Weltwirtschaft, G20 und die Nationalstaaten

Ende oder Neuauflage von NAFTA?

von Dieter Boris
Dezember 2017

Das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA[1], das jahrelang – zumindest hierzulande – kaum bekannt war und/oder wenig beachtet wurde, ist das größte Freihandelsabkommen in der Welt. Es umfasst ca. 480 Millionen Menschen und erstellt ein gemeinsames Bruttoinlandsprodukt von etwa 20 Billionen US-Dollar, was etwa 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung entspricht. Das Handelsvolumen zwischen den drei Mitgliedsländern liegt jährlich bei einer Billion US Dollar. NAFTA ist durch Präsident Trump in den letzten Monaten wieder an die politische Oberfläche gebracht worden. Die angedrohte Kündigung dieses Abkommens (inklusive des Mauerbaus zum südlichen Nachbarn) seitens Präsident Trump oder der Beginn von Neuverhandlungen über eine Neuauflage des Vertragswerks hat Mexiko und Kanada veranlasst, ebenfalls über NAFTA erneut nachzudenken. Man hört nun auch von dort, dass es überholt sei und ohnehin deutlich modifiziert werden müsste, was noch bis zur Wahl des neuen Präsidenten strikt in Abrede gestellt worden war.

Hintergrund, Kontext der Entstehung

Die Politik des sog. Washington-Konsens (1990), die die weitgehende Liberalisierung des Handels, des Finanzmarkts, der Wechselkurse und der Geldpolitik sowie die Privatisierung von Staatsbetrieben, Flexibilisierung bzw. Abbau arbeitsrechtlicher Sicherungen vorsah, war die hauptsächliche Antwort des IWF, der Weltbank, der USA usw. auf die fast alle Länder der Dritten Welt erfassende Verschuldungskrise der 80er Jahre; zugleich waren diese – alle auf Reduktion der Rolle des Staates in der Wirtschaft abzielenden Maßnahmen – „die Seele der Freihandelsabkommen“ (A. Villamar), die seither bilateral oder auf regionaler Grundlage abgeschlossen wurden. Den „Kräften des Marktes“, d.h. den Stärkeren, den größten Kapitalen sollte der Weg geebnet werden.

Das nordamerikanische Freihandelsabkommen war das erste, das die Maßnahmen und Empfehlungen des „Washington Consensus“ zusammenfasste, verbindlich machte, und es war darüber hinaus auch das erste Abkommen, das weit über die bloßen Fragen von Freihandel, Zollreduktionen und Quoten etc. hinausging. Seither bildet es gewissermaßen das Grundmodell für solche Freihandelsabkommen „neuen Typs“. Überdies war es das erste Freihandelsabkommen zwischen zwei hochentwickelten kapitalistischen Ländern (USA, Kanada) und einem Schwellenland (Mexiko).

Ziele und Versprechungen und wahre Intentionen beim Vertragsabschluß

Dabei waren die offiziell von den Verhandlungspartnern genannten Zielsetzungen bzw. Versprechungen folgende: Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums und der Produktivität, größere wirtschaftliche und soziale Stabilität, Erhöhung der Beschäftigung und der Einkommen, kurzum des Wohlstands im Allgemeinen, sowie eine dadurch vermittelte Verringerung der Migration und der Migrationszwänge. Gegenüber diesen mit hohem medialen Aufwand verbreiteten Zukunftsprognosen für NAFTA blieben große Teile der Bevölkerung in den drei Ländern überwiegend skeptisch. Für die Betreiber des Projekts in beiden Ländern USA und Mexiko (der Einfachheit halber wird Kanada beiseite gelassen) standen folgende spezifische Absichten beim Abschluss des Vertragswerks zwischen den ungleichen Partnern im Mittelpunkt:

- Für die USA war die engere politische und ökonomische Anbindung Mexikos vor allem deshalb interessant, weil die damit einhergehenden Investitionsmöglichkeiten im Dienstleistungs-, Banken- und Versicherungsbereich erhöht werden konnten; die noch freiere Nutzung der großen Lohndifferenzen zwischen den beiden Ländern und der Zugriff auf die Rohstoffe Mexikos (vor allem Erdöl und Erdgas) waren weitere Attraktionspunkte für die USA.

