Bis 1995 konnte man am Psychologischen Institut der FU Berlin, angeleitet durch eine Tutorin oder einen Tutor, den ersten Band des Marx’schen „Kapital“ lesen und dafür einen „Schein“ (heute würde man sagen: „Credits“) erhalten. Die auf zwei Semester angelegte Lehrveranstaltung firmierte im damaligen Grundstudium unter dem Titel „Gesellschaftstheoretische Grundlagen der Psychologie“. Der Inhalt von Tutorien wurde von sogenannten Tutorienkonferenzen beschlossen, an denen beliebig viele Studierende mit Stimmrecht teilnehmen konnten. Nach wie vor ist eine solche Lektüre erklärungsbedürftig.
Als der erste Band des „Kapital“ vor 150 Jahren erschien, hatten sich die sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen, wie wir sie heute kennen, noch nicht vollständig herausgebildet. Wer will, kann das Marx’sche Buch als Beitrag zur Ökonomie, Soziologie, Politologie oder zur Historiografie lesen. Die Psychologie hat sich abseits der übrigen Gesellschaftswissenschaften entwickelt, weshalb der fachliche Bezug zum „Kapital“ nicht auf der Hand liegt. „Die Psychologie“, so ein berühmtes Diktum von Hermann Ebbinghaus, „hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte.“ Einerseits gebe es sie bereits „jahrtausendelang“, andererseits habe sie erst im 19. Jahrhundert eine „fließende Förderung … durch die Naturwissenschaft“ erfahren1, die Ebbinghaus insbesondere mit den Namen Johann Friedrich Herbart (1776-1841) und Gustav Theodor Fechner (1801-1887) verbindet.
Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts konsolidierte sich eine Psychologie, die sich als empirische Naturwissenschaft verstand und die Erleben und Verhalten von „Organismen“ vorzugsweise experimentell erforschen wollte. Die Abwendung von historischen hin zu mathematisch begründeten Modellen vollzog sich auch in anderen Wissenschaften, etwa der Volkswirtschaftslehre.2 Neben der Laborforschung war insbesondere die so genannte Intelligenzdiagnostik bedeutend für die Psychologie. Die Intelligenzforschung ging von einer angeblich „festgelegten Eigenschaft“ des Individuums aus, was Alfred Binet (1857-1911), der Entwickler des ersten Intelligenztests, als „brutalen Pessimismus“3 kritisierte. Theoretisch konkurrierten Annahmen über die Erblichkeit von Intelligenz als vermeintlich weitgehend fixierter Eigenschaft später mit dem radikal lerntheoretischen Behaviorismus4, dessen geistige Vormachtstellung in den USA ab den 1960ern auf den Kognitivismus überging – wobei dem Linguisten Noam Chomsky (1959) das Verdienst zugesprochen wird, die „kognitive Revolution“ mit eingeleitet zu haben.5 Bis heute ist der Mainstream der Psychologie nomothetisch, d.h. an der Formulierung und dem Nachweis (ahistorischer) psychologischer „Gesetze“ orientiert. Die Gesellschaft schrumpft auf eine von den Individuen unbeeinflussbare und von der Psychologie nicht modellierbare Restgröße zusammen.
