Bilanz
Seit ca. fünf Jahren gibt es eine „Kapital“-Lesebewegung in der Bundesrepublik, teilweise angestoßen vom Studierendenverband SDS.Linke und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, aber auch in anderen Gruppen bis hin zu informellen Zirkeln. Sie trifft zusammen mit einem allgemeineren frischen Interesse an Marx, das immer dann zu erwachen pflegt, wenn Kalamitäten des Kapitalismus seinem alten Kritiker wieder einmal Recht zu geben scheinen. Die etwas populäre – teilweise schon populistische – Zuneigung hat allerdings kaum etwas mit MEW 23-25 zu tun, sondern mit der Feststellung, Marx und Engels hätten die so genannte Globalisierung vorausgesehen und auf Wirtschaftskrisen hingewiesen. Um Ersteres zu finden, braucht man nicht das „Kapital“, es genügt das „Manifest der Kommunistischen Partei“. Und bei Joseph A. Schumpeter kann man etwas über die Wirtschaftszyklen erfahren.
Die „Kapital“-Lesebewegung hält sich bei solchen Vordergründigkeiten nicht auf und stellt sich den Schwierigkeiten des Textes. Diese sind nun – verbunden mit neuer Zeitnot derer, die an Universitäten mit Modularisierung, Bachelor- und Masterstudiengängen gepiesackt werden und sich Extras neben dem Studium mühsam organisieren müssen – wohl auch der Grund dafür, dass man sich letztlich ebenso mit einer Auswahl begnügen muss wie die Vorfahren in den sechziger Jahren: In MEW 23 geht es kontinuierlich durch bis Seite 213, dann kommt eine Auswahl, während die Kapitel 23 und 24 wieder vollständig gelesen werden. Von MEW 24 bleiben die Erörterungen über produktive und unproduktive Arbeit, gründlich werden die Reproduktionsschemata bedacht. In MEW 25 macht man hinter dem tendenziellen Fall der Profitrate Schluss.
Dieser Kanon hat sich in Jahrzehnten herausgebildet, und man könnte sich Gedanken darüber machen, wie er entstanden ist und sich festigen konnte.
Wer allerdings das Glück hat, in der Bundeshauptstadt zu leben, ist besser dran. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bietet dort über Jahre hin ein sorgfältig ausgearbeitetes, didaktisch gelungenes und medial ansprechend präsentiertes Programm an, in dem tatsächlich das gesamte MEW-„Kapital“ erarbeitet werden kann. Wer sich die einschlägige Homepage (http://www.das-kapital-lesen.de/?page_id=4) ansieht, wird neidisch angesichts dieser Fülle einerseits und andererseits schmalerer Ressourcen in der Provinz.
Die „Neue Marx-Lektüre“
Die „Satellitenseminare“ im Umfeld der Berliner „Kapital“-Lektüre verweisen schon darauf, dass man sich dort nicht mit Text-Exegese begnügt. Auf Sekundärliteratur wird nicht verzichtet. Diese gibt immer auch das Marx-Verständnis ihrer jeweiligen Zeit wieder. Dominant ist die so genannte „Neue Marx-Lektüre“.
Sie ist mittlerweile bald 47 Jahre alt, beginnend 1965 mit „Lire le Capital“ von Louis Althusser, Étienne Balibar und anderen, in der Bundesrepublik selbständig entwickelt von Helmut Reichelt („Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx“, 1968) und Hans-Georg Backhaus, z.B. in dessen „Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie“ von 1978, fortgeführt in Michael Heinrich: „Die Wissenschaft vom Wert“ (1991), breitenwirksam in dessen in immer neuen Auflagen erscheinender „Kritik der Politischen Ökonomie. Eine Einführung“ (zuerst 2004), die das gegenwärtig einflussreichste Standardwerk in den Lesezirkeln ist.
Diese Arbeiten trennen die logische Struktur des „Kapital“ und die Wertformanalyse von der Geschichte und von der Arbeiterbewegung. Solche Konzentration auf das, was ihnen als allein wichtig erscheint, erlaubt ihnen besonders gründliches Arbeiten auf einem isolierten Feld. Anlass für ihr Reduktionsverfahren war eine zeitgeschichtliche Erfahrung, die Marx’ und Engels’ Axiom von der Subjektfunktion des Proletariats zu falsifizieren schien.