- Mexiko unter der Regierung von Salinas de Gortari (1988-1994) versprach sich einen erleichterten Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt sowie eine stärkere Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen in Mexiko, die ihre Produktionspalette auf den US-amerikanischen Markt ausrichten könnten. Die externe institutionelle Absicherung der gerade eingeführten neoliberalen wirtschaftspolitischen Orientierung schließlich war ein dritter Motivkomplex für die Regierung Mexikos, dem NAFTA-Abkommen hohe Priorität einzuräumen.

Wesentliche Bestimmungen

Zentral ist in dem 2000 Seiten umfassenden Vertragswerk die fast völlig ungehinderte Beweglichkeit von Waren, Kapital und Geld zwischen den Partnerländern. Zahlreiche branchenmäßige Sonderbestimmungen und zeitliche Übergangsregelungen sollten die Akzeptanz insbesondere für Mexiko erhöhen, das ja bekanntlich gegenüber den nördlichen Partnerländern einen großen Abstand in fast allen ökonomischen und sozialen Indikatoren aufweist.

NAFTA war aber auch das Experiment von etwas Neuem. Es unterschied sich wesentlich von früheren Handelsabkommen dadurch, dass neben Handel und Zöllen viele andere Bereiche des ökonomischen und sozialen Lebens geregelt bzw. dereguliert wurden. Ausländischen Investitionen wurden neue Privilegien und Schutzbestimmungen gewährt, was Anreize zur Verlagerung von Arbeitsplätzen erhöhte; NAFTA gewährte ausländischen Investoren das Recht, vor sog. „Investor-Staat-Schiedsgerichten“ (Investment-State Dispute Settlement, ISDS), deren Kompetenz und Legitimation ungeklärt blieb, Schadensersatz von anderen Staaten einzuklagen, wenn ihre Gewinnerwartung durch neue Gesetze oder auch kommunale Maßnahmen beispielsweise geschmälert würden. Man verpflichtete sich, einschränkende Regeln in Dienstleistungsbereichen wie Bank-, Energie- und Transportsektoren abzubauen. Damit war ein breites Spektrum von Themen in den Wirkungsbereich des Vertragswerks gerückt, die normalerweise nationalen demokratischen Verfahren und Entscheidungen überlassen sind: Neben den genannten Bereichen z.B. auch Fragen der nationalen Ernährungssicherheit, von Patenten, Urheberrechten, der Nutzung von Grund und Boden, nationaler Ressourcen, der Gewerbeausübung, Fragen regierungsamtlicher Verträge und Regulierungen in Dienstleistungssektoren, wie Gesundheit, Bildung, Telekommunikation etc. Lokale Initiativen zur Absatzförderung lokaler Produkte (z.B. Kampagnen für „buy american“) müssen unterbleiben. Dagegen müssen alle öffentlichen Aufträge innerhalb des gesamten Vertragsgebiets ausgeschrieben werden. Dank der Stärkung der Eigentumsrechte durch NAFTA konnte z.B. die Pharmaindustrie ihre Monopole bei medizinischen Patenten ausweiten, während die Standards für Lebensmittel- und Produktsicherheit ebenso reduziert wurden wie Grenzkontrollen. Die einzige Ausnahme der sonst unbegrenzten Beweglichkeit bildeten die nach wie vor hohen Schranken der Arbeitskräftemigration. Allein für hoch qualifiziertes und/oder akademisches Personal gibt es Ausnahmen bezüglich ihrer Mobilität über die Grenzen der Mitgliedsländer hinweg. NAFTA war auch ein Pionierabkommen insofern, als es erstmals (innerhalb von Freihandelsabkommen) Umwelt- und Arbeitsthemen in zwei gesonderten Abkommen berücksichtigte. Allerdings war das Procedere bei Klagen über die Verletzung von Arbeits- und Umweltnormen sehr langsam, unübersichtlich und gewährte kaum Möglichkeiten, Sanktionen wegen Nichterfüllung dieser Normen durchzusetzen.[2]

Folgen für Mexiko

In affirmativen, aber einseitigen Bewertungen von NAFTA wird auf die ungeheuere Dynamik hingewiesen, die von diesem Abkommen ausging. Die rasche Vervielfachung des Handelsvolumens (Versechsfachung oder Vervierfachung, je nach Länderpaar in zwanzig Jahren) sowie der enorme Anstieg der Auslandsinvestitionen um 500 Prozent in Mexiko, aber auch in geringerem Ausmaß in Kanada, wird als rundum positiv hervorgehoben; ebenso wie die gesamte Produktivitätssteigerung, aber auch die Profitabilität infolge der bedeutend gewachsenen wechselseitigen Durchdringung der drei Ökonomien.

