Obwohl der erste Band des „Kapital“, der 1867 erschien, erst 1936, 69 Jahre nach seiner Veröffentlichung, vollständig ins Chinesische übersetzt wurde, gilt dieses große Werk in China als eine der meist übersetzten, gelesenen und untersuchten Schriften der Begründer des Marxismus.
I. Vier Perioden der Übersetzung des „Kapital“ in China[1]
1. 1899–zirka 1920
Während Marx sich mit seinem „Kapital“ beschäftigte, geriet China unter den brutalen Aggressionen der westlichen kapitalistischen Mächte und der korrupten Herrschaft der feudalistischen Qing-Dynastie (1636–1912) in den Status einer halbkolonialen und halbfeudalen Gesellschaft. Um das Land vor dem Untergang zu retten, fingen weitsichtige Chinesen an, „vom Westen zu lernen“. Ende des 19. Jahrhunderts entfesselten die imperialistischen Mächte einen großen Sturm, um China unter sich aufzuteilen. In dieser kritischen Situation wurden der Name Marx und der Titel von „Das Kapital“ in China eingeführt. Anfang 1899 übertrugen der britische baptistische Missionar Timothy Richard (1845–1919) und sein chinesischer Sekretär Cai Erkang (1851–1921) das Buch „Social Evolution“ des britischen Soziologen Benjamin Kidd (1858–1916) ins Chinesische unter dem Titel „Theorie der Großen Harmonie“ („Datong Xue“). Die ersten vier Kapitel dieses Buches erschienen in der Zeitschrift „Multinational Communique“ („Wanguo Gongbao“), die von der „Gesellschaft der Christlichen Literatur für China“ herausgegeben wurde. Im ersten Kapitel, das im Februar 1899 im Bd. 121 erschien, hieß es: „Ein Mann, der als Führer von Millionen Arbeitern bekannt ist, ist der Engländer Marx.“ Dies war das erste Mal, dass der Name Marx in der chinesischen Presse auftauchte. Die Übersetzung des dritten Kapitels wurde im April 1899 im Bd. 123 veröffentlicht und lautete: „Untersucht man die verschiedenen Lehren der Neuzeit, dann ist eine Schule zur Frage der Volksmassen zu erwähnen, nämlich die von Marx aus Deutschland, der ,Das Kapital‘ verfasste.“[2] Man kann sagen, dies ist das erste Mal, dass der Titel des „Kapital“ in einer chinesischen Publikation erschien.
Von da an wurden Marx und sein „Kapital“ ständig von bürgerlich-demokratischen Persönlichkeiten in verschiedenen Publikationen erwähnt, jedoch relativ kurz und einfach. Im Jahr 1912 analysierte Sun Yat-sen (1866–1925), der Gründer der Republik China (1912–1949), die Standpunkte des „Kapital“ in einer Rede vor der Sozialistischen Partei Chinas in Shanghai. Er wies darauf hin, dass „Marx’ ,Kapital‘ für das Gemeineigentum des Kapitals steht.“[3] Sun, der die Theorie von Marx als die Grundlage des westlichen Sozialismus betrachtete, meinte, dass sich Marx’ Theorie der Lage Chinas nicht anpasse.
„Das Geschütz der Oktoberrevolution brachte uns den Marxismus-Leninismus.“[4] Die im Oktober 1917 in Russland ausgebrochene sozialistische Revolution inspirierte das Proletariat sowohl in den westlichen Ländern als auch in den östlichen unterdrückten Nationen. In China tauchten zahlreiche Schriften und Übersetzungen auf, die den Marxismus und „Das Kapital“ propagierten und erforschten. Einer der hervorragenden Verbreiter des Marxismus in diesem Zeitraum war Li Dazhao (1888–1927), Mitbegründer der im Juli 1921 gegründeten Kommunistischen Partei Chinas, später durch die reaktionäre Regierung grausam erhängt. Er verfasste zwei berühmte Artikel: „Meine marxistische Auffassung“ (in „Neue Jugend“ [„Xin Qingnian“], Bd. 6, Nr. 5, 6) und „Die ökonomischen Lehren von Marx“ (in der Beilage des „Morgen Blatt“ [„Chenbao“], 19. Februar 1922), wo er die historische Stellung der marxistischen Ökonomie und wichtige Inhalte des „Kapital“ erörterte sowie die Theorien des historischen Materialismus, des Klassenkampfes, des Mehrwerts, des Kapitals, der Produktionspreise sowie des allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation vorstellte. Li war die erste Persönlichkeit, die gewissenhaft das „Kapital“ studierte und versuchte, dessen Grundsätze in China anzuwenden.