Außerhalb der Universitäten entwickelte der Mediziner Sigmund Freud (1856-1939) anlässlich therapeutischer Probleme die Psychoanalyse und mit ihr die wahrscheinlich einflussreichste psychologische Theorie überhaupt. Der akademische Mainstream steht ihr nach wie vor distanziert gegenüber und hält ihr eine fehlende experimentelle Fundierung vor.6 Allerdings ist auch Freuds Psychoanalyse ahistorisch insofern, als sie die Individuen in immer gleiche Konflikte von Liebe und Hass verstrickt sieht und das Soziale weitgehend mit unmittelbaren Beziehungserfahrungen identifiziert: „Im Seelenleben des Einzelnen kommt (…) der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie…“.7
Die Lektüre des Marx’schen „Kapital“ kann Studierende der Psychologie an einige Tatsachen erinnern, die 150 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes eigentlich selbstverständlich sein sollten. Um „Geschichte machen“ zu können, müssen Menschen geboren, großgezogen und am Leben erhalten werden. Dies geschieht in historisch bestimmten Produktionsverhältnissen und auf einem bestimmten Niveau der Technologie, des Wissens und der natürlichen Bedingungen, mit einem Wort, der Produktivkräfte. Wie ihre Vorgängerinnen, die Sklaverei und die Fronarbeit, beruht auch die von Marx so genannte und heute vorherrschende kapitalistische Produktionsweise in all ihren Varianten auf der Ausbeutung unbezahlter Mehrarbeit und exklusivem Eigentum an den Produktionsmitteln. Die Handelnden reproduzieren „gang und gäbe Denkformen“ (MEW 23, 564), die pragmatisch ausreichend sind, mit denen die kapitalistische Praxis aber nicht wissenschaftlich erklärt werden kann, etwa wenn vom „Wert der Arbeit“ die Rede ist, ein Ausdruck, der den Unterschied verwischt zwischen dem Wertprodukt, das die Arbeitenden herstellen, und dem Wert der Arbeitskraft. Die politisch-ökonomischen Alltagsbegriffe sind von widerstreitenden Interessen bestimmt, wie Marx am Beispiel der gesetzlichen Beschränkung der Kinderarbeit in England erläutert. Die Auseinandersetzung drehte sich seinerzeit „um das Alter der Kategorien, die unter dem Namen Kinder auf 8stündige Arbeit beschränkt und einem gewissen Schulzwang unterworfen worden waren. Nach der kapitalistischen Anthropologie hörte das Kindesalter im 10. oder, wenn es hoch ging, im 11. Jahre auf. Je näher der Termin zur vollen Ausführung des Fabrikakts, das verhängnisvolle Jahr 1836 rückte, umso wilder raste der Fabrikantenmob. Es gelang ihm in der Tat, die Regierung so weit einzuschüchtern, dass sie 1835 den Termin des Kindesalters von 13 auf 12 Jahre herabzusetzen vorschlug. Indes wuchs der pressure from without drohend an. Der Mut versagte dem Unterhause. Es verweigerte, Dreizehnjährige länger als 8 Stunden täglich unter das Juggernaut-Rad des Kapitals zu werfen…“ (ebd., 296f.).
Nach Marx betrachtet auch der wissenschaftliche Mainstream „Arbeitsmittel, wie Baulichkeiten, Maschinerie, Drainierungsröhren, Arbeitsvieh, Apparate jeder Art“ als „in Kapital verkleidet“: „Die praktischen Agenten der kapitalistischen Produktion und ihre ideologischen Zungendrescher sind ebenso unfähig, das Produktionsmittel von der antagonistischen gesellschaftlichen Charaktermaske, die ihm heutzutag anklebt, getrennt zu denken, als ein Sklavenhalter den Arbeiter selbst von seinem Charakter als Sklave“ (ebd., 635). Im Hinblick auf die Entstehung des Kapitalismus, die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“, erzählt die Wissenschaft eine beschönigende Geschichte, die Marx wie folgt karikiert: „In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles, und mehr, verjubelnde Lumpen. (…) So kam es, dass die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut“ (ebd., 741). Aber: „In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. (…) In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch“ (ebd., 742). An dieser Stelle muss man einem heute verbreiteten „linken“ Vorurteil widersprechen. Marx’ „Kapital“ beinhaltet keine krude „Hauptwiderspruchstheorie“. Es geht darin nicht nur um die englische Arbeiterklasse, sondern auch um Rassismus, Kolonialismus, Geschlechterverhältnisse und rücksichtslose Zerstörung der Natur, die aber nicht als isolierte oder „intersektionale“ Phänomene behandelt, sondern im Zusammenhang mit der kapitalistischen Produktionsweise untersucht werden.