Überblickt man aber die ökonomischen Konsequenzen des NAFTA-Abkommens für Mexiko im Allgemeinen, so muss man den skeptischen Stimmen bei seiner Entstehung Recht geben. Nach 23 Jahren, von 1994 bis 2017, lag in Mexiko das Wachstum des BIP pro Jahr im Durchschnitt bei 1 Prozent, im Vergleich zu 1,4 Prozent in anderen Ländern der Region. „Damit steht Mexiko auf Platz 15 beim BIP-Wachstum (in Lateinamerika). Nach Angaben der mexikanischen Behörden und des ‚CEPR’-Berichts (‚Center for Economic and Policy Research’, Washington) ist die Armutsquote von 52,4 im Jahr 1994 auf 55,1 Prozent im Jahr 2014 gestiegen. Bis 2014 gab es 20 Millionen Mexikaner mehr, die unterhalb der Armutsgrenze leben.“ (amerika 21 v. 4.4.2017)

Große Auswirkungen hatte die Deregulierung und Liberalisierung für die Landwirtschaft Mexikos. Aufgrund der vielfach subventionierten Agrarexporte aus den USA (Mais, Getreide, Ölpflanzen etc.) wurden kleine und mittlere Campesinos/Landwirtschaftsunternehmen in den Ruin getrieben. Man schätzt, dass mittlerweile ca. 2 Mio. Arbeitsplätze im Landwirtschaftssektor verschwunden sind, ohne dass Ersatz dafür über andere – von Mexiko in die USA gehende – Agrarexporte dafür geschaffen worden ist. Mexiko bezieht derzeit 30 Prozent seines Maiskonsums und 86 Prozent seines Sojakonsums aus den USA, obwohl in beiden Fällen auch die nationale Produktion angestiegen ist. Heute müssen in Mexiko 60 Prozent des Bedarfs an Weizen und 70 Prozent an Reis importiert werden. „Innerhalb von 20 Jahren hat sich der Export von mit subventioniertem Soja und Mais erzeugten Rinder-, Geflügel- und Schweinefleisch aus den USA nach Mexiko verfünffacht. In Mexiko wird das Fleisch zu Preisen verkauft, die 20 Prozent unter den Herstellungskosten liegen. Mexikanische Bauern sind nicht konkurrenzfähig.“[3] Durch neue, einseitige Spezialisierung hat Mexiko seine Nahrungsmittelsouveränität und -sicherheit verloren. Was nicht dadurch kompensiert wird, dass das Land nun bestimmte Früchte und Gemüse (die es in bestimmten Jahreszeiten in den USA nicht gibt) wesentlich mehr in die USA exportiert als zuvor.

In Mexiko „sind die Realeinkommen der Arbeitnehmer seit 1993 deutlich abgesunken: Die Kaufkraft eines Mindestlohnbeziehers ist in Mexiko heute im Durchschnitt um 38 Prozent geringer als vor Inkrafttreten von NAFTA. Anhaltende Landflucht, steigende Preise und stagnierende Löhne haben dazu geführt, dass nach wie vor mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung und mehr als 60 Prozent der Landbevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Das versprochene NAFTA-Paradies ist ausgeblieben.“[4]

Entsprechend hat sich die Migration nach den USA verstärkt. Laut „CEPR“ ist die Migration von Mexiko Richtung USA bis zu 79 Prozent pro Jahr gestiegen. Im Jahr der Unterzeichnung des Abkommens gingen jährlich 430.000 Mexikaner in die USA, im Jahr 2000 waren es 770.000. Seit 2006 wird ein Rückgang der Migration registriert. Der Grund liegt nicht in einer positiven Entwicklung der mexikanischen Wirtschaft, sondern in den schärferen Grenzkontrollen, der steigenden Arbeitslosigkeit in den USA (nach der Krise 2007ff.) und den immer gefährlicher werdenden Migrationswegen sowie den steigenden Preisen der Schlepper.[5]

