Viel zitiert ist die ironisch-polemische Aussage des jungen Antonio Gramsci, bei der Oktoberrevolution habe es sich um eine „Revolution gegen ‚Das Kapital‘ – von Marx“ gehandelt. Freilich zielte Gramsci mit dieser Bemerkung weniger auf das Projekt einer „Kritik der politischen Ökonomie“ oder ihren Autor als auf eine in der zweiten (und später auch der dritten) Internationale weit verbreitete Lesart, derzufolge die ökonomische „Basis“ nicht nur eine abgesonderte Realität vor und neben den politischen, rechtlichen, kulturellen, ideologischen usw. „Überbauten“ sei, sondern diese schlechterdings hervorbringe. Politik, Recht, Kultur und Ideologie erscheinen in dieser Perspektive als Reflexe auf bzw. Resultate von einer tieferen Wirklichkeit. Die engen Spielräume der politischen Akzidenz würden vom eigentlichen ökonomischen Wesen „der Gesellschaft“ gesetzt. Politik sei aus Ökonomie ableitbar. Proletarische Revolutionen etwa hätten zu warten bis die Produktivkräfte weit genug entwickelt seien, um in einen unaufhebbaren Konflikt mit den Produktionsverhältnissen zu geraten. Verschärfte Klassenkämpfe erscheinen dann als Folge dieser objektiven Entwicklung, nicht als politische Praxis und Streit um eine alternative Gestaltung der gesellschaftlichen Reproduktion. Die Oktoberrevolution öffnete, gerade weil ihr Schauplatz nicht die Zentren der kapitalistischen Produktionsweise, sondern die russische Peripherie war, die Debatte. Schon Wladimir Iljitsch Lenin, Leo Trotzki, Rosa Luxemburg und Franz Mehring hatten – bei all ihren Differenzen – begonnen, den politischen Überbau in seiner Bedeutung zu rehabilitieren. Ähnlich wie seinen Zeitgenossen Karl Korsch und Georg Lukács ging es auch Gramsci um eine Fortsetzung dieses Rehabilitierungsprojekts.
An diesem Exkurs in die Theoriegeschichte des Marxismus lässt sich zweierlei verdeutlichen: Erstens gilt – wie sich in freier Anknüpfung an Walter Benjamin sagen lässt – auch für Texte wie „Das Kapital“, dass sich die Rezeptionskontexte in die Werke selbst einschreiben. Ein unbefangener, von divergierenden Lesarten befreiter Zugang existiert nicht. Jeder Satz, jeder Begriff ist belagert von Deutungen und Kontroversen. Im Fall des Marx’schen Werks kommt erschwerend hinzu, dass dem Streit der Lesarten zumeist politische Kontroversen zugrunde liegen. „Das Kapital“ ist vermintes Gelände. Zweitens zwingen jedoch gerade diese Überlagerungen zum Blick in das Original. Nicht zuletzt deshalb, weil in den letzten Jahren und Jahrzehnten die oben nachgezeichnete grobe Skizze der ökonomistischen Argumentationsweise der zweiten Internationale von „postmarxistischen“ Autorinnen und Autoren als karikaturesker Popanz aufgeblasen, wird, um die eigene Abkehr von jeder Spielart des historischen Materialismus zu begründen, ist eine politische Lektüre des „Kapital“ heute mindestens so dringend geboten, wie in den Zeiten als Staatsableitungsdebatten sich in immer höhere theoretische Höhen schraubten und dabei den Bezug zur empirischen Realität der kapitalistischen Gesellschaft gänzlich zu verlieren drohten.
Bereits 1998 widmete sich Michael Krätke in einem zweiteiligen Beitrag für Z. der Frage: „Wie politisch ist Marx’ Politische Theorie?“. Krätke betont darin, Marx sei „einer der ganz wenigen waschechten politischen Ökonomen, ein Theoretiker, den der traditionelle Vorwurf der rituellen ‚Machtblindheit‘ oder ‚Politikblindheit‘ nicht trifft“ (Z 34, Juni 1998, S. 146): „Gerade Marx hatte einiges zu schreiben über die Rolle des Staates und der modernen Politik in der kapitalistischen Produktionsweise und er hat es auch getan.“ (Z. 33, März 1998, S. 126). Krätke zeichnet – zugleich gegen einen ökonomistischen Reduktionismus und einen das Politische im Ökonomischen nicht minder ignorierenden Politizismus gewandt – nicht nur nach, wie Marx im Kapitel über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ die später von Max Weber wiederholte These, derzufolge im Anfang die Sparsamkeit gewesen sei, gerade dadurch dekonstruiert, dass er die politisch vermittelte Gewaltsamkeit herausstellt, mit der das „Startkapital“ für den späteren Akkumulationsprozess zusammengeraubt wurde (Z. 34, S. 149f.) . Darüber hinaus zeigt er auch auf, wie Marx „gerade an den Schlüsselstellen“ seiner Analyse, auf „politische Elemente“ zurückkommt, ohne die die kapitalistische Produktionsweise nicht denkbar wären (Z. 34, S. 151ff.). So verweist er – mit Marx – auf die notwendige politische Flankierung des Arbeitsmarkts (S. 151), die staatliche Aufgabe der Schaffung von gleichen (oder ungleichen) Konkurrenzbedingungen (S. 151f.), die staatlichen Funktionen bei der Etablierung und Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Kreditsystems (S. 152) und schließlich auf jene politischen „Institutionen und Aktionen“, ohne die eine kapitalistische Verwertung des Grundeigentums undenkbar seien (S. 152). Diese Liste ist unvollständig. Was sie indes hier schlaglichtartig zeigen soll, ist, dass Marx die Rolle und Bedeutung politischer Institutionen bei der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise keineswegs aus den Augen verliert – oder, in den Worten Krätkes: „In der Darstellung der formell ganz unpolitischen Ökonomie des modernen Kapitalismus hat Marx die Einbruchstellen der Politik in die Ökonomie verzeichnet.“ (S. 148)
Sollte dies bereits als Grund dafür reichen, dass sich auch und gerade Politologen mit dem Marx’schen „Kapital“ beschäftigen sollten, so erscheint freilich – angesichts „postmarxistischer“ Abwehrreflexe gegen einen vermeintlich notwendigerweise ökonomistischen Materialismus – das umgekehrte Argument noch zwingender. Denn so wenig ökonomische Prozesse isoliert vom Politischen verstanden werden können, so wenig versteht man Politik ohne eine Reflexion auf die Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft materiell reproduziert und welche Formen (vermeintlich vorpolitischer) Herrschaft in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen erzeugt und ausgeübt werden. Ohne Marx und ohne „Das Kapital“ beschneidet sich sozialwissenschaftliche Analyse selbst. Ein „Postmarxismus“, der glaubt Marx links liegen lassen zu können, um auf der Höhe der Zeit zu sein, fällt daher genau genommen hinter das 19. Jahrhundert zurück.