Als im Zusammenhang mit dem Erscheinen des Bandes „Streik auch in China?“[1] der Verfasser feststellte China gehöre zu den „streikfreudigsten Ländern der Welt“, begegneten ihm nicht wenige mit ungläubigem Staunen. Wie bitte? Ein Land, in dem es kein Streikrecht gibt? In dem die Gewerkschaften mehr oder weniger wirtschaftsfriedliche Ziele und Methoden verfolgen (soweit sie überhaupt die Interessen der Arbeiter vertreten)?
Was bei vielen deutschen Gewerkschaftern und Betriebsräten noch nicht angekommen ist, hat in den Konzernzentralen allerdings längst eine Art Umdenken ausgelöst: China ist nicht länger der Standort bloß billiger Arbeitskräfte, sondern einer immer selbstbewusster auftretenden Arbeiterschaft. Das führt zu der ziemlich kuriosen Tatsache, dass junge deutsche Manager in China das Phänomen „spontaner Streik“ studieren und begreifen müssen, weil sie in Deutschland – oft altersbedingt – damit nie oder kaum konfrontiert worden sind.
Es ist überall das gleiche Phänomen: Als in der westdeutschen Bundesrepublik 1969 die spontanen „Septemberstreiks“ ausbrachen, wurden die Themen Streik, wilder Streik oder spontaner Streik auch zu einem akademischen Thema.[2] Aber eben erst dann! Ein eher konservativer Arbeitsrechtler resümierte zwei Jahre darauf, „der wilde Streik verdankt seine Wildheit dem Bundesarbeitsgericht“[3]. „Wildheit“ war also Denunziation und nicht empirische Feststellung. Das, was als „wild“ ausgegrenzt und für tot gesagt erklärt wurde, erwies sich als quicklebendig. Und prompt hatte die „herrschende Meinung“ im deutschen Arbeitsrecht gewaltige Probleme mit der Einordnung dieses Phänomens. Tatsächlich hatten diese Streiks noch viel tiefergehende Auswirkungen. Das totgesagte und tot geglaubte Proletariat wurde quasi über Nacht linken Intellektuellen wieder zum Subjekt der Geschichte.
Die Frankfurter Schule blieb nicht länger einziger Maßstab für eine an gesellschaftlichen Veränderungen interessierte junge Akademikergeneration. Vielmehr rückte die Arbeiterschaft als „Klasse für sich“ wieder in den Fokus der Überlegungen.
Ähnlich die Lage heute auch in China. Doch welch andere Bedingungen! Dabei geht es nicht um eine spontane Streikbewegung innerhalb eines Monats, sondern um ein anhaltendes landesweites Phänomen. Da ist der Streik nicht eine singuläre, sondern bereits eine allgemeine Erscheinung. Doch was in Deutschland und Westeuropa ja durchaus in der Tradition der Arbeiterbewegung verwurzelt war und ist, muss in China erst ganz neu entdeckt werden. Objektiv wie subjektiv. Eine ganz junge Generation nutzt dieses Kampfmittel und hantiert mit ihm, obwohl sie auf die Erfahrungen und Erlebnisse der „Alten“ nicht zurückgreifen kann. Man stelle sich das vor: Da wird beim Streik der Honda-Arbeiter in Nanhai eine 19(!)-jährige Praktikantin zur Verhandlungsführerin mit dem Unternehmen gewählt. Da gelingt es der Streikleitung, die Quadratur des Kreises zu lösen und den Streik „nur“ als Betriebsbesetzung durchzuführen, ohne mit dem chinesischen Strafrecht und mit der Polizei zu kollidieren und zugleich mit Hilfe eines Professors für Arbeitsrecht (!) die chinesischen Gewerkschaften mit ins Boot zu holen und dabei zugleich die chinesischen Medien für sich und die Sache der Arbeiter zu gewinnen. Auf glänzende Weise bestätigen die neuen Erfahrungen dieser jungen Arbeitergeneration, dass ein kurzer Arbeitskampf den Arbeitern oft mehr an Bewusstsein vermitteln kann, als lange Seminare, Fortbildungen und Agitationen. [4]
Allerdings: In einem ähnelt die Lage im September 1969 in Deutschland der Lage in China im Jahre 2010/2011: Ein Totgesagter meldet sich zurück. Die vergessene Arbeiterklasse. Jedoch mit dem Unterschied, dass nicht die Protagonisten einer akademischen Lehrmeinung, sondern die Führung einer Kommunistischen Partei sich widerlegt fühlen müsste. Welche Legenden waren nicht rund um die chinesische Arbeiterklasse gestrickt worden, um sie ausländischen Investoren schmackhaft zu machen! Billig, genügsam, folgsam, bescheiden. Sogar der alte Konfuzius wurde bemüht, um allerorten eine „harmonische Gesellschaft“ abseits von Konflikten und Interessengegensätzen zu predigen.
