Arbeit, Identität und der Kampf freier Arbeiter*innen vs. Migrant*innen?
Marcel van der Linden, Workers of the World – eine Globalgeschichte der Arbeit, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2017, 503 S., 39,95 Euro
Marcel van der Lindens gewaltiges Werk lässt sich als Gegenentwurf zu Marx und marxistischen Betrachtungen der Arbeit und der Arbeiterinnen lesen. Schon zu Beginn grenzt er sich von Marxens Vorstellungen ab.
Nun könnte man das Buch als ketzerisch beiseite legen. Doch das Lesen lohnt. Ähnlich wie E.P. Thompson mit seinem monumentalen Werk über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse versucht van der Linden sich an einer sehr genauen Betrachtung der Arbeit und der Arbeiter*innen – nur eben auf globaler Ebene.
Doch um van der Lindens Ausführungen besser einordnen zu können, braucht es einen kleinen Exkurs zu Marx: Nach Marx ist die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse ein äußerst brutaler Prozess. Gerade im Mutterland des Kapitalismus, Großbritannien, wurden die Menschen vom Land vertrieben und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Was heute kaum noch jemand weiß – die schottischen Highlands waren im 17. Jahrhundert relativ dicht besiedelt (viel stärker als heute). Für die Schafzucht wurde ein Großteil der Einwohner*innen gewaltsam vertrieben. Diese Vertreibung der Menschen vom eigenen Land und die daraus folgende Verstädterung ist bis heute relativ typisch für die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse. Die Menschen wurden ihres Landes, ihrer Arbeit und damit ihrer Lebensgrundlage beraubt. Sie waren nun doppelt frei: frei von Eigentum und frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Marcel van der Linden stellt das infrage. Für ihn ist die doppelt freie Lohnarbeit historisch die absolute Ausnahme. Arbeiter*innen waren meist alles andere als frei. In den meisten Ländern und Gesellschaften dominierten Formen unfreier Arbeit: Sklaverei, Knechtschaft oder verschiedene Formen von Zwangsarbeit. Und die Formen waren viel differenzierter, als wir uns das heute meist vorstellen.
Das betraf keineswegs nur das Klischee der „schwarzen“ Sklaven. Auch auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs gab es verschiedene Formen der Zwangsarbeit. In Mecklenburg wurden Dörfer mit ihren Bewohner*innen als Besitz verkauft. Bekannt ist auch der Verkauf hessischer und württembergischer Soldaten an andere kriegführende Parteien in Europa und Amerika. Ebenso verbreitet war die Fronarbeit. Bauern erhielten ein Stück Land und mussten dafür für den Landesherrn oder die Kirche auf deren Land mehrere Tage die Woche unentgeltlich arbeiten. Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es in der Schweiz „Verdingkinder“, die auf großen Bauernhöfen – oft unter höllischen Bedingungen – zwangsarbeiten mussten.
Neben der Zwangsarbeit bestreitet van der Linden auch das gänzliche Fehlen von Eigentum. Er weist darauf hin, dass Arbeiter und Sklaven (bis heute) oftmals auch eigenes Land besaßen. Sechs Tage die Woche arbeiteten sie zum Beispiel für ihre Herren, und am „freien Tag“ bewirtschafteten sie ihr eigenes Land. Selbst in den Slums oder einer Großstadt im Westen gibt es Formen der Subsistenzwirtschaft – man denke nur an die Kleingartenkolonie oder den Hühnerkäfig im Abstellraum.
Da van der Linden eben nicht die klassischen Formen der Arbeiterbewegungen betrachtet, kommt er zu einigen teils überraschenden Erkenntnissen. Er zeigt auf, dass zum Beispiel die Plantagensklaverei nur eine von vielen Formen der Sklaverei in der westlichen Welt war. Weniger bekannt ist, dass auch Sklav*innen in den Manufakturen und Fabriken in den Nordstaaten der USA arbeiteten. Diese Sklav*innen waren teils hochqualifiziert. Teils waren sie Vorarbeiter, und ihnen unterstanden mitunter sogar weiße oder andere Vertragsarbeiter*innen.
Natürlich hatten sie als qualifizierte Arbeitskräfte auch einiges Druckpotenzial, und das nutzten sie durch verschiedene Formen des Streiks um bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne (ja auch Sklav*innen wurden teilweise bezahlt).