Der Schmetterling-Verlag, in dem Michael Heinrichs „Kritik der Politischen Ökonomie“ erscheint, bewirbt das Buch auf der letzten Umschlagseite u. a. so: „Vertretern eines eher traditionellen Marxismus geht die Kritik jedoch entschieden zu weit“, und er belegt dies mit einem Zitat von Wolfgang F. Haug (in: Das Argument Nr. 258, Dezember 2004): „Da Heinrich die rettende Kritik der marxistischen Überlieferung meidet und sich außerhalb der Geschichte der Klassenkämpfe stellt und die Dialektik der Logik opfert, gerät seine Einführung zur Entführung aus dem Marxismus.“
Unabhängig von der polemischen Wertung ist die Kampf- und Geschichtsabstinenz richtig beobachtet. Diese könnte aber für adäquat gehalten werden in Zeiten, in denen Geschichte und Klassenkampf keine Anschlüsse für den Text bieten. Träfe das zu, dann wäre die „Neue Marx-Lektüre“ eben die angemessene „Kapital“-Interpretation in ihrer Zeit gewesen. Eine andere Frage lautet, ob diese Zeit nicht inzwischen vorbei und die aktuelle Situation über die Haug/Heinrich-Kontroverse hinweggegangen ist.
Diese Überlegung könnte zu der Annahme führen, dass weder Geschichtsphilosophie noch Klassenkampf noch Wertform-Analyse allein das „Kapital“ vollständig erschließen können, dass eine solche im Doppelsinn erschöpfende Interpretation ohnehin nicht möglich ist, sondern dass „Das Kapital“ in verschiedenen Perioden der kapitalistischen Entwicklung sich immer neu konfiguriert. Manche Passagen, die früher glänzten, erscheinen heute stumpf, andere, die man einst als unaktuell überlas, werden plötzlich aktuell. Beide – „Kapital“ und Kapitalismus – sind plastisch und beweglich, ihre Berührungsflächen wechseln.
Bevor wir diese Überlegungen weiterführen, soll ein sehr langes Zitat eine Art Zwischenstand der Exegese der vergangenen Jahrzehnte wiedergeben. Diese Exegese ist auch insofern gerecht, als sie Affinität zwischen der dort fast schon karikierten Haltung und derjenigen von Marx unterstellt.
Ein langes Zitat
„[W]as Wells auch aus unserer Sicht Marx gegenüber fehlt, sind nicht nur ein paar wichtige Fragestellungen und Einsichten, sondern auch einiger Ballast, an dem sich nicht nur die Antimarxisten seit Erscheinen des ersten Kapital-Bands gütlich tun – das manchmal Zwanghafte, mittels der Wertlehre ein Unrecht nicht allein zu erklären, sondern oft genug gar erst zu beweisen, welches man doch mit ein bisschen Wachbewusstsein und leidlicher Lebenserfahrung mit dem Kapitalismus nichts anderes finden kann als evident, die stete Einladung zum Begriffszauber und zur endlosen Nachbesserei, Diskussion, Optimierung der Theorie als derridistischer ‚Aufschub’ des an ihr eigentlich Politischen, der Hang auch, sie zu etwas Konvergierendem, ideal Geschlossenem machen zu wollen, unangreifbar und wasserdicht, dies alles bildet einen Katalog von Niedergangssymptomen, der aus der Defensivität der Lebenssituation entsprungen sein muß, in der große Teile dieser Theorie entstanden – es waren nicht die revolutionären Jahre; das meiste ist durchaus Antwort auf die trübselige Frage: Was macht man, wenn der Sieg nicht greifbar ist? Nun, man schleift die Konzepte schärfer, und das kann, dann, wenn man Pech hat, Generationen von fellow Theoretikerinnen in Lohn, Brot und Kurzweil setzen, welche ihre Ohnmacht in immer größere Präzision und parascholastische Rabulistik ummünzen. Am Ende steht etwas, das der Karikatur, die Hayek und Mises von den Sozialistinnen zeichnen, gar nicht mehr so unähnlich sieht und sich selbst als eine Art Spiegelbild der Volkswirtschaftler-Priesterschaft, an welche jene beiden glauben, verstehen möchte. Da sind dann die Marxistinnen die einzigen, die etwas von Wirtschaft verstehen, weil sie zwar vielleicht nicht