Migration in Lateinamerika
Raina Zimmering, Lateinamerikanische Migration und der Blick nach Europa, Potsdam, WeltTrends Verlag 2017, 140 S., 16,90 Euro
Im Kontext der aktuell gewachsenen Aufmerksamkeit gegenüber dem weltweiten Phänomen der massiven – auch internationalen – Migration und der heftigen Ausfälle (und der ersten Maßnahmen) des US-Präsidenten Donald Trump gegen lateinamerikanische (und muslimische) Migranten scheint die neue Studie von R. Zimmering hochwillkommen zu sein.
Sie konzentriert sich nach der knappen Berührung einiger theoretischer Interpretationsansätze des Phänomens „Migration“ auf die Darstellung unterschiedlicher Dimensionen und Schauplätze der lateinamerikanischen Migration nach Norden, die – wie sie unterstreicht – „als Massenerscheinung schon länger dauert als diejenige nach Europa, größere Dimensionen aufweist und deshalb für die europäische Migrationsentwicklung … Schlussfolgerungen bereithalten kann.“(15)
Im ersten größeren Kapitel (31-58) beschreibt und analysiert die Verfasserin die Fluchtursachen der Migrations- und Flüchtlingsbewegungen (wegen der großen sachlichen Überschneidungszonen nimmt sie zwischen beiden keine Differenzierung vor) aus bestimmten lateinamerikanischen Ländern bzw. Regionen, so aus Mexiko, Guatemala, Honduras, El Salvador (das sog. „Norddreieck“ Zentralamerikas) sowie aus Kolumbien recht detailliert und unterfüttert dies mit beträchtlichem empirischem und statistischem Material. Ohne die Armut großer Bevölkerungsteile, die krasse Ungleichheit und die zunehmende Umweltzerstörung als – von der neoliberalen Politik verstärkten – „Push-Faktoren“ gering zu schätzen (es werden dieser Verursachungsdimension eigene Subkapitel gewidmet), geht sie davon aus, dass staatliche und nicht-staatliche Gewalt und „Nekropolitik“ (ein Terminus, den sie vom kamerunischen Politikwissenschaftler A. Mbembe übernimmt, und der Macht über Leben und Tod gegenüber bestimmten Bevölkerungsteilen meint) der übergeordnete Faktor für Flucht und Migration aus diesen Regionen sei. Zu Recht stellt sie dazu fest, dass in einigen Ländern Lateinamerikas (wie gerade in den hier im Vordergrund stehenden) das Übermaß an Gewalt, an organisiertem Verbrechen (Drogenmafia mit Einfluss in alle Wirtschaftsbereiche), an Militarisierung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie die weitgehende Straflosigkeit auf die enge Verflechtung von „Politikern, Drogenmafia, Wirtschaftselite, Militär und Paramilitärs“, die „zu einem Amalgam zusammengewachsen“ (sind), zurückzuführen sei, und daher „Migration und Flucht“ … „oft die einzige Überlebenschance der Betroffenen“ (32) bilde.
In einem weiteren Hauptkapitel (59-109) widmet sie sich der US-amerikanischen und der mexikanischen Flüchtlingspolitik. Sie sieht insbesondere bei der erstgenannten eine grundsätzliche Ambivalenz zwischen teilweiser Förderung der Immigration einerseits und einer restriktiven bzw. total ablehnenden Haltung gegenüber Einwanderern oder Saisonarbeitern andererseits; was durch zahlreiche Einzelfaktoren (z.B. Interesse an billiger und rechtloser Arbeitskraft versus Reservierung von Arbeitsplätzen für die einheimische Bevölkerung, politische Überlegungen, z.B. bei Kuba-Flüchtlingen u. v. a. mehr) bestimmt wird. Gleichwohl scheint die allgemeine Tendenz seit dem 11. September 2001 in einer Unterordnung der Migrationspolitik unter die angeblichen Erfordernisse der „nationalen Sicherheit“ und einer weitgehenden Militarisierung der Grenzpolitik zu bestehen. Von einer wirklichen Bekämpfung der Fluchtursachen, die verbal von Politikern postuliert wird, könne dagegen keine Rede sein.
Auch Mexikos Migrationspolitik wird – in einem anderen Sinne – als „ambivalent“ charakterisiert: insofern, als sie sich einerseits gegenüber den US-Regierungen als überaus kooperativ zeigt bei der Abschreckung und Abschottung gegenüber Migranten aus dem Süden von Mexiko (vor allem aus Zentralamerika), andererseits aber damit eine wohlwollendere Haltung der USA gegenüber mexikanischen Migranten in den USA „zu erkaufen“ trachtet. (91) Von staatlicher lateinamerikanischer Solidarität kann ebenso wenig die Rede sein wie von einer solchen bei Migranten untereinander, die z.B. in die USA gelangt sind; auch hier spielen Zeitpunkt der Migration, erreichter sozio-ökonomischer Status, Länderherkunft etc. eine oft dissoziierende Rolle.
In kurzen abschließenden Kapiteln (111-122; 122-128) stellt Zimmering Reflexionen über Widerstands- und Änderungschancen gegenüber diesen Zuständen an und verweist auf transnationale soziale Bereiche (im Grenzraum zwischen Mexiko und den USA), wo es zur „Bildung autonomer, alternativer Räume“ gekommen sei, welche „Grenzen … überwinden“ (111) und basisdemokratische und tolerante Zustände erreicht werden konnten. Hier setzt die Verfasserin auf entsprechende soziale Bewegungen, die sich von den mexikanischen „Zapatisten“ inspirieren lassen könnten. Eine alternative politisch-staatliche Entwicklung infolge einer Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnisse scheint sie dagegen nicht für möglich zu halten.
Auch wenn man mit manchen Einschätzungen nicht völlig konform gehen sollte (z.B. scheint die Aussage, dass China die „wirtschaftliche Vorherrschaft der USA in Südamerika“ übernommen habe, übertrieben und nicht zutreffend zu sein, 87f.), ist der zentrale analytische Teil in der Hauptargumentation sehr überzeugend; manche Passagen hätte man sich etwas tiefgreifender und mit genaueren Quellenangaben gewünscht, was auch für einige wenige Zahlenangaben gilt. Ungeachtet solch kleiner Schwächen ist die – die ersten Monate der Trump-Regierung einbeziehende – Studie überaus gut gelungen, informativ und sehr gut zu lesen, so dass sie für jeden/jede mit der Migration und Fluchtursachen befassten Zeitgenossen zu einer wichtigen Lektüre werden dürfte.
Dieter Boris