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Gewerkschaftliche Modernisierung

Anmerkungen zu einer neuen Gewerkschaftsstudie

März 2012

Dass sich die Gewerkschaften in Deutschland – und nicht nur hier – in der Defensive befinden, dass ihre Mobilisierungskraft schwindet und ihre Mitgliederzahlen schrumpfen, ist keine neue Erkenntnis, sondern spiegelt eine Entwicklung wider, die seit langem andauert und in der Erforschung der industriellen Beziehungen schon früher ausführlich behandelt wurde.

Umso mehr Interesse ruft der von Thomas Haipeter und Klaus Dörre herausgegebene Sammelband über gewerkschaftliche Modernisierung hervor, setzt er sich doch nicht nur mit Erscheinungen der Erosion gewerkschaftlicher Organisationsmacht und Handlungsfähigkeit auseinander. Vielmehr untersucht er vor allem Prozesse und Aktivitäten, die eine Rück- oder besser Neugewinnung gewerkschaftlicher Gestaltungskompetenz und Konfliktbereitschaft als zwar schwierig, aber nicht unmöglich erscheinen lassen. Thomas Haipeter hat das in seiner Einführung zum Ausdruck gebracht, indem er der „Erschöpfungsthese“ mit dem Hinweis auf weiterhin vorhandene Handlungsmöglichkeiten der kollektiven Akteure widerspricht.

Der Sammelband umfasst drei Teile. Im ersten und längsten Teil werden vor allem „Erneuerungsansätze in der Metall- und Elektroindustrie“ untersucht, im zweiten Teil richtet sich der Fokus auf Zusammenhänge zwischen gewerkschaftlichem Handeln, Arbeitskonflikten und prekären Beschäftigungsverhältnissen und der dritte Teil besteht aus einem Beitrag von Klaus Dörre über den Funktionswandel der Gewerkschaften.

Alle Beiträge gehen von der aktuellen Defensivposition der Gewerkschaften aus, die durch ökonomische Krisenfolgen, den Verlust kollektiver Interessenorientierung vieler Beschäftigter und Deregulierung der Arbeitsbeziehungen geprägt ist. Gleichzeitig versuchen die Autorinnen und Autoren aber auch, die Möglichkeiten einer gewerkschaftlichen „Revitalisierung“ zu untersuchen und Merkmale eines neuen, den veränderten Bedingungen entsprechenden modernen Organisationsbildes der Gewerkschaften zu beschreiben.