den Rechnungen folgen können, die den ‚Quantum Funds’ operabel machen sollen, aber dafür der Erforschung von Verzwicktheiten wie der folgen können, ob die Umwandlung von Wert in Preis, wie Marx sie darstellt, in sich stimmig ist, ob man zu Ricardo zurück muß, um diese Frage zu klären, ob die Werttheorie einen Fingerzeig für die Unterscheidung produktiver und unproduktiver Arbeit liefert und so fort – lauter interessante Sachen, keine Frage, aber der in ihrer marxologischen Erörterung durch Heerscharen von (manchmal verbeamteten, manchmal bettelarm lebenslang vor sich hinrödelnden) Gelehrten aufscheinenden Losung ‚Sind alle Haare gespalten, sitzt die Frisur wieder’ sieht man ihr Neurotisches von weitem an.“[1]
Die Kritik ist sarkastisch, aber nicht ohne Empathie. Sie erinnert daran, dass es eine Realität außerhalb des Textes gibt, die mit seiner Hilfe erschlossen werden muss – und umgekehrt. Dies nun wieder ist von dem hier teilweise kritisierten Marx nicht so weit entfernt. Er wusste es und handelte danach, und dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass „Das Kapital“ weniger kanonisch ist, als es immer wieder dargeboten wird.
Die Textmasse des Operativen Intellektuellen
Wer MEW 23 studiert, hat bekanntlich nicht die erste Ausgabe von 1867 vor sich, sondern die von Engels nach Vorgaben von Marx besorgte dritte aus dem Jahr 1883. Der zweite (MEW 25) und der dritte Band (MEW 26) erschienen postum, wobei vor allem der dritte eine von Engels organisierte Auswahl und Zusammenstellung aus weit umfangreicherem Material darstellt, dessen Edition in der zweiten Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe noch immer nicht völlig abgeschlossen ist. Liegt sie vor, werden aus den drei MEW-Bänden schließlich 15 der MEGA geworden sein. „Das Kapital“ ist also ein Fragment. Die Frage, weshalb es nicht „fertig“ wurde, ist sehr verschieden beantwortet worden. Es konnte wohl überhaupt nicht als System abgeschlossen werden, weil die „Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“ (MEW 23: 49) zwar in seiner logischen Struktur analysierbar sind, Marx sich aber nicht darauf beschränkte, sondern auch deren noch im Gang und in ständiger Wandlung befindlichen historischen Prozess sowie ihre Varianten (darauf weist der Plural: Gesellschaften) darzustellen sich bemühte. Als drittes Moment kam die praktische Auseinandersetzung mit dem Thema hinzu. Sie war auch ein Erkenntnismittel. Unter Tui-Aspekt mag es unverzeihlich gewesen sein, dass der nicht verbeamtete, sondern bitterarme Marx, anstatt seine knappe Lebenszeit schreibend auszuschöpfen, sich in die Querelen der Ersten Internationale stürzte. Und dass Engels viele Jahre benötigte, um den dritten Band herausgeben zu können, hatte seine Ursache gewiss nicht – wie neuerdings ohne jedes Indiz vermutet worden ist – in angeblichen geheimen Zweifeln an der Marxschen Konstruktion des Produktionspreises, auch nur zu geringerem Teil in seiner nachlassenden Sehkraft, sondern daran, dass er diese theoretische Arbeit ebenso betrieb wie Marx selbst: im Austausch mit eigener praktischer Arbeit. Als er die Vorbereitung des Treffens in Paris 1889, aus dem die Zweite Internationale hervorgehen sollte, im Hintergrund tatkräftig mitsteuerte, fluchte er zwar immer wieder über den „verdammten Kongress“, der ihn monatelang nicht zum dritten Band hatte kommen lassen – aber er ließ sich eben abhalten, weil er dies in Wirklichkeit nicht für einen Irrweg hielt, sondern für die andere Seite der wissenschaftlichen Arbeit, die, soweit sie relevant war, nicht allein durch Philologie und Theorie zu leisten war. Was nutzte das ganze „Kapital“, wenn die Arbeiterbewegung in die Hände der französischen Broussisten fiel?