Infolge der ausländischen Investitionen im industriellen und Dienstleistungsbereich sind zwar auch zahlreiche Arbeitsplätze in Mexiko entstanden, allerdings hat die Möglichkeit des Absatzes dieser Produkte auf dem heimischen Markt (im Unterschied zu der früher sehr dominanten „Maquiladora“-Industrie im Norden des Landes) zur schärferen Konkurrenz und Bedrohung bzw. Vernichtung von kleinen und mittleren mexikanischen Betrieben geführt; natürlich mit entsprechenden „Freisetzungen“ von Arbeitskräften. Das frühere „Maquiladora“-Prinzip (Import von Vorprodukten, Maschinen etc. und Verarbeitung, Montage mit billigsten und rechtlosen Arbeitskräften, sodann Export der Fertigprodukte in die USA oder andere externe Märkte) hat sich fast im ganzen Land ausgeweitet und diversifiziert, ohne dass die Industrie in Mexiko eine bedeutende technologische Weiterentwicklung gemacht hätte bzw. wesentliche Wertschöpfungsanteile des Endprodukts auf sich konzentrieren konnte.

Infolge der niedrigen ökologischen Standards, der enormen Belastung der Umwelt durch den extremen Lastwagenverkehr, des sorglosen Umgangs mit Abfällen/Giftmüll sowie auch durch die in den letzten Jahren deutliche Erhöhung der ausländischen Investitionen im Bergbaubereich hat sich in einigen Regionen das Ausmaß der Umweltbelastung nochmals gesteigert.

Schließlich kann nicht unerwähnt bleiben, dass infolge des intensiven Austauschs auf allen Ebenen (auch im Grenzverkehr) der Drogenhandel von Süd nach Nord einen schwunghaften Auftrieb erhalten hat und umgekehrt die Waffenlieferungen aller Art von Nord nach Süd sich enorm gesteigert haben. So hat NAFTA direkt und indirekt auch einen Anteil an der politisch sehr unstabilen und unsicheren Situation im Lande, das seit einigen Jahren zur „Weltspitze“ in der jährlichen Quote ermordeter Menschen zählt und von führenden Politikern des nördlichen Nachbarlandes schon häufig als „failed state“, als „zerfallender Staat“ bezeichnet wurde. Dass diese daran erheblich mitgewirkt haben, wird allerdings nur selten zugegeben.

Folgen für die USA

Aber auch für die USA war NAFTA keineswegs durchweg oder überwiegend segensreich.

Völlig entgegen manchen angeblich wissenschaftlich begründeten Voraussagen, dass NAFTA in den ersten zwei Jahren knapp 200.000 neue Arbeitsplätze schaffen würde, hat das Abkommen schon nach einem Jahrzehnt Wirksamkeit ca. 1 Mio. Jobverluste netto (d.h. unter Aufrechnung gegen tatsächlich neu geschaffener Arbeitsplätze) verursacht. Dies ist vor allem auf die Auslagerung bestimmter Produktionen nach Mexiko (extrem billige Arbeitskraft und geringere Umweltschutzbestimmungen) und den Re-Import dieser Produkte in die USA zurückzuführen. Die große Mehrheit der „freigesetzten“ Arbeitskräfte (vor allem ohne College-Abschluss) fand nur noch Jobs in gering qualifizierten Dienstleistungssektoren (Hotel-, Gaststättengewerbe, Hilfsdienste, Wächter, Gärtner etc.), was zu einem durchschnittlichen Absinken der Löhne um über 20 Prozent führte: Die Konkurrenz um solche Arbeitsplätze ist sehr hoch; sie wird noch dadurch verschärft, dass NAFTA-bedingt mexikanische Wanderarbeiter als Billigstarbeitskräfte auf dieses Segment des US-Arbeitsmarkts drängen. Damit trug NAFTA deutlich zur Vergrößerung der allgemeinen Ungleichheit bei, besonders bei den Lohnempfängern. Mit dem Abbau von zahlreichen Industriesektoren (infolge von NAFTA und den besonderen Privilegien der Auslandsinvestoren) wurde die De-Industrialisierung der USA vorangetrieben und später durch die Öffnung gegenüber China (durch dessen WTO-Beitritt 2001) noch verschärft. Beides hat zu dem mittlerweile gigantischen Handelsbilanzdefizit von über 400 Mrd. US Dollar beigetragen.

Mit NAFTA, auch entgegen den Voraussagen, lag gegenüber Mexiko und Kanada zusammengenommen das Handelbilanzdefizit der USA zuletzt bei 177 Mrd. US Dollar.

