Mit der realen Arbeiterbewegung hat „Das Kapital“ nicht viel zu tun. Diese Lesart des „Kapitals“ ist heute relativ weit verbreitet (so zum Beispiel in der augenblicklich populärsten Kommentierung des „Kapitals“ bei Michael Heinrich). Und tatsächlich findet sich im „Kapital“ keine konkrete Anleitung zum Umsturz. Trotzdem hat das „Kapital“ zu den marxistischen Debatten um die richtige Form der Organisierung und damit zum Fortschritt der Arbeiterbewegung einiges beizutragen. Eine marxistische Parteienforschung muss bei Marx anfangen und die Erkenntnisse des „Kapital“ berücksichtigen.
Schon im „Kommunistischen Manifest“ formulieren Marx und Engels, wie genau die Arbeiterbewegung sich organisiert und damit den Sozialismus erreicht:
1. Der Kampf gegen die Bourgeoisie beginnt mit der Existenz des Proletariats (vgl. MEW 4: 470).
2. Die Arbeiter kämpfen erst in ihrem Arbeitszweig – auch noch gegen die Maschinen und Fabriken selber. In diesem Zustand sind sie noch zersplittert und kämpfen meist noch die Kämpfe der Bourgeoisie gegen die Feudalherren. Das „Zusammenhalten der Arbeiter ist noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Bourgeoisie“ (ebd.: 470).
3. Immer mehr Klassen werden ins Proletariat hinabgeworfen. Die Entwicklung der Produktivkräfte schafft vermehrt gemeinsame Lebenslagen und Interessen der ArbeiterInnen. So bilden die ArbeiterInnen erstmals dauernde Assoziationen und beginnen, kontinuierlich gegen die Bourgeoisie zu kämpfen (zuerst um den Lohn) (vgl. ebd.).
4. Das Resultat dieser Kämpfe, die siegreich oder in der Niederlage enden können, ist die weitere Vereinigung der ArbeiterInnen auf nationaler Ebene. Ab hier wird der ökonomische Kampf zum politischen (vgl. ebd.: 471).1
5. Die „Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei“ (ebd.: 471), die in der Lage ist, zum Beispiel eine Begrenzung der Arbeitszeit per Gesetz durchzusetzen.
6. Aus der Bourgeoisie bzw. der herrschenden Klasse wird ein Teil ins Proletariat geschleudert. Ein anderer läuft zum Proletariat über. Das Proletariat gewinnt dadurch an Bildung (vgl. ebd.: 471f).
7. „Der Sieg des Proletariats ist unvermeidlich.“ (MEW 4: 474).
Wer das liest, fragt sich unweigerlich: Warum haben Marx und Engels nicht in der Partei als höchster Organisationsform mitgearbeitet? Die Antwort ist einfach: Weil es keine Partei gab. Das „Manifest der Kommunistischen Partei“ war eigentlich ein Manifest einer linken Kleinstgruppe in der Illegalität, des „Bunds der Kommunisten“. Dieser Bund bestand nur bis 1852 und löste sich im Niedergang der Klassenkämpfe der 1850er auf.
1848 ging in vielen Ländern Europas zwar nicht das Gespenst des Kommunismus um, aber dafür immerhin Aufstand und Revolution! Die Klassenkämpfe waren auf einem Höhepunkt, und Marx und Engels stürmten nur so ins Getümmel. Doch auf die heiße Phase der Klassenkämpfe folgte eine Zeit relativer Ruhe und konservativer Restauration. Linke Parteien gab es zu dieser Zeit nicht.