Vom 2. Juni bis 11. November 1919 veröffentlichte Chen Puxian (1891–1957) in der Beilage des „Morgen Blatt“ eine Übersetzung von „Karl Marx’ ökonomischen Lehren“ von Karl Kautsky (1854–1938) auf der Grundlage der japanischen Übersetzung von Motoyuki Takabatake (1886–1928); diese Serie wurde im September 1920 als Buch publiziert. Dies war die erste chinesische Publikation, die speziell das „Kapital“ interpretierte. Alle diese Publikationen waren hilfreich, die Theorien des „Kapital“ in China zu popularisieren.
2. 1920–1949
Für die Verbreitung des Marxismus ist das Jahr 1920 von Bedeutung, insofern in diesem Jahr die erste vollständige chinesische Übersetzung des „Manifests der Kommunistischen Partei“ erschien. Zuvor waren bereits etliche Teil-Übersetzungen verschiedener Schriften von Marx veröffentlicht worden.
Das Jahr 1920 ist jedoch auch wichtig für die Verbreitung des „Kapital“ in China. Im März dieses Jahres gründeten 19 Studenten, die an den Kommunismus glaubten, an der Beijing Universität die „Gesellschaft zur Erforschung der Lehre von Marx“, deren Übersetzungsgruppe mit Hilfe von Li Dazhao und Chen Qixiu (1886–1960), der Professor der Ökonomie jener Universität war und später Mitglied der KPCh wurde, „Das Kapital“ ins Chinesische auf der Grundlage einer deutschen Ausgabe übersetzte. Dies war vermutlich die erste vollständige chinesische Übersetzung des „Kapital“ in China, aber leider wurde das Manuskript nicht überliefert.
Im Oktober 1920 veröffentlichte Fei Juetian (Geburts- und Todesjahr unbekannt) die chinesische Übersetzung des Vorworts zur ersten Auflage des ersten Bandes des „Kapital“ in der Shanghaier Monats-Zeitschrift „National“; dies könnte die erste chinesische Teil-Übersetzung des „Kapital“ gewesen sein. Gleichzeitig erschienen auch chinesische Übersetzungen anderer einzelner Kapitel.
Im März 1930 ließ Chen Qixiu seine Übersetzung des 1. Abschnitts „Ware und Geld“ aus dem I. Band des „Kapital“ auf Basis der Volksausgabe von Kautsky (8. Auflage von 1928) als Heft I (es blieb dies das einzige Heft) durch die Shanghai Kunlun-Buchhandlung herausgeben. Das ist die erste chinesische Ausgabe eines ganzen Abschnitts des „Kapital“ in China. Eigentlich hatte Chen vor, seine Übersetzung des ersten Bandes in 10 Heften zu veröffentlichen, jedoch konnte er unter den damaligen schwierigen Bedingungen seinen Plan nicht verwirklichen. Danach setzte ein anderes Mitglied der KPCh, Pan Dongzhou (1906–1935), die Übersetzungsarbeit fort und veröffentlichte Heft II (Abschnitt 2 und Abschnitt 3) und Heft III (Abschnitt 4) jeweils im August 1932 und Januar 1933 im Beijing Ostasien-Verlag. Pan konnte seine Arbeit auch nicht vollenden, er wurde von der Kuomintang (Nationale Partei) 1935 ermordet. Inzwischen veröffentlichten Wu Bannong (1905–1978) und Qian Jiaju (1909–2002) im Mai 1934 im Handelsverlag in Shanghai ihre Übersetzung des 1. und 2. Abschnitts des I. Bandes des „Kapital“ auf der Grundlage der englischen Ausgabe von Eden & Cedar Paul im Jahre 1928.
