Transformation der Demokratie – zwischen autoritären Tendenzen und Emanzipation
BdWi-Herbstakademie, Werneuchen/Werftpfuhl, 31. August bis 3. September 2017
In der Jugendbildungsstätte „Kurt Löwenstein“ in der Nähe von Berlin (Träger: SJD Die Falken) fand die seit 2003 jährlich tagende Herbstakademie des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) statt. Im Mittelpunkt standen die Themen Demokratisierung der Wissenschaft, gesellschaftliche Emanzipation und die Funktion „organischer Intellektueller“.
Beim Auftaktpodium zum „Zustand der Demokratie im 21. Jahrhundert“ fasste Ingar Solty (RLS) die aktuelle Krise des Kapitalismus mit Gramsci als Interregnum, in dem „das Alte stirbt und das Neue noch nicht zur Welt kommen kann“. Die staatliche Bearbeitung der sich zuspitzenden Widersprüche und des zerbröckelnden Konsenses der Beherrschten geschieht demnach durch verstärkte Zwangselemente eines autoritären Kapitalismus. Gegen die Entsicherung der Lebensverhältnisse der Unter- und Mittelklasse als Nährboden für Rechtsautoritäre plädierte Solty für eine neue, inklusive Klassenpolitik, die feministische, ökologische und antirassistische Kämpfe gegen den herrschenden Block zusammenführt. Felix Syrovatka (PROKLA) schloss daran anhand des französischen Beispiels an. Für den „autoritären Konstitutionalismus“ sei die Regulation des Lohnverhältnisses das zentrale Instrument im Verhältnis zu den Interventionsmechanismen der EU.
Christoph Jünke (Historiker) löste mit seinem Vortrag zur Oktoberrevolution eine besonders kontrovers geführte Debatte aus. Nach einer Einführung zum sozialistisch-bürgerlichen Doppelcharakter der Revolution, der fehlenden Nachahmung im Westen und der Kennzeichnung der Sowjetunion als „blockierter Übergangsgesellschaft“ behauptete der Referent, ohne Stalins Anweisungen an die KPD wäre Hitler nicht möglich gewesen. Dagegen wurde in der Debatte die Bedeutung der Russischen Revolution und der Sowjetunion für verschiedene Errungenschaften und Emanzipationsbewegungen betont, darunter das Ende des Ersten Weltkriegs, antikoloniale Kämpfe, der Sieg über den Hitler-Faschismus und die Befreiung der Frau.
Beim Panel „Wissenschaft, Demokratie und Öffentlichkeit“ erinnerte Torsten Bultmann (BdWi) an die „klassische 68er-Konstellation“ in der BRD, also eine autoritäre und vom Sputnik-Schock geschüttelte Gesellschaft, die von oppositionellen Friedens- und antifaschistischen Bewegungen geprägt war. Vor diesem Hintergrund stellte er die These auf, die heutige „unternehmerische Hochschule“ sei für den Hightech-Kapitalismus dysfunktional. Diese Dysfunktionalität bestehe in der Unfähigkeit zur Bildung qualifizierter Arbeitskräfte und zu wissenschaftlicher Innovation. Die Gründe dafür seien die vertikale Differenzierung, Verbürokratisierung und Drittmittelorientierung in einem von den Bachelor-Master-Studiengängen geprägten Hochschulwesen. Es gebe jedoch Bündnisoptionen für einen demokratischen Aufbruch an den Hochschulen mit der Spaltung der ProfessorInnenschaft als wichtigstem Hebel. Peter Ullrich stellte das aus 17 Mittelbau-Initiativen zusammengeführte „Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft“ (NGA Wiss) vor. In der anschließenden Workshop-Phase wurden verschiedene Perspektiven einer Praxis der Demokratie anhand von Feminismus (Juliane Victor), Ökologie (Christian Stache) und Klassenpolitik (Ingar Solty) entwickelt.
Auf dem Podium „Bewegung an den Hochschulen“ plädierte Andreas Keller (GEW) für eine Politik der kleinen Schritte hin zum „Traumjob Wissenschaft“. Marie Diekmann (unter_bau) betonte die Notwendigkeit statusgruppenübergreifenden Engagements und die Verbindung von Hochschul- und Gewerkschaftspolitik. Diskutiert wurde unter anderem über einen Bildungsstreik 2018.