Erneuerungsansätze

Zunächst fragt Thomas Haipeter nach den „Modernisierungschancen“ bei Tarifabweichungen, die seit einigen Jahren zu einer typischen Form der Tarifpolitik geworden sind. Damit verweist er auf ein Dilemma, das nur deshalb entstehen konnte, weil die Bedingungen für eine offensive Lohn- und Arbeitspolitik in der postfordistischen Phase des deutschen Kapitalismus heute nicht mehr gegeben sind. Nur wenn man diese Tatsache nicht beschönigt, sondern sie wie Haipeter illusionslos registriert, ist es gerechtfertigt, die gewerkschaftliche und betriebsrätliche Praxis bei Tarifabweichungen unter dem Gesichtspunkt zu analysieren, ob sich auch hier Ansätze für eine relative Stärkung kollektiver Interessenvertretung entdecken lassen. Nahezu ausschließlich gehen Tarifabweichungen auf Initiativen des Managements zurück und werden von Drohszenarien wie Betriebsschließungen oder Standortverlagerungen begleitet, so dass Gewerkschaften und Betriebsräte von vornherein zu einem reaktiven Handeln gezwungen werden. Dessen Erfolgschancen werden ebenfalls von vornherein dadurch reduziert, dass die Ergebnisse von Tarifabweichungen immer hinter tarifvertragliche Standards zurückfallen. Dennoch gibt es, wie Haipeter zeigt, Gründe dafür, Prozesse der Tarifabweichung darauf hin zu untersuchen, ob sie die Handlungsbereitschaft der Betroffenen positiv beeinflussen können und welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen. Ein erstes wesentliches Ergebnis seiner Studie besteht in dem Nachweis, dass Betriebsräte beim Aushandeln von Tarifabweichungen dem Management gegenüber eine spürbare Aufwertung erfahren können, indem sie als Akteure auf „gleicher Augenhöhe“ wahrgenommen werden. Allerdings wäre diese Aufwertung ohne aktive Kooperation mit den Gewerkschaften und deren Unterstützung bei der wirtschaftlichen Situationsanalyse und Entwicklung von Handlungsstrategien sowie ohne die Verhandlungskompetenz gewerkschaftlicher Experten nicht möglich. Damit liefert Haipeter ein wichtiges Argument gegen die auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung über industrielle Beziehungen verbreitete Annahme eines Funktionsverlustes der Gewerkschaften gegenüber den Betriebsräten. Als zweites Ergebnis ist der Befund hervorzuheben, dass sowohl die Akzeptanz als auch der Rückhalt in den Belegschaften bei Tarifabweichungen in hohem Maß davon abhängt, ob und in welcher Weise die Beschäftigten in den Prozess der Aushandlung eingebunden werden. Die in der wissenschaftlichen Diskussion der 1990er Jahre gelegentlich ziemlich abstrakten Vorstellungen über „Diskursgewerkschaften“ oder „Beteiligungsgewerkschaften“ erscheinen unter den heutigen Bedingungen in einem neuen Licht und nehmen in den von Haipeter dargestellten Beispielen konkretere Formen der Partizipation an (51f.). Eine neue „betriebsnahe Tarifpolitik“ und eine beteiligungsorientierte Verhandlungskultur können aber nur dann eine für die beschäftigten positive Wirkung entfalten, wenn die Akteure, wie Haipeter zu Recht betont, nicht die Augen vor den gewerkschaftsfeindlichen Realitäten in zahlreichen Unternehmen verschließen.

Wie Gewerkschaften und Betriebsräte durch eine innovative Arbeitspolitik Einfluss auf die Entwicklung in den Betrieben nehmen können, ist Thema des Beitrags von Antonio Brettschneider, Tabea Bromberg und Thomas Haipeter, der von Szenarien der Standortverlagerung, des Outsourcing und des Personalabbaus ausgeht, um die Chancen einer innovativen Arbeitspolitik zu erkunden. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit der AutorInnen auf den Kampagnencharakter gewerkschaftlicher Initiativen, wie sie beispielsweise von der IG Metall in NRW unter der Losung „Besser statt billiger“ ergriffen wurden. Erstaunlicherweise bewähren sich in den von ihnen berücksichtigten Fällen eher die Betriebsräte als die eigentlichen Promotoren von Innovation, zu der Geschäftsleitungen und Management, fixiert auf Strategien des short terminism und der Renditenerhöhung, offensichtlich häufig selbst nicht mehr in der Lage sind. So gelang es Betriebsräten, gegen alle betriebswirtschaftlichen Dogmen Lösungen vorzuschlagen, deren Realisierung nicht nur den Interessen der Beschäftigten an „guter Arbeit“ entsprach, sondern auch wirtschaftlicher Waren als die Kostensenkungsprogramme der Manager. Allerdings bedürfen selbst bescheidene Fortschritte einer innovativen Arbeitspolitik nicht nur unverhältnismäßig großer Anstrengungen, sondern können auch die strukturellen Risiken eines Arbeitsplatzverlusts, des Lohndumpings und der Standortpolitik nicht aufheben. Das wird zwar von den AutorInnen angesprochen, hätte aber noch dezidierter herausgearbeitet werden können.