Schließlich: Nicht zuletzt durch eine Welle von Klagen seitens der Investoren gegen Umweltgesetze oder Umweltmaßnahmen bzw. eingeführte Lebensmittelstandards haben sich die ökologischen Mindestanforderungen tendenziell verschlechtert. Mittlerweile mussten die Regierungen von Kanada und Mexiko über 360 Mio. Dollar an „Entschädigung“ an Konzerne zahlen, die sich durch Umweltmaßnahmen in ihren Profiterwartungen enttäuscht bzw. getäuscht sahen; Forderungen von ca. 12 Mrd. Dollar sind noch anhängig bzw. noch nicht entschieden (Stand 2014).[6]

Angesichts dieser Schattenseiten von NAFTA, auch für die USA, kann nicht überraschen, dass es – Partei übergreifend – in diesem Land ziemlich unpopulär geworden ist. Die strikte Anti-NAFTA Position von Donald Trump – im Wahlkampf und auch danach – hat zweifellos seine Anhängerschaft wachsen lassen. Die Absage an TPP (das Transpazifische Handelsabkommen), das kurz vor dem Abschluss stand, als eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung sowie die skeptische Haltung auch gegenüber TTIP werden wohl von beträchtlichen Teilen der US-Bevölkerung gut geheißen.

Die Einsicht, dass NAFTA sich immer deutlicher statt „einer win-win Situation als lose-lose-Pleite“ (so Lori Wallach) entpuppt hat, scheint in den letzten Jahren ziemlich verbreitet gewesen zu sein. NAFTA hat in allen beteiligten Ländern zur weiteren Einkommens- und Vermögenspolarisierung beigetragen sowie regionale Disparitäten verstärkt.

Die frühe Kommentierung des Abkommens durch den weltberühmten Linguisten und Zeitkritiker Noam Chomsky, wonach NAFTA „ein höchst protektionistisches Abkommen sei, geschlossen von den USA und den assoziierten Eliten Kanadas und Mexikos gegen die Bevölkerungen ihrer eigenen Länder“, hat immer mehr an Plausibilität gewonnen.

Ist NAFTA reformierbar, wie wird seine Zukunft aussehen?

Angesichts der Fülle negativer Elemente und Wirkweisen von NAFTA scheint die Frage, ob dieses Freihandelsabkommen überhaupt wünschenswert und/oder reformierbar ist, eher rhetorisch zu sein. Sie ist aber aktuell, da, offenbar ausgelöst durch Trumps entsprechende Vorstöße seit April dieses Jahres, von Neuverhandlungen über die „Modernisierung“ bzw. die „Reform“ von NAFTA die Rede ist. Eine Reform, die die nationalen Interessen auch der betroffenen Bevölkerungen berücksichtigt und gleichzeitig einen Freihandel im herkömmlichen Sinne plus weiterer Privilegierung von Auslandsinvestitionen fortsetzt, ist schwer vorstellbar. Ein Kommentator der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schreibt Anfang des Jahres dazu: „Gefragt ist die Quadratur des Kreises, um eine Freihandelszone im Sinne des Protektionismus neu zu gestalten.“ (FAZ v. 25. Jan. 2017)

Wenngleich ein Austritt der USA aus dem Abkommen (womit Trump häufig gedroht hat) nicht zu erwarten ist (und auch der Mauerbau zwischen Mexiko und den USA weiter verschoben wird), sind bestimmte Veränderungen zu erwarten. Keiner weiß einigermaßen genau, in welche Richtung sie gehen werden. Aber anzunehmen, sie würden NAFTA sozial gerechter und vorteilhafter für die Masse der Bevölkerungen machen (und nicht für die Konzerne), scheint eher naiv zu sein. Denn eine Verbesserung und Einklagemöglichkeit von höheren Sozial- und Umweltstandards beispielsweise wäre nur in der Folge einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und ihnen nachfolgender Institutionalisierungsschritte denkbar, die bis jetzt von allen beteiligten Regierungsverantwortlichen abgelehnt wurden. Auch die Eliminierung der privaten Schiedsgerichte und damit eine Aufwertung nationaler, demokratisch legitimierter Rechtsprechungsorgane scheint wenig wahrscheinlich zu sein. Eine Orientierung auf eine diversifiziertere, regionale/lokale Eigenheiten berücksichtigende Wirtschafts- und Agrarstruktur (z.B. mit Ernährungssouveränität) wird sicherlich nicht zu den Zielpunkten der Verhandlungen gehören.