Anschließend an Peter Jehles (InKriT) Input zur Theorie des organischen Intellektuellen nach Antonio Gramsci befassten sich mehrere Workshops mit der Rolle „organischer Intellektueller“ im Kontext von Kritischer Psychologie (Michael Zander), Pluraler Ökonomik (Anna Reisch/ Hannes Fauser) und Kritischer Geschichtswissenschaft (Ralf Hoffrogge).
Artur Brückmann/Franziska Hildebrandt
Weltkongress der International Physicians for Prevention of Nuclear War (IPPNW)
York (GB), 2. bis 7. September 2017
Die Organisation IPPNW – ein internationaler Zusammenschluss von Ärzten – hat auch eine deutsche Sektion (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.), die sich vor allem für die Abrüstung atomarer Waffen einsetzt. 1985 erhielt die Organisation den Friedensnobelpreis für ihre „sachkundige und wichtige Informationsarbeit“, die das Bewusstsein über die „katastrophalen Folgen eines Nuklearkrieges“ in der Bevölkerung erhöhte.
Aus gegebenem Anlass fand im September – nun schon zum 22. Mal – ein internationales Treffen in York (Großbritannien) statt, zu dem etwa 600 Gäste aus aller Welt angereist waren. Das Treffen stand unter dem Motto „Health through Peace – Tackling public health crises in a changing, unstable world“.
Die starke Präsenz von Vertretern aus Indien und Japan war unübersehbar. Vornehmlich junge Menschen prägten das „Gesicht“ des Treffens, die mit ihren Wortmeldungen aktiv zu dessen konstruktivem Verlauf beitrugen. Der Kongress rief für ein friedliches Zusammenleben der Völker ohne Atombomben auf und hatte das Ziel, einen Beitrag zur Durchsetzung des weltweiten Verbots von Atomwaffen zu leisten. In seiner Eröffnungsrede wies der Präsident der Konferenz darauf hin, dass es darum gehen müsse, alle Nationen für das Atomwaffenverbotsabkommen zu gewinnen, für das sich weltweit bereits 486 Organisationen aus 130 Ländern einsetzen.
Mit der Eskalation des Konflikts zwischen Nordkorea und den USA wachse die akute Gefahr eines tatsächlichen Einsatzes von Atombomben heute, wurde betont. Eine bei der Tagung vorgelegte Studie informierte über die Folgen eines solchen Einsatzes. Allein 50 Bomben –sollten Indien und Pakistan sie im Falle eines Krieges einsetzen – würden auf einen Schlag 30 Millionen Menschen unmittelbar das Leben kosten. Durch die dadurch verursachte globale nukleare Klimaveränderung würden nachfolgend weitere 200 Millionen Menschen sterben. Nie war die Gefahr, dass die Gattung Mensch ausgelöscht werden könnte, so groß wie heute.
Im Text zum Atomwaffenverbotsabkommen wird aufgezeigt, wie die Länder aus diesem Programm aussteigen können. Der Vertrag soll im internationalen Recht verankert und die Gedanken der „kollektiven Sicherheit“ in den Partnerorganisationen und Staaten verbreitet werden. Mit der derzeitigen Strategie der Atomwaffenmächte werden jedoch die bestehenden Machtstrukturen in der Welt zementiert. Dadurch wird eine Veränderung des Status quo erschwert. Diese Mächte beabsichtigen zwar nicht, den Atomwaffensperrvertrag aufzulösen, unterzeichnen wollen sie ihn aber auch nicht, wobei explizit auf Indien und Pakistan hingewiesen wurde.