Es wäre auch völlig falsch anzunehmen, dass Marx und Engels ein Verständnis von der Partei hatten, wie wir es heute haben. Johnstone findet bei Marx und Engels fünf verschiedene Verwendungen des Parteibegriffs.2 Für die Zeit der 1850er spricht Johnstone von einer Partei ohne Organisation. Die ArbeiterInnen selbst bilden die Partei und die Bewegung. Betrachtet man das „Kapital“ von der Niederlage 1848 her, ergibt das Sinn. Marx musste nach der fehlgeschlagenen Revolution 1848 ins Londoner Exil gehen. Hier schrieb er mit den „Klassenkämpfen in Frankreich“ und dem „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ zwei sehr wichtige kleine Broschüren, in denen er das Scheitern der Revolution in Frankreich analysierte. Dabei fokussiert er sich stark auf die beteiligten Klassen in der Revolution. Aus der konkreten Entwicklung der Klassen und ihrem Handeln erklärte er die Niederlage der Arbeiterbewegung 1848.3 Der Weg zum Sozialismus verlief weniger geradlinig als gedacht. Die Vereinigung der Arbeiterbewegung war keine Selbstverständlichkeit.4
Mit den Vorarbeiten zum „Kapital“ begann Marx Mitte der 1850er Jahre. Er machte einen Schritt zurück und widmete sich intensiv der Ökonomie. In ihren zahlreichen Briefen standen Marx und Engels zwar mit den politisch Aktiven vieler Länder in Kontakt. So hoffte Marx auf eine Parteigründung der linken Chartisten in England unter ihrem linken Führer Ernest Jones. Doch sein Arbeitsschwerpunkt lag neben dem Journalismus auf den ökonomischen Arbeiten. Und tatsächlich, wer das „Kapital“ studiert, sieht, dass Marx keineswegs nur ökonomisch argumentiert. Im Gegenteil, weite Teile des „Kapitals“ schöpfen aus der historischen Anschauung oder arbeiten mit historischen Beispielen. Wer über die ersten 60-120 Seiten hinausliest, wird entdecken, dass Marx sich in mehreren Kapiteln die Lebensrealität der Arbeiterklasse genauestens anschaut. Seitenweise zitiert er ebenso Bemerkungen der Gegner der ArbeiterInnen: Fabrikbesitzer, Lords und so weiter. Wesentlich genauer als im „Manifest“ betrachtet er hier die Entstehung des doppelt freien Lohnarbeiters im Prozess der ursprünglichen Akkumulation und die allmähliche Herausbildung des Industrieproletariats (vgl. MEW 23: 371-673). Marx entwickelte hier eine ökonomische Theorie der Klassen und der Klassenentstehung. Er arbeitete sehr klar den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit heraus.
Nun mag mancher argumentieren, gerade die historischen Teile des Kapitals wären fehlbar. In den 1970er Jahren entbrannte im Anschluss an die Werke von Thompson, Vester, Hobsbawm u.a. eine Debatte darüber, ob die Entstehung der Klassen genauso verlief, wie sie Marx beschrieb. Thompson und Vester beschrieben die Konstituierung der Arbeiterklasse im Kampf und als Lern- und Suchbewegung.5 Hobsbawm wies zu Recht darauf hin, dass England das einzige Land war, in dem das Industrieproletariat jemals die Mehrheit stellte.6
Doch trotz aller Widersprüche entdeckte Marx nicht nur die ökonomische Triebfeder der Klassenkämpfe. Seine Voraussage der weiteren kapitalistischen Durchdringung der Welt, seine Beschreibung der Industrialisierung waren völlig richtig. Überall wo das Kapital eine große Industrie schuf, entstand eine Arbeiterklasse und mit ihr eine organisierte Arbeiterbewegung. Darauf wies Beverly Silver hin in ihrer Untersuchung der Hauptindustrien des 19. und 20. Jahrhunderts, der Textil- und Automobilindustrie.7 Insofern ergründete Marx im „Kapital“ nicht nur die ökonomischen, sondern auch zentrale politische Bewegungsgesetze. Marxistische Politik kommt seitdem nicht mehr ohne die Kritik der Politischen Ökonomie und die gründliche Untersuchung der Klassenbewegungen aus. Mit der Entdeckung der Klassenbewegungen als Triebfeder der Parteiengründungen ist Marx der heutigen bürgerlichen Parteienforschung immer noch um einiges voraus. Eine rein ökonomische oder logische Lesart des Kapitals, jenseits der realen Arbeiterbewegung, ist daher geradezu absurd.
1 Die Politisierung der ArbeiterInnen durch den gewerkschaftlichen Kampf hatte schon Engels frühzeitig in „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ konstatiert. Er bezeichnet die Arbeitskämpfe hier noch als „Kriegsschule“ der ArbeiterInnen (vgl. MEW 2: 441).
2 Johnstone unterteilt diese Phasen chronologisch: 1. Bund der Kommunisten 1847-1852, 2. Partei ohne Organisation (1852-1864), 3. Die Internationale (1864-1872), 4. Nationale marxistische Arbeitermassenpartei (1870ff) und 5. die angloamerikanische eher „breite Arbeiterpartei“ (1880ff) (vgl. Monty Johnstone, Marx and Engels and the Concept of the Party. In: Socialist Register. Vol. 4,1967, S. 121ff.).
3 Vgl. PKA, Zur Taktik der proletarischen Partei. Marxistische Klassenanalyse Frankreichs von 1848-1871, West-Berlin 1972.
4 Möglicherweise ist der Normalzustand der Arbeiterklasse auch eher die Spaltung – wie Antonio Gramsci und Frank Deppe viele Jahre später argumentieren sollten. Vgl. Frank Deppe, Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse. Überlegungen zu einer politischen Geschichte der Arbeiterbewegung, Marburg 1981, S. 81.
5 Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963; Michael Vester, Die Entstehung des Proletariats als Lernprozess, Frankfurt am Main 1972.
6 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998, S. 384f.
7 Berverly J. Silver, Forces of Labour. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin/Hamburg 2005, S. 212.