Das erste Mal bin ich den drei blauen Bänden des „Kapitals“ 2009 begegnet, als ich sie nach meinem Schülerbetriebspraktikum im Wahlkreisbüro von Lothar Bisky mitnehmen konnte – eine alte Genossin hatte dem Büro kurz zuvor ihre Bibliothek vermacht. Begierig wollte ich mich in den nachfolgenden Sommerferien daran machen, das Buch zu lesen, doch mit 15 Jahren ohne Hilfe und ohne Sekundärliteratur scheitert man relativ schnell an dem dichten Text.
Zweieinhalb Jahre später hatte ich dann an der Universität in Berlin das Glück, ein Einstiegsseminar in „Das Kapital“ und bald darauf einen Kapitallesekreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung besuchen zu können. Im gemeinsamen Lesen und diskutieren stellte ich fest, dass der Text zwar immer noch dicht und komplex ist, aber eigentlich doch sehr verständlich aufgebaut ist. Durch diese Hilfe bekam ich einen guten Einstieg ins „Kapital“ und musste mir nicht wie viele Genoss*innen in kleineren Unistädten mühsam Mitleser*innen zusammensuchen, um sich dann ohne große Anleitung durchzuarbeiten.
Eine Dozentin in meinem ersten Unisemester sagte, Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie nachzuvollziehen sei etwa so, wie wenn man im Film „Matrix“ die Zahlenkolonnen hinter der scheinbaren Realität sieht und so die verborgenen Logiken des Kapitalismus versteht. Mit dieser Analogie hat sie m. E. ein sehr gutes Bild gefunden. Auch wenn ich mich in meinem Studium eher mit den ins Philosophische und ins Soziologische übergehenden Randbereichen der Politikwissenschaft und weniger mit politischer Ökonomie beschäftigt habe – also eher die scheinbare Realität, den gesellschaftlichen Überbau, als die dahinter liegende Matrix betrachtet habe –, habe ich doch das Gefühl, dass mir dieses Hintergrundwissen immer geholfen hat, meine Fragestellungen besser zu verstehen.
Mich beschäftigt das Problem, welche Rolle die Gewerkschaften für die Rettung und den Ausbau der Demokratie spielen können. Das ist offensichtlich kein direktes Thema einer „Kapital“-Exegese. Wenn man im Anschluss an Abendroth davon ausgeht, dass Gewerkschaften die Demokratie behüten müssen1 (und können!), stellt sich natürlich die Frage, wer oder was die Demokratie gefährdet. Hier gleichen sich die Befunde von Abendroth und neuere Theorien der „Postdemokratie“ von Colin Crouch u.a.. Beide sehen in ihren auf Volkssouveränität begründeten radikaldemokratischen Demokratiekonzepten die Demokratie von einer enormen gesellschaftlichen Ungleichheit bedroht. Die Kapitalisten haben viel mehr Möglichkeiten, ihre Partikularinteressen durchzusetzen. Dadurch wird die Demokratie ausgehöhlt. In der Postdemokratie bleibt nur noch die leere Hülle erhalten (Crouch); es wird nur die äußere Form ausgebildet, ohne dass sich eine wirkliche Demokratie bilden kann (Abendroth).2 Schon hier zeigt sich die Relevanz der Analyse des „Kapital“.
Bleibt man nur an der Oberfläche dieses Befundes, könnte man meinen, dass mit einer gleichmäßigeren Verteilung des Reichtums durch höheren Vermögensbesteuerung und einer Politik, die endlich mal wieder auf die „kleinen Leute“ statt auf die Lobbyist*innen hört, das Problem gelöst wäre. Crouch denkt zwar nicht ganz so einfach, aber er bleibt bei seinen Lösungsvorschlägen doch sehr unkonkret und verwirft antikapitalistische Lösungsansätze von vornherein als unrealistisch.3 Die geschulten Marxisten sehen hinter die Dinge und erkennen das Problem der inhärenten Machtasymmetrie des Kapitalismus: Dadurch, dass die Lohnabhängigen nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, sind sie gezwungen für die Kapitalisten zu arbeiten und sind in den Betrieben ihrer Macht ausgeliefert. In der ökonomischen Sphäre, in der sich die Lohnabhängigen immerhin den halben Tag aufhalten und den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten, gibt es für sie keine Demokratie. Das Kapitalverhältnis greift aber auch in die politische und staatliche Sphäre: Durch den angeeigneten Mehrwert hat die Kapitalseite hier die Möglichkeit, ihr Geld und ihr ökonomisches Druckpotential in Macht umzuwandeln.
Vor diesem Hintergrund muss die Antwort im Kern auf die radikale Demokratisierung der Wirtschaft und die Durchsetzung der Interessen der arbeitenden Mehrheit zielen und damit auf das Herz des Kapitalismus, der ja gerade auf der Klassenspaltung und dem Machtungleichgewicht zwischen den Klassen beruht. Ohne Marx’ Analysen im „Kapital“, wie aus Menschen Kapitalisten und Proletarier werden und die eine Seite über die andere eine unsichtbare und schwer greifbare, aber klar spürbare Macht erlangt, wären solche strategischen Überlegungen wohl kaum möglich.
1 Vgl. Wolfgang Abendroth, Zur Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie, in: Wolfgang Abendroth,Gesammelte Schriften. Band 2. 1949–1955, Hannover 2008, S. 229.
2 Vgl. Wolfgang Abendroth, Die Verwirklichung des Mitbestimmungsrechts als Voraussetzung einer demokratischen Staatsordnung, Ausführungen, in: ebd., S. 358 ff.; Colin Crouch: Postdemokratie; Frankfurt am Main 2015, S. 10.
3 Vgl. Crouch, a.a.O., S. 133.