Delegationsmitglieder berichteten über ihre Arbeit und den Kampf der Friedenskräfte in ihren Ländern. Die britischen Atombombengegner sehen ihren Schwerpunkt darin, ein Verbot der britischen atomaren U-Boote zu erwirken. Sie wiesen darauf hin, dass für die US-Rüstungsindustrie die Atombombe als „heilige Kuh“ gilt. In der Friedensbewegung in den USA thematisiert man die medizinischen und humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes, um die Menschen dort gegen die Atombombe zu mobilisieren. Für die Regierung Russlands stünde die nukleare Sicherheit an erster Stelle, um Bedingungen für die Abschaffung der Atombombe zu begünstigen, hob eine Vertreterin aus Russland hervor. Ein indischer Delegierter betonte die Rolle der UNO und kritisierte die indischen Massenmedien, die über das Thema Atomwaffenverbot kaum berichten würden. Ein japanischer Teilnehmer wies auf das konfrontative Verhalten von Nordkorea und den USA hin, welches ein furchterregendes Stadium erreicht habe. Dieses Problem könne aber nur politisch gelöst werden. Die US-Administration müsse die Souveränität Nordkoreas achten. Australien stelle sich, wie die Bundesrepublik Deutschland, unter den Atomschirm der USA. Daher habe die Regierung in Canberra kein Interesse an einem Verbot von Atombomben, erklärte eine australische Delegierte. Während ein norwegischer Teilnehmer die notwendige Popularisierung des Verbotes in seinen Ausführungen forderte, hob der Delegierte aus Costa Rica die Rolle seines Landes als das am meisten engagierte Land für ein Verbot hervor und verwies darauf, dass zahlreiche latein- und mittelamerikanische Länder den Vertrag zum Verbot von Atombomben unterzeichnet hätten. Costa Rica hätte schon 1997 das Verbotsabkommen vor die UNO gebracht. Ein Teilnehmer aus Kenia erinnerte daran, dass alle afrikanischen Staaten heute atomwaffenfrei seien und dass Südafrika, das die Atombombe unter dem Apartheidsregime besessen hatte, sie selbst wieder vernichtet, habe.
Der afghanische Delegierte legte einen „Friedensplan“ für Afghanistan vor, dessen Umsetzung die Ablösung der NATO-Militärs durch Militäreinheiten aus den islamischen und blockfreien Staaten zur Bedingung haben müsse. Der bereits 38 Jahre andauernde Krieg am Hindukusch zeige, dass nur eine politische Lösung des Konfliktes erfolgversprechend sein könne. Für diese Lösung sollte durch die Afghanen selbst eine Konzeption entsprechend den dortigen Bedingungen unter Beteiligung der breiten Masse der Bevölkerung und aller politischen Gruppierungen, einschließlich der Taliban, ausgearbeitet und umgesetzt werden.
Hervorgehoben wurde, dass die USA den Clusterbomben-Verbotsvertrag nicht unterzeichnet, die Produktion dieser Bomben jedoch eingestellt hätten. Hier wird die normative Kraft eines Vertrages deutlich, die im Falle eines Verbotes von Atombomben eine ebensolche Wirkung entfalten könnte.
In regionalen Meetings (Afrika, Europa, Lateinamerika, der Mittlere Osten, Nordamerika, Südasien und Südostasien und Pazifik) und in zahlreichen Workshops diskutierten und vertieften die Teilnehmer des Kongresses die im Plenum vorgestellten Fragen und Probleme.
Ein britischer Soldat, der in Afghanistan, Irak und Nordirland im Einsatz war, gab einen historischen Überblick über die Brutalität des britischen Empires, bei dem die Kontinuität in der Art und Weise der Kriegführung des britischen Imperialismus unverkennbar war. Sein Auftreten gestaltete sich zu einem Höhepunkt des Kongresses.
Matin Baraki
„Ändere die Welt, sie braucht es!“
Tagung der Rosa Luxemburg Stiftung/Moskau, 25.-27. Oktober 2017 in St. Petersburg
Vom 25.10. bis 27.10. führte die Rosa-Luxemburg-Stiftung Moskau ihre zentrale Konferenz im Revolutionsjahr an historischem Ort in Sankt Petersburg durch. Das verweist auf den Versuch, die Revolutionsjahre nicht mit Detailwissen zu durchpflügen, wohl aber von diesem Wissen zu profitieren bei der Suche nach dem Unabgegoltenen. Dieser Versuch wird umso dringender, je heftiger sich in den Erschütterungen heutiger Kriege und Krisen alte Fragen neu stellen, wie es im Programmvorspann heißt. Statt endlich geöffnete Bibliotheken und unendliche Reihen neuer Publikationen nur zu weiteren öffentliche Selbstgesprächen und fruchtlosen Analogien zu nutzen, sollten Kooperation und Diskussion über den Tag hinaus entwickelt werden. Das ist ein für die Verhältnisse in der Russischen Föderation ungewöhnlicher Ansatz, führte aber wie erhofft zu intensiven Auseinandersetzungen der über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Ein grober Überblick muss genügen, eine Dokumentation wird vorbereitet.