Die erste vollständige chinesische Übersetzung des I. Bandes des „Kapital“ ist erst durch den Ökonomen Wang Shenming (Wang Sihua) (1904–1978) und den Historiker Hou Wailu (1903–1987) realisiert worden. Die beiden wurden von Li Dazhao beeinflusst und traten danach in die KPCh ein. Hou begann seine Übersetzung 1928, und seit 1932 arbeitete er mit Wang zusammen. Die 4. deutsche Auflage des I. Bandes des „Kapital“ wurde als Vorlage gewählt. Ihre Übersetzung erschien zuerst in 3 Heftlieferungen: Heft I (Abschnitt 1 bis Abschnitt 3 des Kapitels 7) im September 1932 durch die Beijinger Internationale Gesellschaft, Heft II (Abschnitt 3 die Kapitel 8 und 9 und Abschnitt 4) und Heft III (Abschnitte 5–7) im Juni 1936 durch den Übersetzungsverein von Welt-Klassikern. Gerade in jenem Monat wurden auch alle drei Hefte veröffentlicht. Ende 1932 wurde Hou durch die Beijinger Kuomintang-Regierung verhaftet und ins Gefängnis geworfen wegen des Delikts, „die den Drei Volksprinzipien[5] widersprechende Doktrin zu propagieren“. Nach seiner Freilassung übersetzte Hou allein von 1934 bis 1937 Band II und III des „Kapital“; die Manuskripte wurden jedoch im Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression verbrannt.
Die Übersetzer, die den chinesischen Lesern zum ersten Mal die vollständige Übersetzung des dreibändigen „Kapital“ lieferten, waren schließlich zwei Ökonomen: Guo Dali (1906–1976) und Wang Ya’nan (1901–1969). Im August und September 1938, also während des allseitigen Widerstandskrieges gegen die japanische Aggression, ließ der Lesen-Leben-Verlag unter Leitung der KPCh die Übersetzung in Shanghai erscheinen. Bereits im Frühjahr 1928 hatte Guo den I. Band des „Kapital“ übersetzt und im selben Jahr lernte er Wang kennen. Die zwei jungen Leute nahmen sich vor, das „Kapital“ gemeinsam zu übersetzen. Um das Hauptwerk von Marx besser zu verstehen, übersetzten die beiden zuerst Werke der bürgerlichen klassischen politischen Ökonomen. Von 1934 an begannen Guo und Wang – das früher von Guo übersetzte Manuskript war schon 1932 in den Flammen des Krieges gegen die japanischen Aggressoren vernichtet worden – das „Kapital“ auf Grundlage der 1932 vom Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut herausgegebenen Volksausgabe zu übersetzen. Im Frühling 1940 nahm Guo dann die Übersetzung der von Kautsky besorgten Ausgabe der „Theorien über Mehrwert“ von Marx in Angriff. Wegen der harten Bedingungen konnte die Übersetzung erst Juni 1949 veröffentlicht werden.
3. 1949–Ende der 1970er Jahre
Die Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 eröffnete eine völlig neue Periode der Verbreitung des „Kapital“ in China. Im Dezember 1950 wurde der Volksverlag offiziell gegründet, dessen Hauptaufgabe die Veröffentlichung der marxistisch-leninistischen Werke war. Am 29. Januar 1953 wurde das Institut zur Herausgabe und Übersetzung der Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin beim ZK der KPCh (kurz: Das Zentrale Übersetzungsbüro) durch die Genehmigung des Vorsitzenden der Volksrepublik China, Mao Zedong (1893–1976), eingerichtet, um die marxistisch-leninistischen Werke umfassend und systematisch zu übersetzen und herauszugeben. Die Geschichte der Verbreitung und Rezeption des „Kapital“ im neuen China lässt sich gemäß des 3. Plenums des XI. Zentralkomitees der KPCh im Dezember 1978 in zwei Phasen unterteilen.