Einer ähnlichen Thematik widmet sich der Beitrag von Steffen Lehndorff, in dem ebenfalls die gewerkschaftliche Innovationskampagne „Besser statt billiger“ im Mittelpunkt steht. Analytisch sind die Ausführungen von Lehndorff vor allem deshalb interessant, weil er diese Kampagne in den Diskurs über gewerkschaftliche „Revitalisierung“ einzuordnen versucht. Anknüpfend an die Erfahrungen mit dem „Organizing“-Konzept in den USA und Großbritannien und auf die von Klaus Dörre getroffene begriffliche Unterscheidung zwischen „Bewegungs“-, „Beteiligungs“- und „Kampagnengewerkschaft“ zurückgreifend, stellt Lehndorff fest, dass Beteiligung die entscheidende Voraussetzung für Erfolge der „Besser statt billiger“-Initiative zu sein scheint. Allerdings gilt das nur, sofern Beteiligung nicht in ein Co-Management der Betriebsräte umschlägt, das sich die Ziele der Unternehmensleitungen auf seine Fahnen schreibt. Dieser Problematik ist sich Lehndorff durchaus bewusst. Die von ihm angeführten Beispiele machen deutlich, dass „Besser statt billiger“ vor allem dann seinen Zweck erfüllt, wenn durch Einbeziehung der Belegschaften ein Druckpotenzial aufgebaut wird, das es Unternehmer und Management geraten sein lassen kann, auf reine „Billiger“-Lösungen zu verzichten. Obwohl „Besser statt billiger“ bewusst auf Beteiligung setzt, sollte der Ansatz der „Beteiligungsgewerkschaft“ nach Lehndorffs Auffassung nicht gegen die anderen Ansätze von „Bewegungs-“ und „Kampagnengewerkschaften“ ausgespielt, sondern als Mittel genutzt werden, um die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten durch deren „Verzahnung“ (110) zu ersetzen.

Wolfgang Nettelstroth, Gabi Schilling und Achim Vanselow befassen sich ebenfalls mit der gewerkschaftlichen Modernisierungskampagne der IG Metall in NRW. In ihren anwendungsorientierten Ausführungen plädieren sie, ähnlich wie Lehndorff, für ein Engagement von Betriebsräten, das sich nicht in Co-Management erschöpft, sondern „alternative Entscheidungsoptionen“ (121) stärkt. Dabei verschweigen die AutorInnen nicht, dass ein solches Engagement mit Risiken behaftet ist, weil die definitiven Ergebnisse bestimmter Handlungen und Optionen oft nicht sicher vorausgesagt werden können.

Den Möglichkeiten, „Revitalisierung“ durch Arbeitspolitik zu fördern, wenden sich Detlef Gerst, Klaus Pickshaus und Hilde Wagner, alle MitarbeiterInnen beim Vorstand der IG Metall, zu. Sie diskutieren die von der IG Metall ins Leben gerufene Initiative „Gute Arbeit“, die auf arbeitszeit- und leistungspolitische Verbesserungen der durch Krise und finanzmarktgesteuerte Profitstrategien belasteten Arbeitsbedingungen zielt. Um die Frage beantworten zu können, welchen Beitrag „Gute Arbeit“ zur Stärkung gewerkschaftlicher Machtressourcen leisten kann, greifen die Autoren auf die in der Literatur genannten Quellen und Komponenten gewerkschaftlicher Macht zurück, nämlich auf „ökonomische (strukturelle) Macht“, „Organisationsmacht“, „institutionelle“ und „kommunikative Macht“ (142). Während sie für die drei letzteren Machtquellen Beispiele nennen, die eine positive Wirkung von „Gute Arbeit“ belegen, fehlt eine Bezugnahme auf „ökonomische Macht“. Gibt es hier keinen empirisch nachweisbaren Zusammenhang mit „guter Arbeit“? Bleibt „Gute Arbeit“ als „ökonomische Machtquelle“ wirkungslos? Anschließend skizzieren die Autoren wesentliche Gesichtspunkte einer „kreativen Arbeitspolitik“ und einer „neuen Leistungspolitik“, die den veränderten Anforderungen an die Beschäftigten im Zeichen von Flexibilisierung und Subjektivierung der Arbeit Rechnung tragen kann. Welche institutionellen Maßnahmen die IG Metall ergriffen hat und welche Unterstützungsangebote sie macht, um ihre arbeitspolitischen Vorstellungen umsetzen zu können, wird anhand der Themenfelder „Produktionssysteme“ und „Innovation“ konkretisiert. Zu Recht weisen die Autoren darauf hin, dass „innovative Arbeit“ keineswegs auch immer „gute Arbeit“ ist und eine Begrenzung von Arbeitspolitik auf die betriebliche Ebene kurzschlüssig wäre; denn eine Realisierung von „guter Arbeit“ ohne „Stärkung des politischen Mandats der Gewerkschaften“ und ohne „flankierende Politik“ (161) sei letztlich nicht möglich. Ungeachtet seiner Vorzüge ist dem Beitrag anzumerken, dass die Vielzahl der erwähnten Initiativen mit ihren jeweiligen institutionellen Anbindungen manchmal etwas unübersichtlich dargestellt wird.