Ebenso vielfältig sind die Formen der Zusammenarbeit zwischen den Lohnabhängigen in Westeuropa. Die Arbeiter bildeten nicht nur Genossenschaften, Gewerkschaften und Parteien. Sie gründeten auch die ersten Versicherungen: vor allem Arbeitslosen- und Krankenversicherungen, die erst viel später in Reaktion auf die Selbstorganisierung der Arbeiter staatlich wurden. Das zeigt auch nochmal, wie wenig selbstverständlich alle hiesigen Errungenschaften sind. Der ganze „Sozial- und Wohlfahrtsstaat“ beruht auf Ideen der Arbeiter selber und wurde auf deren Druck oder aus Angst vor ihnen umgesetzt.
Doch die Untersuchungen von van der Linden zeigen ebenso, dass die Zusammenarbeit von Arbeitern oft auch eine Kehrseite hatte. Die Vereinigungen der Arbeiter richteten sich hin und wieder auch gegen andere Lohnabhängige. Es waren meist die hochqualifizierten Arbeiter, Knechte oder Sklaven, die sich organisierten.
Besondere Berufsgruppen bildeten eigenen Stolz und teils sogar eine eigene Kultur aus. Auch die Arbeiterbewegung hatte eine starke Identität (und machte Identitätspolitik). Gruppen von Menschen bilden immer Identitäten aus. Eine gemeinsame Organisierung ohne gemeinsame Identität ist kaum denkbar.
Zuerst zeigte sich das bei den Zünften, später dann in der Arbeiterbewegung. Nicht selten richtete sich die Organisierung der Arbeiter gegen untere Schichten oder migrantische Arbeitskräfte. Zum Beispiel setzten sich US-Gewerkschaften in den 1920ern für einen Migrationsstopp ein, um selber schlagkräftiger zu werden. Denn je mehr Arbeitskräfte frei verfügbar sind, desto schlechter ist meist die Verhandlungsposition der Gewerkschaften (da sich die Unternehmen aussuchen können, wen sie einstellen). Schließlich hatten sie Erfolg. Die US-Regierung begrenzte die Migration, und in den frühen 1930ern setzten unter anderem die US-Gewerkschaften die größten sozialen Errungenschaften der Vereinigten Staaten überhaupt durch (was aber keineswegs nur am Migrationsstopp lag). Diese Haltung der Gewerkschaften gegenüber Migrant*innen ist nicht untypisch. Meist ändern sie ihre Haltung erst, wenn so viele Migranten im Lande sind, dass deren Illegalisierung mehr Nach- als Vorteile hat (zum Beispiel durch Schwarzarbeit usw.). So war es zum Beispiel in Deutschland und Großbritannien. Erst nach einigen Jahrzehnten begannen die Gewerkschaftsverbände in den 1970ern, die Migrantinnen – auch aufgrund migrantischer Arbeitskämpfe – zu organisieren. Seitdem engagieren sich die meisten deutschen und englischen Gewerkschaften verstärkt gegen Rassismus, weil eine Spaltung der Lohnabhängigen ihnen schadet.
Wen das überrascht, der hat die Widersprüche in der historischen Arbeiterbewegung nicht zur Kenntnis genommen. Davon sind auch die Begründer des Marxismus, Marx und Engels, nicht frei. Sie charakterisierten die Iren in Großbritannien in ihren frühen Texten massiv als zersetzende Elemente. Der Katalog an entsprechenden Apostrophierungen der „Neger“ Großbritanniens – gemeint waren die Iren – ist lang. Später wurden auch die Iren als wichtige Teile der Arbeiterklasse bezeichnet.
Van der Linden interessieren die Arbeit und die Aktionen der abhängig Arbeitenden. Er untersucht den Gegenstand erkennbar mit Sympathie, hält sich aber mit Prognosen oder politischen Theorien sehr zurück.
Van der Lindens Studie kann als eine historische wie aktuelle Ergänzung zu den Arbeiten von Marx und Co gelesen werden. Sie ist auch insofern verdienstvoll, als sie den Blick über Europa und Nordamerika hinaus ausweitet und die globalen Verhältnisse in den Blick nimmt. Van der Lindens Fragestellungen und Erkenntnisse sind für die heutige Linke von allerhöchster Relevanz. Das große Manko des Buches ist aber sicher sein stolzer Preis. Trotzdem, es lohnt sich.
Janis Ehling