Man redet häufig, Gramsci folgend, über den Unterschied zwischen Traditionellen und Organischen Intellektuellen. Das hat seinen Sinn. Es gibt aber einen dritten (mit dem zweiten vereinbaren) Typus: den Operativen Intellektuellen, der in dem, was er tut, theoretische Erkenntnisse sowohl gewinnt als auch anwendet. Der Lenin der Imperialismusschrift von 1916/17 gehört dazu, und Marx hat damit angefangen.
Text, sich verändernde kapitalistische Realität und das, was daraus in einer jeweiligen Situation gemacht werden kann, wirken aufeinander ein. Deshalb erscheinen die demnächst fünfzehn Bände des „Kapital“ nicht wie eine Architektur, sondern wie ein – allerdings gewaltiges – Mobile. Sehen wir zu, wodurch es gegenwärtig in Bewegung versetzt wird.
Interaktives Lesen
Das Umfeld, in dem „Kapital“-Lektüre sich ändert, besteht nicht nur aus ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen, sondern auch aus Erkenntnissen in jenem Bereich, in dem laut Kirchner/Dath Haarspaltereien sich ereignen. Zum Beispiel diese:
Seit dem „Sraffa“-Schock von 1960 galt die Marxsche (Arbeits-)Mehrwertlehre als redundant und unbeweisbar. Wer auf den Wissenschaftscharakter des Historischen Materialismus Wert legt, weil er sein Handeln nicht auf Mythos und Voluntarismus baut, musste dadurch beunruhigt und durfte erleichtert sein, als 1983 Emmanuel Machover und Moshé Farjoun die Arbeitswertswertlehre retteten, indem sie Marx’ Annahme einer – empirisch nicht nachweisbaren – einheitlichen Profitrate verwarfen und diese durch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung ersetzten.[2] Dies stimme mit dem Ergebnis von Untersuchungen für Großbritannien aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts und den USA 1849-1952 bzw. 1949-1977 überein. 1984 folgte A.M. Shaik mit Überlegungen über eine weitgehende Rückkehr zur Arbeitswertlehre. Fritz Helmedag veröffentlichte 1992 unter dem provozierenden Titel „Warenproduktion mittels Arbeit“ eine „Rehabilitation des Wertgesetzes“[3], über die er sich seitdem mit den Neoricardianern streitet. Schließlich erschien 2009 die Dissertation „Die Aktualität der Arbeitswerttheorie“ von Nils Fröhlich, der „die Standpunkte von Shaik sowie Farjoun und Machover als leistungsfähig“ empfahl.[4]
Auf diese Weise theoretisch gestärkt, können wir untersuchen, welche zeitgenössischen Entwicklungen das ökonomische Hauptwerk von Karl Marx in ein neues Licht tauchen, aber auch durch dieses erhellt werden.
1965, als „Lire le Capital“ erschien, mochte das „Allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ (MEW 23, 23. Kapitel) zwar logisch herleitbar sein, aber es erschien in den am höchsten entwickelten kapitalistischen Ländern ohne aktuelle Evidenz. Die ständige Massenarbeitslosigkeit seit der Weltwirtschaftskrise von 1975 hat das geändert, und nun liefert der einst versunkene Text-Teil eher Argumente für die Annahme, dass das Goldene Zeitalter des Kapitalismus seit 1947 eine Ausnahme gewesen ist.
Gleiches gilt für das 24. Kapitel des ersten „Kapital“-Bandes, das die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ behandelt. Häufig wird diese als ein einmaliger, längst abgeschlossener Vorgang missverstanden. Rosa Luxemburgs Werk „Die Akkumulation des Kapitals“ wies bereits in eine andere Richtung. Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts drängt sich die von David Harvey beschriebene „Akkumulation durch Enteignung“ als eine zentrale Tatsache auf, nicht nur in der Beseitigung des Staatseigentums der ehemals sozialistischen Länder, sondern auch in den Privatisierungen der altkapitalistischen Gesellschaften.