Zum Auftakt präsentierte die Russländische Nationalbibliothek zwei Ausstellungen: eine zu den Parteien, die im Jahr 1917 maßgeblich die politische Landschaft bestimmten und eine weitere, die das Revolutionsjahr und dessen Akteure an Hand von Dokumenten nachzeichnet. Beide Ausstellungen (letztere als virtuelle, mit Barcode abrufbar) sind als Wanderausstellungen konzipiert, die dann in den regionalen Bibliotheken für Bildungsarbeit genutzt werden sollen. Anzumerken ist, dass in den vergangenen Jahren die russischen Bibliotheken eine ungeheure Masse an historischen Dokumenten digitalisiert und über Internet zugänglich gemacht haben. Dazu gehören auch Bücher aus den Jahren der Revolution, die selbst kaum noch antiquarisch oder in Bibliotheken zu finden sind.
Danach stellte der Historiker Alexander Schubin seine Sicht auf das Jahr 1917 vor. Er hat in den vergangenen Jahren zu diesem Thema eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die allerdings nur in russischer Sprache vorliegen. Drei Lehren, die er aus der Revolution ableitete, sollen hier benannt werden:
Erstens sei es nötig, in revolutionären Umbrüchen die Balance zwischen allgemeinen, gesellschaftlichen Interessen und der Entfaltung von Formen der Selbstverwaltung zu finden. Zweitens müsse man sehr verantwortungsvoll die Frage der Gewalt behandeln. Drittens schließlich seien auch in Revolutionen Differenzierungen nötig; „um den Ring zu bekommen darf man nicht den Finger abschneiden.“
Der Verlauf der Konferenz machte deutlich: Schubin hatte die wunden Punkte benannt. Vor allem die Frage nach der Rolle der Gewalt in Revolutionen rief immer wieder Kontroversen hervor. Michael Brie, der im Gespräch mit dem Verleger Oleg Nikoforow, logos Verlag Moskau, die russische Ausgabe seines „Lenin neu denken“ vorstellte, betonte mehrfach, dass es nicht um Gewalt als solche gehe, sondern um die „Qualität von Gewalt“. Jede Revolution sei mit Gewalt verbunden, die Oktoberrevolution mache keine Ausnahme; aber der Übergang zum Terror, später dann zu einem „permanenten Ausnahmezustand“, in dem jede Kritik oder vermutete Opposition bereits als Verbrechen verfolgt werden konnte (diese Tendenz hat der Realsozialismus nie ablegen können), stand im Gegensatz zu den emanzipatorischen Tendenzen der Revolution. Zwischen Erklärung und Rechtfertigung war in den Beiträgen oft schwer zu unterscheiden. Die westliche Linke geht da leichtfüßiger durch die Geschichte als die russländische, weil auf ihr die Trümmer der Sozialismusversuche nicht so schwer zu lasten scheinen.
Die emanzipatorischen Tendenzen standen im Mittelpunkt der Beiträge von Alla Mitrofonova (die als Vertreterin des Cyber-Femininsmus gilt), Ludmilla Bulavka (Kulturwissenschaftlerin aus Moskau), des Kollektives Schtab (Bischkek, Kirgisien) sowie Gisela Notz und Fabiane Kemmann (Projekt „Die Maßnahme“ nach Brecht/Eisler und Tretjakow) aus Berlin. Hier ging es um zwei Schwerpunkte: die Umwälzungen der Revolution in den Geschlechterverhältnissen und um die kulturellen Umbrüche, die sich in einer explosionsartigen Freisetzung von kreativen Potenzialen der in den verschiedensten Formen vom Zarismus Unterdrückten zeigte.
Anna Ochkina (Sozialwissenschaftlerin aus Pensa) betonte in diesem Sinne ähnlich wie Mitrofonova, dass für das Verständnis der Revolution nicht nur die „großen Ereignisse und Beschlüsse“ wichtig seien, sondern auch und vielleicht vor allem die „Mikropraxen“. Gerade vor diesem Hintergrund sei der Zusammenhang von politischen und sozialen Rechten zentral: ohne politische demokratische Rechte blieben soziale Rechte individuell, verordnet, ohne emanzipatorische Wirkung entfalten zu können. Das sei einer der Gründe für die letztendliche Niederlage der Revolution gewesen.