Problembereiche gewerkschaftlicher Arbeit

Während die bisherigen Beiträge sich auf Branchen und Betriebe konzentrieren, in denen die Gewerkschaften noch immer relativ gut verankert sind und die Betriebsräte über eine gewisse Verhandlungsmacht verfügen, geht es im zweiten Teil des Sammelbandes um Bereiche abhängiger Arbeit, in denen Prekarität, Überausbeutung und Unternehmerwillkür an der Tagesordnung sind. Aber gerade diese Bereiche drohen die Zukunft der Arbeit zu determinieren, falls eine Revitalisierung der Gewerkschaften scheitern sollte.

Hajo Holst und Ingo Matuschek wenden sich der Frage zu, wie Interessenvertretungen und Stammbelegschaften auf das Problem der Leiharbeit reagieren, die bekanntlich während der letzten Jahre rasch zugenommen hat. Ausgehend von zwei unterschiedlichen Diskursen über Leiharbeit, einem „ökonomischen“ und einem „Prekarisierungsdiskurs“ (169) und der Unterscheidung zwischen „exklusiver“ und „inklusiver Solidarität“ stellen die Autoren auf der Basis einer empirischen Fallstudie und umfangreicher quantitativer Erhebungen die Einstellungen von Stammbeschäftigten zur Leiharbeit dar. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass sich, forciert durch Krisenerfahrung, eine „Verbetrieblichung des Arbeitsbewusstseins“ abzeichnet, die einen hohen Grad der Identifikation mit dem eigenen Betrieb bzw. Standort und, daraus hervorgehend, Merkmale einer „kompetitiven Solidarität“ (173f.) beinhaltet. Damit ist eine Verknüpfung von „solidarischer Gleichbelastung“ und Leistungsanforderungen an den Einzelnen gemeint. Zwar nehmen die Stammbeschäftigten durchaus wahr, dass Leiharbeiter besonders benachteiligt sind, fühlen sich aber gleichzeitig von ihnen bedroht. Obwohl ihnen bewusst ist, dass es sich bei Leiharbeitern um „Arbeitnehmer 2. Klasse“ (181) handelt, folgt daraus keine aktive Solidarisierung. Auch wollen viele Beschäftigte einen mehr oder weniger großen betriebswirtschaftlichen Nutzen im Einsatz von Leiharbeit erkennen, was die Tendenz zu „kompetitiver“ und „exklusiver Solidarität“ begünstigt. Elemente des „ökonomischen“ und des „Prekarisierungsdiskurses“ vermischen sich also, wie die Autoren differenziert empirisch nachweisen, in der subjektiven Einstellung der Befragten zur Leiharbeit. Mit diesem Befund korrigieren die beiden Verfasser vereinseitigende und vereinfachende Deutungen des Bewusstseins von abhängig Beschäftigten.