Von daher wird es wohl weder zu einer schnellen Auflösung von NAFTA kommen (angesichts des hohen Verflechtungsgrades[7] zwischen den beteiligten Ökonomien ist dies kurz- und mittelfristig kaum vorstellbar), noch wird es eine progressive Reform in der angedeuteten Art geben. Stattdessen werden vermutlich einige Sonderinteressen der US-Regierung – aufgrund der asymmetrischen Abhängigkeit Mexikos und Kanadas von den USA – durchgesetzt werden, soweit sie nicht maßgeblichen US-Konzernen Schaden oder Verluste bereiten.

Zum Stand der Neuverhandlungen

In den seit Mitte August laufenden Neuverhandlungen zwischen den USA, Mexiko und Kanada, die in sieben Runden bis Dezember 2017 abgeschlossen sein sollen, wurden bereits verschiedene Themen, offenbar relativ erfolgreich, abgearbeitet; so zumindest nach den spärlichen Verlautbarungen der Verhandlungskommission, die allerdings von den üblichen Twitter-Breitseiten des amtierenden US-Präsidenten begleitet werden. Offenbar betreffen die erreichten Erfolge die weniger kontroversen Punkte wie Regeln für kleinere und mittlere Betriebe für den transnationalen Marktzugang, Abbau von technischen Handelshemmnissen und neue Rahmenbedingungen für digitalen Handel und für die Telekommunikation; hier handelt es sich schlicht um Modernisierungsschritte, die vor 25 Jahren, als NAFTA ausgehandelt wurde, noch nicht absehbar waren (FAZ. Net v. 6.9.2017). Im Übrigen konnte auf Formulierungen von TPP zurückgegriffen werden, der die drei NAFTA-Mitglieder ja auch angehören sollten. In den Arbeitsgruppen über Arbeitsrecht, Lohnhöhe etc., wo die USA und Kanada auf die Anhebung von Standards und des Lohnniveaus (z.B. durch Anhebung der Mindestlöhne, freiere gewerkschaftliche Betätigung etc.) drängen, um die Auslagerungsanreize ihrer Produktionsunternehmen zu verringern, ist man von einvernehmlichen Lösungen offenbar noch weit entfernt; zumal Mexiko nicht nur auf Beibehaltung seines „Konkurrenzvorteils“ insistiert, sondern auch große Konzerne aus den USA (vor allem der Automobilindustrie, aber auch anderer Branchen) sehr daran interessiert sind, Mexiko als kostengünstige Produktionsplattform (mit durchschnittlichen Löhnen, die gegenwärtig unter jenen in der VR China liegen) sowie laxe Umweltstandards beizubehalten. Auch die Frage der Streitschlichtung zwischen Unternehmen und Regierungen enthält noch einiges Konfliktpotential, da der US-Präsident das bisherige bilaterale Verfahren abschaffen und die Kompetenz dazu auf die jeweiligen nationalen Gerichte übertragen will.

Vor allem aber ist das Hauptangriffsziel des US-Präsidenten, das chronisch negative und wachsende Handelsbilanzdefizit der USA gegenüber Mexiko und Kanada abzubauen, noch weit von einer einvernehmlichen Lösung entfernt. Die Idee, Strafzölle von 20 bis 30 Prozent auf Importe aus Mexiko zu erheben, um damit die Auslagerung von Produktionsteilen nach Mexiko zu verringern, würde ein Grundprinzip des Freihandels und der Zollbeseitigung verletzen. Daher wurde sie von der Verhandlungsdelegation, wie es scheint, durch das Konzept, mit einer Quotenerhöhung zu arbeiten, ersetzt. Gegenwärtig müssen z.B. Automobilfahrzeuge, die an den Grenzen zwischen den NAFTA Ländern Zollfreiheit genießen, zu 62,5 Prozent innerhalb des NAFTA-Raums produziert worden sein. „Trump würde dies gern dahingehend ändern, dass eine bestimmte Quote allein US-Werken entstammen muss. Dagegen wehren sich US-Konzerne allerdings auch. Im Gespräch ist deshalb nun, die 62,5-Prozent-Quote deutlich heraufzusetzen. Das träfe nicht US-amerikanische, sondern vor allem europäische und asiatische Konzerne, die Vorprodukte und Teile aus ihren Heimatwerken nach Mexiko exportieren, sie dort weiterverarbeiten und dann in den Vereinigten Staaten verkaufen. Sie könnten sich durch eine Quotenerhöhung tatsächlich genötigt sehen, Produktionsstätten in die USA zu verlagern.“[8] Es ist daher verständlich, dass die fast 6.000 im NAFTA-Raum aktiven Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung die Neuverhandlungen mit einiger Sorge beobachten.