Verständnishilfe durch aktuelle Erfahrung erfährt vielleicht sogar einer der sperrigsten Abschnitte des ganzen Werkes: „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ (MEW 23: 85 – 98). Generationen haben sich daran abgearbeitet, vielleicht einen ungefähren Begriff erhalten und waren dann – zum Kummer der Vertreter der Neuen Marx-Lektüre – aber doch recht froh, wenn es anschließend relativ empirisch zuging. Wer zum 24. Kapitel des dritten Bandes des „Kapital“ vorgedrungen ist, stößt dort auf die Feststellung, mit dem zinstragenden Kapital erreiche „das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form“ (MEW 25: 404). In der Tat: Hier wird deutlich, wie das Verhältnis von Produktionsprozess, in dem (Arbeits-)Mehrwert in Form von Geld entsteht, und der Zirkulation von Geld auf den Kopf gestellt ist, Letzteres als scheinbare Ursache des Ersteren: Produziert wird, um (entweder von Gläubigern oder von den Unternehmern selbst) vorgeschossenes Kapital plus einen Zins plus einen darüber hinausgehenden Gewinn zu erwirtschaften – die in den Produkten verkörperte Arbeit ist die abhängige Variable des Geldes.[5] Der Zins erscheint als von der Arbeit unabhängige Variable und als Ergebnis des Marktverhältnisses von Angebot und Nachfrage nach Kapital. Er generiert sogar eine besondere Kapital-Sorte, das fiktive Kapital. (MEW 25: 482-487). Verkörpert er sich in einem fixen Betrag, dann verringert sich dieses, wenn er steigt. Die „Kapitalisierung“ (ein von Marx verwendeter Begriff) des Zinses, die gegenläufige Beziehung von Börsenkurs und Prozentsatz der Dividende am fiktiven Kapital, ist ein Fetischverhältnis, das im finanzmarktgetriebenen Kapitalismus besonders deutlich hervortritt.
Durch Farjoun/Machover u. a. gerät Marx’ Annahme einer gesamtgesellschaftlichen Profitrate unter die Räder. Der fetisch-verhexte Unternehmer und Bankier der Gegenwart allerdings wird – die Shareholder im Nacken – seine individuelle Rendite durch Senkung der Eigenkapitalquote mittels Kredit zu stabilisieren versuchen.[6] Das Niveau der gesamtgesellschaftlichen Verteilungskurve von Profitraten mag dadurch stabilisiert werden.
Ein neues Publikum?
Trotz Occupy und Arabischem Frühling findet noch keine Interaktion zwischen dem „Kapital“ und realen Bewegungen, wohl aber mit den gegenwärtigen innerkapitalistischen Transformationsprozessen statt. Die auf sich selbst bezogene Wertformanalyse hat ihre Zeit gehabt. Nunmehr kann „Das Kapital“ vielleicht das Interesse von Menschen wecken, die fest annehmen, sie fänden niemals in ihrem Leben die Zeit, MEW 23-25 zu lesen. Mag sein, dass sie sich irren, wenn es sich nämlich um Zeitgenossinnen und -genossen handelt, die ihren Lebensunterhalt nicht mit Kritik der Politischen Ökonomie und Gesellschaftswissenschaften verdienen (bzw. sich dieses Vergnügen am Mund absparen), sondern mit anderen Tätigkeiten. Je tiefer sie in diese verstrickt sind, desto mehr könnten sie Anlass haben, Zeit für die Lektüre des „Kapital“ zu erübrigen. Dies könnte die Art und Weise einer nicht auf Spezialist(inn)en beschränkten Analyse der kapitalistischen Welt sein, außerhalb akademischer Institutionen.
[1] Barbara Kirchner/Dietmar Dath, Der Implex: Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. Berlin 2012, S. 630/631.
[2] Emmanuel Farjoun/Moshé Machover: Laws of Chaos. A Probabilistic Approach to Political Economy, London 1983.
[3] Fitz Helmedag, Warenproduktion mittels Arbeit. Zur Rehabilitation des Wertgesetzes, Marburg 1992.
[4] Nils Fröhlich, Die Aktualität der Arbeitswerttheorie. Theoretische und empirische Aspekte. Marburg 2009. Für den Verfasser der hier vorliegenden bescheidenen Zeilen wurden die Arbeiten von Farjoun/Machover und Fröhlich durch Ralf Blendowske (Darmstadt) entdeckt.
[5] Georg Fülberth, „Das Kapital“ kompakt. 2. Aufl. Köln 2011. S. 97-102.
[6] Rainer Roth, Finanz- und Wirtschaftskrise: Sie kriegen den Karren nicht flott. Anmerkungen zu Ursachen und „Lösungen“. o. O. [Frankfurt/Main] 2009. S. 72-76.