Anknüpfend an amerikanischen Erfahrungen des „Organizing“ und „Comprehensive Campaign“ vergleicht Sarah Bormann gewerkschaftliche Versuche, bei Schlecker und Lidl Fuß zu fassen. Damit stößt sie gewissermaßen in die Höhle des Löwen kapitalistischer Ausbeutung in Deutschland vor. Bekanntlich handelt es sich bei Schlecker und Lidl um einen Unternehmenstyp, bei dem miserable Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und despotische Führungsmethoden zum Alltag gehören. Die Verfasserin arbeitet überzeugend heraus, warum die Kampagne bei Schlecker 1994/95 relativ erfolgreich war (Gründung von Betriebsräten, Ansteigen der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft), bei Lidl (seit Ende 2004) dagegen im Wesentlichen scheiterte. Für diesen Unterschied werden u.a. folgende Gründe genannt: Bei Schlecker entwickelte sich früh ein enger Kontakt der Gewerkschaften zu den Beschäftigten, dort wurden die außerbetrieblichen Bündnispartner in gewerkschaftliche Ziele eingebunden und dort verstärkte die starre Haltung des Managements den Widerstandswillen der Belegschaft. Dagegen verhielt sich das Management bei Lidl anpassungsfähig. Außerdem fehlte es hier in der Belegschaft an Akzeptanz für die Gewerkschaften, und die praktizierte Strategie ließ die Kampagne als von außen gesteuert erscheinen. Im Ausblick ihrer gelungenen Studie hebt die Verfasserin hervor, dass der Erfolg von Kampagnen wie bei Schlecker und Lidl wesentlich davon abhängt, inwieweit die Akteure einen „verstehenden Ansatz“ praktizieren, der den subjektiven Erfahrungen und Erwartungen der Beschäftigten einen zentralen Stellenwert gibt.

Mit einer ähnlichen Problematik wie Sarah Bormann setzt sich Ingrid Artus auseinander, wenn sie danach fragt, wie die Bedingungen und Perspektiven gewerkschaftlicher Interessenvertretung im Niedriglohnsektor einzuschätzen sind. Sie konkretisiert ihre Überlegungen am Beispiel des Versuchs der französischen Gewerkschaft CGT den Aufenthaltsstatus von (meist immigrierten) „Travailleurs sans papiers“ (Beschäftigte ohne Papiere, also vor allem ohne Aufenthaltsgenehmigung) rechtlich zu regeln und ihnen so einen normalen Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen. Ihre zentrale These, dass die Schwierigkeiten der Gewerkschaften, sich im Niedriglohnsektor zu verankern, vor allem auf eine „kulturelle Kluft“ zwischen dem traditionellen Profil der deutschen Gewerkschaften (nämlich männlich, industriell und großbetrieblich geprägt) und den konkreten Arbeitsverhältnissen der im Niedriglohnsektor Beschäftigten zurückführen lasse, stützt sie vor allem auf zwei Befunde: einerseits auf die Tatsache „starker Fragmentierung“ (210) und andererseits auf die Existenz eines besonders ausgeprägten „Machtungleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit“ (211) im Niedriglohnsektor. Dass es dennoch in diesem Bereich zu Initiativen gewerkschaftlicher Organisierung kommen kann, bezeichnet Artus in bewusster Verfremdung als „Verrücktheit“, also als Paradoxie, die allerdings nur dann möglich sei, wenn Machtungleichgewichte noch gewisse minimale Handlungsspielräume (etwa aufgrund der Qualifikation) zuließen.

Der zweite Teil des Sammelbandes wird durch einen informativen Überblick über das Verhältnis von Streiks und gewerkschaftlicher Organisierung von Heiner Dribbusch ergänzt. Zwar können Streiks, so der Autor, eine „wichtige Rolle als Katalysator“ (241) für die Entwicklung gewerkschaftlicher Mitgliedschaft spielen, aber ein Automatismus lasse sich weder in die eine oder andere Richtung feststellen. So habe beispielsweise die frühere IG Druck und Papier in der Zeit zwischen 1965 und 1985 trotz intensiver Streiktätigkeit Mitglieder verloren, während Gewerkschaften wie die frühere HBV und die GEW auch ohne nennenswerte Streiks in erheblichem Umfang Mitglieder dazu gewannen (247). Es ist dem Autor einerseits zuzustimmen, wenn er betont, dass abhängig Beschäftigte zu Streiks im Allgemeinen ein pragmatisches Verhältnis haben und ihn nur als ultima ratio der Interessenverteidigung betrachten. Damit grenzt er sich ganz zu Recht von aktionistischen Streikdeutungen ab. Andererseits wirft seine Einbeziehung von Berufsverbänden wie dem Marburger Bund in seine Darstellung gewerkschaftlicher Streikentwicklung die Frage auf, ob sich Verbände wie der Marburger Bund oder die Vereinigung Cockpit mit ihrer überwiegend berufsegoistischen Orientierung tatsächlich schon auf dem Weg zu einer „Vergewerkschaftlichung“ befinden, wie Dribbusch anzunehmen scheint.

