU sind ebenso wie der skandalös-inhumane Umgang mit Migration und Flüchtlingen und die dabei entstandenen inneren Konflikte zwischen den EU-Ländern Nährboden für rechte, rassistische Tendenzen, die sich in Wahlerfolgen entsprechender Parteien und Bewegungen zeigen. Klaus Dräger kommt in seiner Analyse des europäischen Wahlzyklus von 2015 bis 2018 trotz der zahlreichen Rechts- und wenigen Linksausschläge zu dem Ergebnis, dass die „extreme Mitte“ in den Zentren des Kontinents halte, auch wenn „normales“ bürgerliches Regieren schwieriger werde. Während die rechte Mitte mehrheitlich stabil geblieben sei, sei die linke Mitte in diesem Wahlzyklus nahezu verschwunden. Auch sein Blick auf die radikale Linke ist wenig hoffnungsvoll. Trotz einzelner Erfolge habe sie der realen Entwicklung eines Europas des Kapitals wenig entgegenzusetzen und könne den generellen Rechtstrend (gegenwärtig) nicht aufhalten. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom September und der damit verbundene politische Rechtsruck sind Thema des Redaktionsbeitrags von Jörg Goldberg, André Leisewitz, Jürgen Reusch und Gerd Wiegel. Deutliche Verschiebungen von links nach rechts wie innerhalb der Rechten fallen ins Auge. Die sozialstrukturellen Aspekte des Ergebnisses sind von besonderem Interesse. Trotz stabiler konjunktureller Lage haben die bisherigen Regierungsparteien massiv verloren, was auf die gespaltene Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit verweist, mit der sich soziale Abstiegsängste, aber auch kulturell vermittelte Ängste vor dem rasanten Wandel sozialer Nahräume verbinden. Die AfD zeigt sich als Profiteur beider Stränge, womit zugleich die Schwäche der Linken deutlich wird. Der sich abzeichnende „Eigentumsblock“ einer Regierung aus Union, FDP und Grünen lässt keine Änderung der Politik erwarten; die Bedeutung des Wahlergebnisses für die politische Linke soll in Z 113 diskutiert werden.

***

Weltwirtschaft, G20 und die Nationalstaaten: Die Weltwirtschaft blickt auf eine seit 2010 anhaltende konjunkturelle Aufwärtsbewegung zurück, die sich wohl auch im kommenden Jahr fortsetzen wird. Jörg Goldberg verweist auf drei Unsicherheitsmomente: In den entwickelten Ländern stagnieren die Investitionen trotz (oder wegen?) der Digitalisierung. Die Expansion der Schwellenländer setzt sich fort, Ungleichgewichte verweisen auf eine zunehmende Fragilität des Aufstiegsprozesses. Auf den boomenden Finanzmärkten wächst die Angst vor den Folgen des möglichen Abschieds der Notenbanken von der expansiven Geldpolitik.

Mit dem Aufstieg wichtiger Schwellenländer wird auch die bislang von den USA und vom Westen dominierte Weltwirtschaftsordnung in Frage gestellt. Andrés Musacchio zeigt am Beispiel der G20, dass bislang weder die Krise des Neoliberalismus noch das Auftreten neuer Akteure die alten Strukturen und deren Politik grundlegend verändert haben. Angesichts von Krisen in einigen Schwellenländern (Brasilien, Russland) und dem politischen Richtungswechsel in Teilen Lateinamerikas erscheinen die Chancen für eine neue, multilaterale Weltwirtschaftsordnung eher gering. China mit seiner überragenden Wirtschaftskraft könne sich auch in der alten, neoliberal und westlich geprägten Ordnung durchsetzen.

Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA ist das größte und älteste Freihandelsabkommen „neuen Typs“, das über Handelsfragen hinaus versucht, den beteiligten Ländern eine neoliberale Marktordnung im Sinne des ‚Washington Consensus‘ aufzuzwingen. Die von US-Präsident Trump geforderte Neuverhandlung wird nach Ansicht von Dieter Boris nicht zu einer (eigentlich notwendigen) Reform des Abkommens führen, sondern lediglich bestimmte Sonderinteressen der USA durchsetzen. Immerhin eröffne dies auch für die demokratische Opposition in den drei beteiligten Ländern neue Möglichkeiten für gemeinsamen Widerstand. Bei den Veränderungen in Europa wie im Rahmen der bestehenden Weltwirtschaftsordnung kommt dem Verhältnis von Nationalstaaten und supranationalen Strukturen eine zentrale, auf der Linken umstrittene und immer wieder neu diskutierte Rolle zu.

Peter Wahl problematisiert das Verhältnis der europäischen Linken zum Nationalstaat und skizziert die Termini „Nation“, „Nationalismus“ und „Nationalstaat“, um den defizitären Gebrauch der Begriffe im öffentlichen Diskurs aufzuarbeiten.