Da ein Ende von NAFTA für Mexiko (aber auch für Kanada) kurz- und mittelfristig weit negativere Folgen als für die USA haben würde und ein „Plan B“[9] für beide kaum eine wirkliche Alternative zu NAFTA, selbst in langfristiger Perspektive, wäre, hat die US-Regierung eine relativ starke Position. Ihre Verhandlungsziele könnten zweifellos eher erreicht werden als die ihrer NAFTA-Partner. Es kommt letztlich auch darauf an, wie einflussreich die nicht geringe Zahl großer US-Konzerne ist, die vom augenblicklichen Zustand profitieren, und ob Trump bereit ist, seine Anhänger/Wähler aus der US-Landwirtschaft mit einer Frontalstrategie gegen den NAFTA-Erhalt zu brüskieren.

Protestbewegung gegen NAFTA „von unten“?

Opposition gegen das NAFTA-Projekt gab es in den drei betroffenen Ländern seit seiner Entstehungsphase zu Beginn der 90er Jahre. Außer punktuellen und relativ isolierten Protesten gegen Entlassungen infolge von Produktionsverlagerungen, Ruinierung von Existenzen infolge verschärfter Konkurrenz, wegen Verletzung von minimalen Standards der Arbeitssicherheit oder der Umwelterhaltung kam in keinem der drei Länder oder gar länderübergreifend eine wirksame politische Oppositionsfront zustande. Dies war natürlich mit der generellen Schwäche und Fragmentierung der politischen Linken in den einzelnen Ländern verbunden. Mit dem Anti-Freihandelsdiskurs von Präsident Trump, der damit eine populäre Stimmung nicht nur in den USA, sondern auch in Mexiko und Kanada, in seine Wahlkampfstrategie integrierte, scheint sich ein neues Wirkungsfenster für eine gemeinsame Opposition von NGOs, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften gegen die bestehenden Inhalte des Abkommens zu bilden. Dabei muss nicht nur die Wählertäuschung von Trump entlarvt und politisch vermittelt werden, die letztlich darauf abzielt, potentiell anti-kapitalistische und establishment-kritische Kräfte zu spalten und zu schwächen, um eine noch brutalere neoliberale Polarisierung durchzusetzen. Eine nicht leichte Aufgabe angesichts der seit Jahren andauernden Schwächung der Linken, auch der Gewerkschaften, seit der Clinton-Periode und erst recht in der nachfolgenden republikanischen Präsidentschaftsperiode. Ähnliche Rückschläge, wenn auch jeweils anders geartet, mussten die progressiven Strömungen in Mexiko und Kanada hinnehmen, so dass der beginnende Aufschwung eines gemeinsamen Bündnisses gegen NAFTA sich zunächst wieder finden und neu aufstellen muss. Möglicherweise könnte der mit Bernie Sanders ausgelöste Schub, ähnlich wie das gegenüber Trump vergleichsweise konsequente Auftreten des in Mexiko sehr populären Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) und das etwas offenere politische Klima unter Trudeau im Vergleich zu den vorherigen Regierungen Kanadas etwas günstigere Bedingungen bieten als in der Vergangenheit. In einer Abschlussdeklaration eines Treffens der Vertreter von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus allen drei Ländern wurden Umrisse eines politischen Programms für eine weitreichende und langfristige transnationale Zusammenarbeit festgelegt, wobei u.a. festgehalten wurde: „Die Forderung nach Angleichung der Mindestlöhne im NAFTA-Raum auf mindestens 15 US-Dollar, ein umfassender Schutz von Luft, Wasser und Boden sowie das Recht auf Selbstbestimmung und räumliche Integrität der indigenen Völker.“ (amerika 21 v. 4.6.2017)

Marxistische Studienwoche 2018

„Marx 200: Klassentheorie und Klassenbewegungen heute“

19.–23. März 2018, Haus der Jugend, Frankfurt/Main

Vorträge, Workshops und Diskussionsrunden mit u.a.: Frank Deppe, Klaus Dörre, Richard Detje, Janis Ehling, Ulrike Eifler, Thomas Goes, André Leisewitz, Marcel van der Linden, John Lütten, Nicole Mayer-Ahuja, Karl-Heinz Roth, Hans-Jürgen Urban.