Funktionswandel der Gewerkschaften

Mit einem brillanten Beitrag von Klaus Dörre, der sich als einer der profiliertesten gesellschafts- und kapitalismuskritischen Soziologen in Deutschland inzwischen einen Namen gemacht hat, schließt der Sammelband ab. Auch Dörre bezieht seine Überlegungen auf den Kontext der „Labour Revitalization Studies“ (268), indem er sich mit der in Deutschland gehegten Hoffnung sowohl von Politikern als auch Wissenschaftlern auseinandersetzt, dass die deutschen Gewerkschaften und der für sie charakteristische Typ korporatistischer industrieller Beziehungen erfolgreich aus der gegenwärtigen Krise hervorgegangen seien und deshalb neuer Impulse durch „Organizing“ oder „Social Movement Unionism“ gar nicht bedürften. Dem widerspricht Dörre mit der Behauptung, dass die sich gegenwärtig unter den Bedingungen von Prekarisierung und Arbeitsmarktsegmentierung abzeichnenden Formen des Korporatismus etwas qualitativ Anderes seien als der Korporatismus der fordistischen Prosperitätsperiode. Die tiefgreifende Veränderung dieses durch das Zusammenspiel von Gewerkschaften, Unternehmern und Staat geprägten Korporatismus könne das vor allem von Walther Müller-Jentsch vertretene, im sozialwissenschaftlichen Diskurs über industrielle Beziehungen lange Zeit einflussreiche Konzept der Intermediarität nicht mehr angemessen erfassen.

Zunächst beschreibt Dörre konstitutive Merkmale dieses Konzepts der Gewerkschaften als „intermediärer Organisationen“, das eine Verlagerung von einem ehemals „klassenbasierten Doppelcharakter“ der Gewerkschaften zu einer Mittlerrolle zwischen Kapital und Arbeit beinhalte. (Wenn Dörre in diesem Zusammenhang das Verhalten der französischen Gewerkschaften im Mai 1968 als Beispiel für ein „Bremsen“ der „radikalisierten Basis“ erwähnt, so ist das allerdings nicht ganz zutreffend. Die „Basis“ der französischen Gewerkschaften war zwar in hohem Maße politisiert, aber nur eine Minderheit war radikalisiert. Selbst in Hochburgen der linken Industriearbeiter wie etwa bei Renault unterstützten die Belegschaften entschieden den Kurs der dort führenden Gewerkschaft CGT).