Es zeigte sich, dass dieser Aspekt der vielleicht wichtigste der Revolution 1917 war. Hier fallen die Februar- und die Oktoberrevolution tatsächlich zusammen. Die sozialen und kulturellen Umwälzungen und die Entwicklung eines politischen Systems mit starken repressiven Zügen bilden die beiden Seiten des Widerspruches, der die Jahre des Realsozialismus von 1917 bis 1990/91 prägte.
In diesem Zusammenhang bewährte sich eine weitere Komponente der Konferenz, die ausdrückliche Einbeziehung der aktiven politischen Ebene.
Mit starken Beiträgen diskutierten die internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Russland (Duma-Abgeordneter Oleg Smolin), Griechenland (Haris Golemis), Tschechien (Jiri Malek), Kasachstan (Bulat Sultanov) und Deutschland (Gabriele Zimmer, Dagmar Enkelmann)unter der Überschrift „Raus aus dem Kapitalismus? Nichts ist erledigt“. Im Mittelpunkt: politisch wirkungsvolle internationale Solidarität als Überlebensmittel demokratischer und sozialistischer Perspektiven.
Das Jahr 1917 bleibt umstritten, in seiner Widersprüchlichkeit nahezu unergründlich. Revolutionen, so ein Teilnehmer, schreiten fort von Niederlage zu Niederlage. Das ist wohl so – aber wichtig ist es, das WIE des Scheiterns zu verstehen, denn hier sind die Konsequenzen zu finden für ein heutiges Handeln, das an radikalen Veränderungen festhalten will. Damit sind gegenwärtige Fragen aufgerufen, wie z.B. die nach den Strukturen der eigenen Organisationen, nach Werten, nach der Fähigkeit zu internationaler Solidarität, strategischem Entwurf und ebensolchem Handeln.
Lutz Brangsch/Albrecht Maurer
45 Jahre „Radikalenerlass“
Vergangenheit und Aktualität von Berufsverboten im Kontext (west-) deutscher Geschichte
Tagung der GEW zum Thema „Berufsverbote“, Kassel,
28. Oktober 2017
Die bundesweite Konferenz der GEW zum Thema „45 Jahre ‚Radikalenerlass’. Aus der Geschichte lernen – Betroffene rehabilitieren – Zivilcourage stärken – politische Bildung aufwerten!“ fand mit weit über 100 Teilnehmenden in vollständig gefüllten Tagungsräumlichkeiten statt. Auch die Wanderausstellung zur Geschichte der Berufsverbote des GEW-Landesverbandes Niedersachsen war zu sehen.
Nach einleitenden Worten der Bundesvorsitzenden Marlis Tepe eröffnete der Historiker Dominik Rigoll die Konferenz mit dem Ziel einer zeithistorischen Einordnung. Dabei griff er im Wesentlichen auf die Erkenntnisse seiner Dissertation „Staatsschutz in Westdeutschland“ zurück und kontextualisierte den „Radikalenerlass“ aus dem Jahr 1972 zunächst als einen Beschluss, der nicht neues Recht schuf, sondern die Praxis der einstellenden Behörden neu auszurichten anstrebte. Zudem verwies Rigoll auf die Kontinuität der Repressionen gegenüber linken Kräften in der Bundesrepublik, wobei das „Abhörurteil“ des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1970 eine autoritäre Wende einleitete. Einen Paradigmenwechsel habe der Radikalenerlass lediglich dadurch herbeigeführt, dass mittels der „Regelanfrage“ Bewerbende und bereits im öffentlichen Dienst Arbeitende fortan flächendeckend durch die Inlandsgeheimdienste überprüft worden seien. Für die Entstehung des Radikalenerlasses legte er drei Begründungszusammenhänge vor: Zum einen sei die politische Praxis der Bundesrepublik stets von Antikommunismus bei expliziter Duldung rechter Kräfte in der politischen Arena geprägt gewesen sei. Dies sei aus seiner Sicht nicht zuletzt dadurch zu erklären, dass zahlreiche ehemalige Funktionseliten des NS-Regimes zentrale Positionen der Justiz und Geheimdienste in der Bundesrepublik bekleideten und dementsprechend die Verfahrensweisen im öffentlichen Dienst sowie die gesamte Rechtsprechung prägten. Der zweite Begründungszusammenhang akzentuierte den politischen Druck durch die neue Ost-Politik. Die SPD-geführte Bundesregierung habe versucht, diesen Druck der Union und der Bevölkerung gegen die Annäherung an den Osten durch ein öffentlichkeitswirksames Zeichen gegen Kommunist*innen innenpolitisch zu kompensieren. Drittens habe man versucht, so Rigoll, den „Marsch durch die Institutionen“ der linken Studierenden zu verhindern. Diskursbestimmend seien nicht zuletzt die Verlautbarungen des Soziologen Helmut Schelskys, der einst begeisterter Hitleranhänger war, gewesen. Abschließend hob Rigoll hervor, dass es nicht darum gehen sollte, die im öffentlichen Diskurs nicht zwingend verwerfliche Position des Antikommunismus zu kritisieren, sondern die daraus resultierende antidemokratische Praxis der Gesinnungsschnüffelei und der Berufsverbote.