Themen: Grundlagen und Basics der Klassentheorie; Klassenstrukturen im Wandel; Klassenantagonismus und Arbeiterklasse heute; Klassen und Politik – historisch und aktuell; Klassenkampf, Partei und Gewerkschaften heute; Kulturfragen – Klassen und Kultur historisch und heute.

Die Tagung richtet sich vorrangig an Studierende und junge Aktive. Teilnahme nur nach Anmeldung unter: redaktion@zme-net.de; Tagungsbeitrag (inkl. Reader, Übernachtung und Verpflegung): 50 Euro.

[1] NAFTA= North American Free Trade Agreement, von den USA, Kanada und Mexiko unterzeichnet 1992, in Kraft getreten am 1.1. 1994; spanische Abkürzung: TLCAN= Tratado de Libre Comercio de América del Norte.

[2] Ausführlicher zu den Inhalten des Vertragswerks: Dieter Boris, Mexiko im Umbruch. Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie, Darmstadt 1996, S. 86-100; speziell zu den geringen Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen der Konzerne siehe die Bilanz von: AFL-CIO, Zwanzig Jahre NAFTA, Tübingen 2015 (urspr. Washington, April 2014).

[3] Barbara Eisenmann, in: Der Tagesspiegel v. 6.12.2014.

[4] Lori M. Wallach, Zwanzig Jahre Freihandel in Amerika. In den USA, Mexiko und Kanada hat sich der versprochene Wohlstand nicht eingestellt, In: Le Monde diplomatique Juni 2015, S. 11.

[5] Nicht übersehen werden sollen die systematischen „Rückführungen“ (Deportationen) von Mexikanern in ihre Heimat, die von der vorherigen US-Regierung Obama veranlasst worden waren. „Barack Obama hatte während seiner achtjährigen Amtszeit drei Millionen Mexikaner deportieren lassen, die höchste Ziffer in der Geschichte. Er war das lächelnde Gesicht einer ungerechten Politik, die sich mit Hillary Clinton fortgesetzt hätte und die das Terrain für Donald Trumps irren Groll bereitet hat.“ (Juan Villoro, in FAZ v. 29.6.2017). Vgl. zu diesem gesamten Komplex die gerade erschienene, informative Studie von Raina Zimmering (Lateinamerikanische Migration und der Blick nach Europa, Potsdam 2017; sh. Besprechung in diesem Heft).

[6] Siehe: Public Citizen’s Global Trade Watch, NAFTA’s 20-Year Legacy and the fate of the Trans-Pacific Partnership, o. O. 2014, S. 5.

[7] Ein Beispiel. „Mexiko setzt zum Teil darauf, dass etwa die Chefs der amerikanischen Autoindustrie dem Präsidenten ihre Abhängigkeit von den grenzüberschreitenden Lieferketten in Nordamerika klarmachen. NAFTA-Fürsprecher werden nicht müde zu wiederholen, dass manche Teile von Fahrzeugen sieben- oder achtmal die nordamerikanische Grenze überqueren, bevor das Endprodukt auf den Markt komme; von dieser Arbeitsteilung hingen in allen drei Staaten unzählige Arbeitsplätze ab. Allein zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten werden täglich Waren im Wert von 1,4 Milliarden Dollar ausgetauscht.“ (FAZ v.25.1. 2017)

[8] Jörg Kronauer, in: junge Welt v. 6.9.2017.

[9] Experten wie der mexikanische Ökonom Enrique Dussel Peters sind der Ansicht, dass die mexikanische Regierung weder eine exakte Übersicht über die laufenden NAFTA-Prozesse besitzt noch gar über eine Strategie gegen die Trump-Vorstöße gegen Mexiko verfügt. Vgl. das Interview mit ihm in: ila. Das Lateinamerika-Magazin, Nr. 403, März 2017, S. 35-38.

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