Da bewies nun plötzlich ausgerechnet diese Arbeiterklasse die Richtigkeit jenes Satzes im „Kommunistischen Manifest“, wonach das eigentliche Ergebnis der Kämpfe der Arbeiter gar nicht so sehr deren Erfolge sondern die immer weiter um sich greifende Organisierung der Arbeiter sei. Allerdings – und dies ist paradox genug – einer Organisierung, die oft ohne bisweilen sogar gegen die offiziellen chinesischen Gewerkschaften erfolgt.
Es kann daher nicht verwundern, dass das akademische, politische und wirtschaftliche Interesse an diesem Thema in China immer größer wird. Es gibt in China eine Debatte über Streiks, die – trotz politischer Limitierung – längst die Massenmedien, die Universitäten, die Öffentlichkeit und die Wirtschaft erfasst hat. Doch die wenigsten Experten in China sind von dem Phänomen etwa begeistert. Es überwiegt vielmehr die „Sorge“, Arbeitskonflikte könnten ausufern, unkontrollierbar werden, ausländische Investoren abschrecken oder gar die gesamte chinesische Wirtschaft destabilisieren.
Natürlich sind solche Befürchtungen unbegründet. Tatsächlich haben Streiks nirgendwo eine Ökonomie – insbesondere eine kapitalistische Wirtschaft – zugrunde gerichtet. Im Gegenteil: Sie waren meist hinreichender Anlass für das Kapital, die Grenzen seiner Macht zu überdenken, Kompromisse einzugehen, Innovationen einzuleiten und sich entweder mit den Vertretern der Streikenden temporär zu arrangieren oder zum Gegenschlag auszuholen. Auf jeden Fall aber waren solche Streiks immer Anlass genug, allseits um „Verständigung“ zu bitten. Heute heißt das Zauberwort: Mediation. Auch wenn dabei die Abgrenzung zur „collective arbitration“ oder gar zum „collective bargaining“ bisweilen unscharf wird. In jedem Falle: Kein Konflikt!
Dass die durch die Finanzkrise oft selbst beschäftigungslos gewordenen „Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus“ gerne ihrem bedrohten Patienten in China zu Hilfe eilen, versteht sich von selbst. Und tatsächlich gibt es in China nicht nur eine Debatte über das Phänomen Streik, sondern auch den dringenden politisch motivierten Wunsch, den Streik endlich „in den Griff“ zu bekommen. Wenn nicht durch Verbote, dann wenigstens durch mehr oder weniger bewährte Methoden der Befriedung, Kanalisierung und Dämpfung von Arbeitskonflikten.
Mit durchaus unterschiedlichen Intentionen hatte deshalb für den 17. und 18. Dezember 2011 die „School for Labour Relations“ an der Renmin Universität zu einer internationalen Konferenz eingeladen, auf der es um das Thema „Konflikt oder Kooperation“ gehen sollte. Zu den Initiatoren gehörte unter anderem jener Professor, der beim Honda-Streik als Vertreter der Streikenden auftrat und der als Mitglied der Staatsratskommission für das neue chinesische Arbeitsvertragsgesetz in ganz China hohes Ansehen genießt: Chang Kai.
Chang Kai, der sich in den Debatten als Gastgeber merklich zurückhielt, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, in welchem Verhältnis er Konflikt und Kooperation sieht. Kooperationen können nie selbst Zweck sein. Umgekehrt sei Kooperation zwischen Kapital und Arbeit nur denkbar, wenn dem Konflikt Raum gegeben werde. Es seien schließlich die Arbeiter, die strukturell in einer Marktwirtschaft in einer unterlegenen Position seien und sich erst Gehör verschaffen müssten, und zwar kollektiv. Diese Sichtweise wurde aber keineswegs von allen Experten auf der Konferenz geteilt. Qiao Jian, Assistenzprofessor für Arbeitsbeziehungen an der Renmin Universität, unterstrich in der Schlussrunde sein Plädoyer für „autonome Arbeitsbeziehungen ohne staatliche Intervention“. Das klingt zunächst nach „Tarifautonomie“ und erscheint dem kurzsichtigen Betrachter durchaus positiv. Doch darf nicht verwundern, dass gerade die Unternehmer in China – allen voran die ausländischen Unternehmen – für eine Reduzierung der Rolle des Staates eintreten. Und zwar in etwa mit den gleichen Argumenten, mit denen in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn und das Antidiskriminierungsgesetz abgelehnt werden: Als „zuviel Bürokratie“ wird denunziert, was der Einhaltung von Mindeststandards dient. Den chinesischen Behörden kommen hier Befugnisse zu, die weit über die Befugnisse deutscher Arbeitsschutzämter hinausgehen. Es war deshalb auch der Verfasser, der als einziger anwesender deutscher Experte und Anwalt auf den Mangel an staatlicher Kontrolle von Arbeitsstandards in Deutschland einging und zur Verwunderung der meisten Teilnehmer das neue chinesische Arbeitsvertragsgesetz in diesem Punkt als durchaus vorbildlich bezeichnete. Ganz anders auch hier Qiao Jian, der dem chinesischen Gesetzgeber sogar das als Wegbereiter des Prekariats bekannte Flexicurity-Konzept anpries. Ähnlich sein Vortrag zu den „harmonischen Arbeitsbeziehungen“, indem er die verschiedenen westlichen Modelle der „dezentralen Tarifverträge“ vorstellte, ohne auf die inhaltlichen Auswirkungen solcher Instrumente einzugehen. Über allem schwebte für die meisten Teilnehmer aus China die Fragestellung: „Wie kann man Arbeitskonflikte verhindern.