Unmittelbar anschließend folgten drei Kurzvorträge zu den Auswirkungen der Berufsverbotspraxis bis heute. Die Betroffene Silvia Gingold schilderte über ihren prominenten Fall hinaus ihren aktuellen Klageweg gegen die erneute Beobachtung ihrer Person durch den Verfassungsschutz. Obwohl bisher keine nennenswerten juristischen Erfolge auf dem Klageweg hätten erstritten werden können, sei es aber gelungen, eine breite Öffentlichkeit für die Thematik herzustellen. Den aktuellsten Fall von Berufsverbot stellte der selbst betroffene Kerem Schamberger vor. Ende des Jahres 2016 wurde er zunächst aufgrund seiner Mitgliedschaft in der DKP, der SDAJ und der VVN-BdA nicht an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingestellt. Nicht zuletzt die breite Solidarität der Öffentlichkeit, der zukünftigen Kolleginnen und Kollegen am Institut und die juristische Unterstützung durch die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin hätten dazu beigetragen, dass er Anfang des Jahres 2017 schließlich doch eingestellt wurde. Schlussfolgernd forderte Schamberger die Abschaffung der Ämter für Verfassungsschutz endlich einzuleiten. Danach berichtete Jutta Rübke von ihrer Arbeit als „Niedersächsische Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem so genannten Radikalenerlass“. Der Landtag Niedersachsens hatte im Jahr 2016 die politische Verantwortung für die Berufsverbotspraxis im Land Niedersachsen übernommen und die Einsetzung einer Landesbeauftragten beschlossen. Zunächst forderte Rübke, dass neben der Verantwortungsübernahme durch die Politik auch die gesellschaftspolitische Verantwortung von beispielsweise Gewerkschaften und Kirchen vorangetrieben werden müsse. Da wissenschaftliche Arbeiten zur Berufsverbotspraxis noch nicht vorlägen, habe sie zunächst versucht in Landesarchiven zu recherchieren, um der Öffentlichkeit Akten zu einzelnen Fällen und Vorgehensweisen der Behörden zugänglich zu machen. Ihre Absicht sei es, dass es den Verfassungsschutzämtern nach Ende ihrer Arbeit im Januar 2018 nicht möglich sein werde, die zusammengetragenen Akten wieder zu verschließen. Außerdem werde Rübke dem Niedersächsischen Landtag empfehlen eine materielle Rehabilitierung der Betroffenen umzusetzen.
Nach einer Mittagspause erfolgten Gruppendiskussionen an Tischen der westlichen GEW-Landesverbände und des Bundesverbandes. Außerdem waren die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der GEW und auf internationaler Ebene die Berufsverbote in der Türkei Anschlusspunkte für Diskussionen. Alle Teilnehmenden der Konferenz hatten die Möglichkeit in zwei kurzen Zeitblöcken an jeweils einem der Tische Platz zu nehmen und mitzudiskutieren. Im Anschluss wurden die Ergebnisse im Plenum zusammengetragen. Die Landesverbände und eine Vertreterin der Bundesebene verlautbarten den Willen, in Zukunft weiterhin und verstärkt Öffentlichkeit für die Thematik herzustellen, Veranstaltungen durchzuführen und Landtagsbeschlüsse nach niedersächsischem Vorbild zu erstreiten. Der Landesverband Nordrhein-Westfalens plant außerdem die Etablierung einer Arbeitsgemeinschaft zu den Berufsverboten. Bezüglich der Unvereinbarkeitsbeschlüsse der GEW, die über Berufsverbote hinaus eine Entsolidarisierung der Gewerkschaft mit den Betroffenen zur Folge hatten, wurde angekündigt, dass eine Kommission eingerichtet werde, innerhalb derer eine umfassende Aufarbeitung der gewerkschaftseigenen Geschichte vorgenommen und eine materielle Rehabilitierung geprüft werde. Für den Thementisch „Berufsverbote in der Türkei und Solidarität mit den türkischen Kolleg*innen waren Latife Akyüz von der Goethe Universität Frankfurt und Sakine Esen Yilmaz, ehemalige Generalsekretärin der türkischen Schwestergewerkschaft der GEW Eğitim Sen, anwesend. Diesbezüglich strebe die GEW an, sich mit anderen Gewerkschaften zu vernetzen, Öffentlichkeit herzustellen und auf die Türkei-Politik der Bundesregierung Einfluss zu nehmen.