***

Streiks und Gewerkschaften: Im „Streikmonitor“ geben Lea Schneidemesser, Dirk Müller und Juri Kilroy einen Überblick zu Streiks und Arbeitskämpfen im ersten Halbjahr 2017. Der Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital ist auch in einer Periode ausgeprägter wirtschaftlicher Prosperität virulent. Etwa die Hälfte der Arbeitskämpfe um tarifliche Absicherung von Lohn- und Arbeitsbedingungen, um Arbeitszeiten und gegen Arbeitsplatzabbau/Betriebsschließungen entfiel auf den Organisationsbereich von ver.di, ein weiteres Drittel auf den der IG Metall. Neu sind Forderungen nach Absicherung vor Auswirkungen der Digitalisierung. Der Arbeitsrechtler Rolf Geffken steuert Überlegungen bei zur Bedeutung der Dialektik von Arbeitskämpfen, Arbeitsrecht und Gewerkschaften in der alten Bundesrepublik sowie in West- und Ostdeutschland nach 1990, wobei er sich besonders mit der Phase der „Transformation“ der DDR-Wirtschaft nach 1990 und deren Auswirkung auf gewerkschaftliche Einstellungen und die Tariflandschaft in Ostdeutschland befasst.

Prostitution/Sexarbeit: Angesichts des im Juli 2017 in Kraft getretenen „Prostituiertenschutzgesetzes“ fragt Margarete Tjaden-Steinhauer, „woher die Verbissenheit der bürgerlichen Staatsgewalt rührt, die Branche der sexuellen Dienstleistungen rechtlich aus den übrigen Gewerben auszugrenzen“. Im Anschluss an eine Analyse des Gesetzes argumentiert sie, das Gesetz diene zum einen indirekt der Stützung der patriarchal strukturierten Familie, zum anderen der „Eindämmung“ „migrantischer“ Sexarbeit. In seiner Besprechung des von Katharina Sass herausgegebenen Bandes „Mythos Sexarbeit“ verweist Lothar Peter auf die Kontroversen innerhalb der deutschen Linken darüber, ob sexuelle Dienstleistungen normalisiert oder abgeschafft werden sollten. Peter selbst plädiert für den sogenannten abolitionistischen Standpunkt, der den Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe stellen will.

Weitere Beiträge: Im letzten Teil seines Literaturberichts zu „Varianten des Postkapitalismus“ vergleicht und kritisiert Werner Goldschmidt die „realutopischen“ Ansätze Dieter Kleins und Eric Olin Wrights. In einem Fazit der Artikelserie konstatiert er, dass es gegenwärtig kein geschlossenes, einheitliches Theoriegebäude der Überwindung des Kapitalismus gebe, betont andererseits, dass eine solche Transformation die Aufgabe einer den vielfältigen Debatten gegenüber offenen praktischen Politik sei. Jörg Roesler stellt in seiner Analyse der Wirtschaftsentwicklung der Sowjetunion nach 1917 für die ersten 45 Jahre fest, sie habe vom Bürgerkrieg bis zur Wirtschaftsorganisation im Krieg gegen den Faschismus und dem Wiederaufbau Wirtschaft und Lebenslage der Menschen vorangebracht. Gleichzeitig verweist er darauf, dass nicht das als „Geburtsfehler“ gebrandmarkte Demokratiedefizit den wirtschaftlichen Niedergang eingeleitet hat, sondern letztlich Führungsschwäche und schwindende Massenunterstützung im Gefolge des Ausbleibens weiteren wirtschaftlichen Fortschritts.

Werner Seppmann hinterfragt die sozialen und zivilisatorischen Auswirkungen des Einsatzes von IT-Technologien. Nur wenn man sich ihrer „Schattenseiten“ bewusst sei, könne auch an eine „alternative Verwendungsweise digitaler Technologien“ gedacht werden. Helmut Knolle behandelt einen in Debatten über Ursachen und Folgen patriarchaler Verhältnisse wenig beachteten Aspekt: Der Tatsache, dass bei wachsender Bevölkerung und einem Heiratsverhalten, das kulturell verlangt, dass der Mann älter zu sein hat als die Frau, ein permanenter „nuptialer Frauenüberschuss“ entsteht. Dies führe oft zum Zerfall von Familien und alleinstehenden Frauen mit Kindern, da die Männer ausreichend jüngere Frauen fänden.

***

Aus der Redaktion: Neu in die Redaktion eingetreten sind Stefan Bollinger (Historiker, Berlin), Dominik Feldmann (Politikwissenschaftler, Siegen), John Lütten (Soziologe, Jena) und Patrick Ölkrug (Politikwissenschaftler, Marburg). Regine Meyer ist zu unserem großen Bedauern aus dem Beirat ausgeschieden – andere Arbeitsschwerpunkte ließen ihr keine andere Wahl. Eike Kopf bittet um eine Korrektur: Die Redaktion hatte ihn als Übersetzer des Beitrags der chinesischen AutorInnen Xy Yang und Lin Fangfang in Z 111 ausgewiesen, die den Beitrag aber bereits selbst auf Deutsch verfasst hatten.

Da in der Redaktion nachgefragt und sie wegen Nichtinformation gerügt wurde: Beiträge in Z können bei der VG Wort als Beiträge in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gemeldet werden.

Z 111 (September 2017) „150 Jahre Das Kapital und der globalisierte Kapitalismus“ war zwischenzeitlich vergriffen und ist in 2. Auflage wieder lieferbar.

Z 113 (März 2018) wird als Schwerpunktthema „Marx 200: Arbeit und Ausbeutung“ behandeln.

Die „Marxistische Studienwoche“ 2018 findet vom 19. bis 23. März 2018 in Frankfurt/M., Haus der Jugend, statt. Thema: „Marx 200: Klassentheorie und Klassenbewegungen heute“. Näheres sh. Vorankündigung in diesem Heft, S. 61.