“ So lautete dann auch das Thema von Feng Xi Liang von der Pekinger Normal University „Mechanismen zur Verhinderung konfrontativer Arbeitskonflikte“. Trotz der Warnung einiger anwesender westlicher Experten vor einer vorschnellen Adaption westlicher Modelle schloss sich die Mehrzahl der chinesischen Referenten dieser Suche an. Freilich vielen die Warnungen westlicher Experten nur sehr milde aus. Tatsächlich priesen einige ihre jeweiligen Modelle nahezu uneingeschränkt an. Und dies, ohne wenigstens die Bedingungen darzustellen oder zu analysieren, unter denen selbst diese Modelle mehr schlecht als recht funktionieren. Besonders auffällig war dies an den Beiträgen des Altmeisters der „Industrial Relations Association“, dem US-Amerikaner Thomas Kochan vom Management Institut des berühmten MIT in Massachusetts. Er versäumte nicht, die vielen anwesenden chinesischen Studenten auf sein neuestes Buch zur „Mediation“ zu verweisen und pries die Unterschiede und (natürlich) in den USA bewährten Methoden der Mediation als Heilmittel gegen ausufernde Konflikte. Damit übernahm er bereitwillig die von den Gastgebern zwar nicht ausgeschriebene aber doch von einigen als möglich erachtete Rolle eines Wunderdoktors. Der weiterhin nachhaltige nordamerikanische Einfluss auf die akademische Welt Chinas wurde auch in den Beiträgen von Arnold Zack und Anil Verma überdeutlich. Trotz aller makroökonomischen Steuerinstrumente der chinesischen Regierung: Neoliberales Gedankengut ist weiter an Chinas Universitäten auf dem Vormarsch. Anders als die meisten anderen Referenten richtete Thomas Kochan auch seine Worte direkt an die Studenten, als er ihnen mit auf den Weg gab, als künftige Mediatoren „nicht die Perspektive der Arbeiter oder der Unternehmer oder des Staates einzunehmen, sondern nur daran zu denken, alle drei Kräfte zusammenzuführen“. Leider versäumte es Kochan dabei, auf die ganz und gar nicht „friedliche“ Arbeitswelt der USA einzugehen, in der der Kampf der Unternehmer und einiger Bundesstaaten gegen die Gewerkschaften mehr denn je ganz oben auf der Agenda steht.
Demgegenüber wies der Verfasser darauf hin, dass China und auch sein akademischer Nachwuchs stolz sein könnten auf das Erwachen einer neuen Generation der Arbeiter. Von dem Erfindungsreichtum dieser Arbeitergeneration könnten alle lernen, auch die anwesenden westlichen Experten[5]. Unterstützt wurde er dabei von dem einzigen weiteren anwesenden Anwalt aus dem westlichen Ausland, dem Hochschullehrer Keith Ewing, vom Londoner King´s College. Er kam zu dem Schluss, dass man nicht auf drei Pferden zur gleichen Zeit reiten könne, sondern sich entscheiden müsse. Dies gab er den anwesenden Studenten – anders als Kochan – mit auf den Weg. Er, Ewing, habe sich für die Arbeiter entschieden. Die Entscheidung müsse jeder selbst treffen, aber entziehen könne man sich ihr nicht.
Am Ende der Konferenz war trotz aller Differenzen innerhalb der Debatten eines klar: Niemand kann und darf China und der chinesischen Arbeiterklasse die Entscheidung darüber abnehmen, welchen Weg das Land in der Arbeitswelt künftig gehen wird. Und dass dieser Weg alles andere als ein akademischer Weg sein wird, stand schon tags zuvor in der chinesischen Presse zu lesen: Wieder waren chinesische Bauarbeiter von ihren brutalen Unternehmern um einen ganzen Jahreslohn betrogen worden. Die Journalisten hatten zu dem Fall mehrere Experten um eine Stellungnahme gebeten. Es waren Professoren.
[1] Rolf Geffken (Hrsg.), Streik auch in China? Ein Deutsch-Chinesischer Dialog über Koalitionsfreiheit, Gewerkschaften & Arbeitskampf, VAR-Verlag, Cadenberge 2011 (vgl. Tagungsbericht in Z 85, März 2011, S. 71ff.).
[2] Institut für Marxistische Studien und Forschungen – IMSF (Hrsg.), Die Septemberstreiks 1969, Frankfurt/M. 1970.
[3] Albrecht Zeuner, in: Recht der Arbeit 1971, Seite 1ff.
[4] Vgl. im Einzelnen: Geffken, a.a.O.
[5] Vgl. ausführlich Geffken, a.a.O.