Den Abschluss der Tagung bildete ein Podium zu Perspektiven der politischen Bildung im Hinblick auf eine Implementierung der Berufsverbotspraxis in der Bundesrepublik. Prof. Dr. David Salomon (Universität Hildesheim) stellte zunächst drei zentrale Aspekte heraus: Erstens habe für die schulische sowie außerschulische politische Bildung die vorherrschende Erzählung der Bundesrepublik als ausschließliche Erfolgsgeschichte zu irritieren. Die reproduzierten Geschichtsbilder müssten durch die Darlegung der postfaschistischen Gesellschaft erweitert werden. Zweitens sollten die Berufsverbote verstärkt in der Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer thematisiert werden, sodass die Studierenden ihre zukünftige Rolle als Lehrkraft reflektieren, um im Beruf nicht lediglich als Sprachrohr bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse zu agieren. Drittens stellte Salomon die Biographien der Betroffenen als Teil einer Widerstandsgeschichte dar. Diese könne als Ausgangspunkt für die Vermittlung von Solidarität, Bereitschaft zum Widerstand sowie zivilem Ungehorsam dienen, sodass die politische Öffentlichkeit eine Vitalisierung der Austragung von Konflikten erlebe. Der Sprecher der Initiative „40 Jahre Radikalenerlass“, Klaus Lipps, betonte, dass Zusammenschlüsse der Betroffenen und Unterstützenden zwingend notwendig seien, um eine materielle sowie ideelle Rehabilitierung zu erwirken. Ebenfalls forderte Lipps einen Kampf gegen die Ämter für Verfassungsschutz, die rechte Strukturen unterstützt und alternatives Denken und Handeln von links stets diskreditiert hätten. Den Abschluss machte die Bundesvorsitzende der GEW Marlis Tepe. Sie hob im Wesentlichen drei politische Forderungen hervor: Rehabilitierung der Betroffenen, wissenschaftliche Aufarbeitung und eine grundsätzliche Debatten um die Ämter für Verfassungsschutz. Außerdem unterstrich Tepe die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Unvereinbarkeitsbeschlüsse der GEW. Schließlich solle die GEW die politische Bildung vorantreiben und die Herstellung von Unterrichtsmaterialien sowie die Vernetzung politischer Bildner*innen mit Betroffenen unterstützen. Zum Ende der Tagung betonte Marlis Tepe die Notwendigkeit der Solidarität aller, die sich verpflichtet fühlen, die Berufsverbotspraxis öffentlich zu thematisieren und zu bekämpfen. Treffend schloss sie die Tagung mit den Worten: „Hoch die Internationale Solidarität“.
Für die Organisation der Tagung ist der GEW ausdrücklich zu danken. Für die Zukunft hat sich die Bildungsgewerkschaft große Ziele gesteckt. Es liegt demnach noch viel Arbeit vor Betroffenen, Gewerkschaften und Unterstützenden, um das Thema Berufsverbote in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Veranstaltung in Kassel bietet hierfür einen weiteren guten Ausgangspunkt und vieles, das aufgrund der recht engen Zeitplanung nicht besprochen werden konnte – Diskussionen fanden vielfach nicht statt – wird hoffentlich noch auf weiteren Veranstaltungen thematisiert werden. Ein großer Aufwand ist notwendig, um mehr Menschen, vor allem auch über Zeitzeugen der damaligen Zeit hinaus, über dieses (fast) vergessene Kapitel bundesdeutscher Geschichte aufzuklären und Interesse an seiner Aufarbeitung zu wecken. Ein im Jahr 2018 im Papyrossa-Verlag erscheinender Sammelband der Heinz-Jung-Stiftung könnte dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Dominik Feldmann/Patrick Ölkrug