Müsste man in einem Satz sagen, was sich für die Psychologie aus dem „Kapital“ lernen lässt, dann wäre es vielleicht dies: Will man menschliches Handeln und Denken, Selbsttäuschungen eingeschlossen, zureichend erklären, dann muss man von den konkreten, historisch entstandenen und weiter veränderbaren gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehen und nicht nur von „Organismen“, Individuen, Kleingruppen oder „Massen“. Gefragt wäre eine Psychologie auf der intellektuellen Höhe des „Kapital“ , die – eines Tages – das Adjektiv „marxistisch“ nicht mehr nötig hat: „Wir werden doch“, heißt es bei Lew Wygotski, „unsere Biologie nicht darwinistisch nennen. Das ist bereits in den Begriff Wissenschaft eingeschlossen. Die Anerkennung der bedeutendsten Konzeptionen gehört einfach dazu. Ein marxistischer Historiker würde niemals den Titel ‚Marxistische Geschichte Russlands’ wählen. Seiner Meinung nach läge das in der Sache selbst. (…) Auch wir müssen die Dinge so sehen.“8
Wer heute an der FU Berlin Psychologie studiert, kommt in Lehrveranstaltungen nicht mehr mit Marx‘ „Kapital“ in Berührung, sondern ist wieder auf entsprechende Angebote in der Philosophie oder auf Lesegruppen außerhalb des Curriculums angewiesen. Das einst am Fachbereich Philosophie angesiedelte Psychologische Institut (PI) wurde 1995 trotz studentischer Proteste mit dem Institut für Psychologie (IfP) des Fachbereichs Erziehungswissenschaften fusioniert. Das IfP hatte im Gegensatz zum PI keinen vergleichbaren Demokratisierungsprozess durchgemacht und blieb streng dem Mainstream verpflichtet. Der Zeitpunkt war günstig gewählt: Nach dem Ende der DDR stand praktisch jede Kritik am Kapitalismus unter Diktaturverdacht. Der hervorragendste Vertreter des PI, Klaus Holzkamp (1927-1995), war emeritiert (siehe den Beitrag von Morus Markard im vorliegenden Heft). Das Tutorienmodell überlebte in reduzierter Form noch ein paar Jahre, im Zuge des „Bologna-Prozesses“ wurde der Studiengang später auf das Bachelor-Master-System umgestellt.
Klagen von Lehrenden, Studierende würden nicht mehr lesen, sind heute verbreiteter denn je. Indes hat sich der Kapitalismus als nicht so krisenfest, demokratisch und segensreich erwiesen, wie es vielen 1990 und unmittelbar danach erschien. Was ihre Grundlagen betrifft, hat die Psychologie keine bedeutenden Fortschritte zu verzeichnen. Wie wäre es, zwecks gesellschaftstheoretischer Grundlegung für den Anfang mit einem gut bezahlten autonomen „Kapital“-Tutorium an jedem Psychologie-Studiengang der Republik zu beginnen?
1 Hermann Ebbinghaus, Abriss der Psychologie, Leipzig 1908, S. 1 und 10.
2 Vgl. Eric Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875-1914, Frankfurt/M.2004, S. 338ff.
3 Alfred Binet, Les Idées modernes sur les enfants, Paris 1909, S. 141.
4 John B. Watson, Psychology as the Behaviorist Views it. In: Psychological Review, 20, 1913, S. 158-177.
5 Noam Chomsky, A Review of B. F. Skinner’s Verbal Behavior. In: Language, 35 (1) 1959, S. 26-58.
6 Kritisch dazu: Marie Jahoda, Freud und das Dilemma der Psychologie. Frankfurt/M. 1985.
7 Freud, Sigmund, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Wien 1921, S. 1.
8 Lew Wygotski, Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung [1927]. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Berlin 1985, S. 274.