Nach Auffassung von Dörre kennzeichnen u.a. „Wandel der Organisationsformen“, „Differenzierung zwischen betrieblicher und sektoraler Interessenpolitik“ und die Instrumentalisierung der Gewerkschaften als wirtschaftspolitischer Ordnungsfaktor den Übergang zum Typ der „intermediären Gewerkschaft“. Obwohl Dörre konzediert, dass der Ansatz der „intermediären Gewerkschaften“ die Transformation von Organisationsmacht in institutionelle Macht sehr klar beschrieben habe, weise er ein gravierendes Defizit auf. Es bestehe im Verzicht auf eine Perspektive, die den Fokus auf die Widersprüchlichkeit von Integrationsprozessen und den „Eigensinn“ der Gewerkschaftsmitglieder richtet. Letztlich mache der intermediäre Ansatz die Gewerkschaften so zu Stützen eines wohlfahrtsstaatlich temperierten Kapitalismus (275). Gegen das intermediäre Konzept setzt Dörre seinen eigenen Ansatz, der im Wesentlichen auf dem Begriff der Machtressourcen beruht („Jenaer Machtressourcen-Ansatz“). Darunter sind vor allem die sich aus der Position der Lohnabhängigen objektiv ergebende „strukturelle Macht“, die „Organisationsmacht“ und die weitgehend rechtlich festgeschriebene „institutionelle Macht“ (277) zu verstehen. Damit glaubt Dörre die Veränderungsdynamik der Gewerkschaften besser erfassen zu können als der organisationszentrierte- und wenn man so will – eher statische Ansatz der Intermediarität. Es gehört zu den zahlreichen bemerkenswerten Aspekten seines Beitrags, dass er, bedingt durch die Krise der Finanzmärkte, eine selbstkritische Umakzentuierung des „Jenaer Machtressourcen-Ansatzes“ vornimmt. Das veranlasst ihn im Folgenden zu einer Analyse der gegenwärtigen gewerkschaftlichen Entwicklung als einer Erosion von Machtressourcen, die sowohl die Unhaltbarkeit des intermediären Ansatzes belegt als auch den Revitalisierungsoptimismus erheblich dämpft. Dörre gelangt nämlich zu der Erkenntnis, dass die durch die Krise enorm verschärften Bedingungen der Lohnarbeit – namentlich durch Prekarisierung und soziale Konkurrenz – als Treibsatz einer Entwicklung wirken, die von einer Tendenz zur „fraktalen Organisation“ dominiert wird. Das bezieht er auf eine heterogene Interessenkonstellation der abhängig Beschäftigten und ihrer gewerkschaftlichen Repräsentanz, die nicht mehr durch ein Gravitationszentrum zusammengeführt wird, sondern sich zu neokorporatistischen „fraktalen“ Formen verselbständigt. Fraktale Formen mögen zwar geeignet scheinen, die Interessen bestimmter Gruppen – etwa der Stammbelegschaften in exportorientierten Großbetrieben – kurzfristig zu bedienen, vermögen aber, so Dörre, gesamtgesellschaftlich keinen relevanten Einfluss mehr zu entfalten. Dieser realistischen Diagnose, die gleichwohl keinen Verzicht auf die Überwindung fraktaler Zersplitterung impliziert, kann der Rezensent nur zustimmen. Das gilt auch für Dörres Schlussfolgerung, dass die heute entstehenden Probleme und Szenarien sich mit Hilfe des intermediären Ansatzes nicht mehr erklären lassen, sondern eine Forschungsperspektive erfordern, die sich weder den Realitäten des Funktionswandelns noch der Notwendigkeit verschließt, die Möglichkeiten neuer Machtquellen wie der „kommunikativen Macht“ durch Einbeziehung der Akteure auszuloten. Dass dabei der Heterogenität des Arbeitsbewusstseins Rechnung getragen werden müsse, kann der Rezensent nur unterstreichen.

In der exzellenten Analyse bedürfen vielleicht jene Stellen einer Diskussion, wo Dörre mit Begriffen wie Klasse, Klassenhandeln und Klassenkonflikt arbeitet; denn es ist durchaus fraglich, ob damit die Komplexität sozialer Gegensätze und Spaltungen im heutigen Kapitalismus noch oder zumindest gegenwärtig zutreffend beschrieben werden können. Auch der positive Bezug auf die pragmatistische „Soziologie der Kritik“ von Luc Boltanski am Ende leuchtet nicht ganz ein; denn im Unterschied zu Dörre bleiben die strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen der Akteure bei Boltanski unterbelichtet. Das gilt insbesondere für die Zusammenhänge zwischen den konkreten Formen der Kapitalbewegung und konkretem Handeln der Akteure.

Insgesamt gesehen ist den Herausgebern und AutorInnen ein höchst informativer, problembewusster, analytisch produktiver Überblick über Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten erfolgreicher gewerkschaftlicher Modernisierung gelungen. Das Buch verdient die Aufmerksamkeit aller, die an der Entwicklung konflikt- und handlungsfähiger Gewerkschaften unter den Bedingungen des heutigen Kapitalismus interessiert sind.

* Thomas Haipeter, Klaus Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, VS Verlag, Wiesbaden 2011, 304 S., 34.95 Euro.