Den 5. Mai 1867, seinen 49. Geburtstag, verbrachte Karl Marx getrennt von Frau und Töchtern im fernen Hannover. Er genoss dort die Gastfreundschaft von Louis Kugelmann, einem angesehenen Arzt und erfindungsreichen Gynäkologen, um die soeben aus Leipzig eingetroffenen ersten Korrekturbogen seines opus magnum durchzumustern. Er war bereits drei Wochen zuvor, am 12. April, nach schwerer See in Hamburg gelandet, um dem Verleger Otto Carl Meißner das Manuskript persönlich zu überbringen und die Modalitäten der Herstellung des Buches zu besprechen. Den Verlagsvertrag hatte Marx’ Gewährsmann Wilhelm Strohn, ein ehemaliges Mitglied des Bundes der Kommunisten, ausgehandelt. Nach einer ersten kurzen Begegnung lernten sich Marx und Meißner während eines ausgiebigen Diners in Zingg’s Hotel bald genauer kennen und gegenseitig schätzen. Dazu mag auch beigetragen haben, dass Meißner, ein Demokrat ohne Furcht und Tadel, bereits einen Titel aus der Feder von Engels, „Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei“, verlegt hatte. „Netter Kerl, obgleich etwas sächselnd“, notierte Marx über den gebürtigen Quedlinburger.
In der weltoffenen Freien und Hansestadt Hamburg wehte ein anderer Wind als in den preußischen Kernlanden des Norddeutschen Bundes. Meißner hatte die Verlagsbuchhandlung im Revolutionsjahr 1848 gegründet und verlegte juristische Fachliteratur, Schulbücher und Hamburgensien, Zeitschriften und Landkarten, aber auch Werke der Politik und Zeitgeschichte. Sein Verlag war nicht die erste Adresse in Hamburg, galt aber als solides Unternehmen. Neben Engels, Feuerbach und Lassalle zählten später auch Alfred Lichtwark und Alfred Brehm zu seinen Autoren. Wie sich zeigen sollte, war auch Marx hier gut aufgehoben. Wer die Handschrift des bärtigen Welterklärers aus Trier jemals vor Augen hatte, Umfang und Schwierigkeitsgrad der Satzmaterie bedenkt, wird kaum erstaunt sein, dass Marx seinem Alter ego am 24. April das Folgende nach Manchester berichtet: „Meißner, der die Geschichte in 4−5 Wochen fertig haben will, kann nicht in Hamburg drucken lassen, weil weder die Zahl der Drucker noch die Gelehrsamkeit der Korrektoren hinreichend. Er druckt daher bei Otto Wigand (rather dessen Sohn, […]). Heut vor 8 Tagen schickte er das Manuskript nach Leipzig. Er wünscht nun, daß ich zur Hand bin, um die ersten 2 Druckbogen zu revidieren und zugleich zu entscheiden, ob der Schnelldruck mit einmaliger Revision meinerseits ,m ö g l i c h’ ist.“ Engels hatte Gründe, den Optimismus seines Freundes zu dämpfen: „Ich glaube nicht, daß die Gelehrsamkeit der Leipziger Korrektoren für Deine Art hinreicht. Meine Broschüre ließ M[eißner] auch bei Wigand drucken, und was haben die Schisser mir für Zeug da hineinkorrigiert.“ Die Schisser waren Otto Alexander und Walther Wilhelm Wigand. Traditionsbewusste Söhne, die sie waren, firmierten sie ihre Buchdruckerei, laut Adressbuch Roßplatz 3b, parterre und 1. Stock, als „Otto Wigand’s Buchdruckerei“. Bis Inge Kießhauer das filigrane Geflecht der Wigandschen Familienunternehmen vor zweieinhalb Jahrzehnten entwirrte, war es gang und gäbe, das berühmte Verlagsunternehmen des Vaters mit der Buchdruckerei der Söhne zu verwechseln. Als gebürtiger Brandenburger des sächsischen Lokalpatriotismus unverdächtig, will ich es deshalb noch einmal betonen: Der erste Band des „Kapitals“ wurde vor 150 Jahren in Leipzig in der Buchdruckerei der Brüder Otto Alexander und Walther Wilhelm Wigand am Roßplatz 3b gesetzt und gedruckt. Günter Fabiunke, bis zu seiner Emeritierung ordentlicher Professor für Geschichte der Politischen Ökonomie an der Sektion Wirtschaftswissenschaften der Karl-Marx-Universität, hat lange dafür gestritten, dass eine Relieftafel den genius loci der Nachwelt bewahrt.
Als der erste Band des „Kapitals“ in der Offizin der Gebrüder Wigand gedruckt wurde, liefen in Leipzig die Fäden des deutschen Verlagswesens zusammen. Für die Wirkungsgeschichte des Werkes dürfte dies nicht ohne Belang gewesen sein. Dass die Buch- und Messestadt von Zeitgenossen bereits als Kristallisationskern der proletarischen Emanzipationsbewegung, oder – um Wolfgang Schröder zu zitieren – als „Wiege der deutschen Arbeiterbewegung“ wahrgenommen wurde, war für die künftige Rezeptionsgeschichte vielleicht noch bedeutsamer.
Die Indizien sprechen für den 11. September als Erscheinungstag. Auf Otto Meißners Geheiß hatten die Gebrüder Wigand 1.000 Exemplare gedruckt. Die Erstausgabe, 796 Druckseiten komplexester Sachprosa mit 1023 Fußnoten, wurde „ordinär“, also ohne festen Einband, in einem gelben papierenen Umschlag zu einem Preis von 3 Thalern und 10 Neugroschen angeboten. Von diesem Betrag hätte eine fünfköpfige Familie eine Woche ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Karl Winkler, Arbeiter in einer Chemnitzer Werkzeugmaschinenfabrik, berichtete seinen Eltern am 21. Oktober 1867, der Prinzipal zahle ihm 2½ Thaler Wochenlohn; wie wir feststellen müssen, zu wenig, um Marxens Werk erwerben zu können.
Wer heute per Augenschein die typographische Gestalt der legendären Erstausgabe erkunden und einen Eindruck von den gravierende Unterschieden zwischen der ersten und der zweiten verbesserten Auflage gewinnen will, dem seien drei originalgetreue Reproduktionen anempfohlen (Tokyo 1959, 1969 und Frankfurt am Main 1983).
In der alphabetischen Sortierung von Meißners Jahresprogramm figuriert der erste Band des „Kapitals“ völlig arglos zwischen Wilhelm Lazarus’ Studie „Ueber Mortalitätsverhältnisse und ihre Ursachen“ und Carl Heinrich Prellers Beitrag zur nordalbingischen Insektenfauna mit dem vielsagenden Titel „Die Käfer von Hamburg und Umgegend“. So gut lässt sich ein künftiger Weltbestseller allemal verstecken …