In der ersten Phase kam neben der Ausgabe von Guo und Wang die 2. vollständige chinesische Übersetzung des „Kapital“ im Rahmen der ersten chinesischen „Marx-Engel-Werke“ heraus. Einerseits wurde die Übersetzungsausgabe von Guo und Wang kontinuierlich überarbeitet und nachgedruckt. Die dreibändige Ausgabe von 1938 hatte die Verbreitung des Marxismus in China erheblich gefördert. Jedoch gab es darin manche Druck- und Übersetzungsfehler sowie Ungenauigkeiten. Um dem chinesischen Volk eine bessere Ausgabe zu bieten, erstellten die Übersetzer zwei umfassende Überarbeitungen. Die erste Überarbeitung wurde 1953 durch den Volksverlag veröffentlicht. Die Nachrichten-Agentur Xinhua brachte dazu einen Leitartikel in der „Volkszeitung“ („Renmin Ribao“), in dem es hieß: „Die chinesische Übersetzung des großartigen Hauptwerks ‚Das Kapital’ von Marx wird bald durch den Volksverlag neu herausgegeben und durch die Xinhua-Buchhandlung ausgeliefert. ... Seit 1938 wurde diese Übersetzung hintereinander sechs bis sieben Mal nachgedruckt mit einer Auflagehöhe von ca. 30 Tausend Exemplaren.“ Diese erste überarbeitete Version wurde in kurzer Frist mehrfach nachgedruckt; die Auflage erreichte 160 Tausend Stück pro Band. Da diese Fassung noch Mängel aufwies – z. B. hielt sich die Übersetzung zu strikt an das Deutsche, so dass der Text nicht leicht verständlich war –, wurde sie ein zweites Mal umfassend korrigiert bzw. verbessert. Band I, II und III der zweiten Überarbeitung erschienen 1963, 1964 und 1966.
Andererseits bekam das Zentrale Übersetzungsbüro 1955 den Auftrag vom Zentralkomitee der KPCh, die erste Ausgabe der chinesischen „Marx-Engels-Werke“ (wörtlich: „Gesammelte Werke von Marx und Engels“) weitestgehend auf der Grundlage der zweiten russischen „Marx-Engels-Werke“ („Sočinenija2“) zu übersetzen und herauszugeben. Die Arbeit daran dauerte 30 Jahre. Erst 1985 wurden die 50 Bände bzw. 53 Bücher der umfassenden chinesischen Ausgabe abgeschlossen. Die Ausgabe enthält alle vier Bände des „Kapital“ (in Bd. 23, 24 und 25 die Bände I, II und III des „Kapital“, in Bd. 26 mit 3 Büchern die „Theorien über den Mehrwert“). Darüber hinaus wurden in die Ergänzungsbände (Bd. 40–50) Marx’ Manuskript von 1857/1858 und das Manuskript von 1861–1863 vollständig sowie die Manuskripte von 1863–1865 und 1867–1882 teilweise aufgenommen.
Ende 1956 hatte das Zentrale Übersetzungsbüro begonnen, den I. Band des „Kapital“ zu übersetzen. Da nicht genug Mitarbeiter mit deutschsprachigen Kenntnissen zur Verfügung standen, konnte anfangs nur die 1949 erschienene russische Ausgabe von Ivan Ivanovich Skvortsov-Stepanov (1870–1928) als Textgrundlage genutzt werden. Da aber ein solch wichtiges Werk wie das „Kapital“ grundsätzlich nicht „auf Umwegen“ übersetzt werden kann, entschied sich die Leitung des Büros, das „Kapital“ in der seit 1956 erscheinenden deutschen Ausgabe der Marx/Engels Werke (MEW) als Grundlage zu nehmen. Wegen der politischen Bewegungen, vor allem der Kulturrevolution, konnte die Übersetzungsarbeit allerdings nur mit Unterbrechungen vorangehen. 1972 erschienen Band 23 und 24, 1974 Band 25. 1975 kamen sie auch als Einzelausgaben heraus.
4. Ende der 1970er Jahre bis heute
Auf dem 3. Plenum des XI. Zentralkomitees der KPCh im Dezember 1978 wurde der Beschluss gefasst, die Losung „Klassenkampf als leitendes Prinzip“ nicht mehr anzuwenden und den Schwerpunkt der Arbeit auf den wirtschaftlichen Aufbau zu verlagern. Dies bedeutete auch ein Aufblühen der Sozialwissenschaften und der weiteren Arbeit an der Übersetzung des „Kapital“ einschließlich der zugehörigen Text-Komplexe.
Mit Ende der Kulturrevolution wurden die vom Zentralen Übersetzungsbüro erarbeiteten chinesischen Fassungen der ökonomischen Manuskripte von Marx sukzessive in den Ergänzungsbänden der ersten chinesischen „Marx-Engels-Werke“ veröffentlicht. Neben den Ausgaben des Volksverlags ließ das Zentrale Übersetzungsbüro Übersetzungen der französischen Ausgabe 1983 durch den Chinesischen Sozialwissenschaftsverlag und der 1. deutschen Auflage des I. Bandes des „Kapital“ 1987 durch den Verlag für Wirtschaftswissenschaften herausgeben.
Statt aus dem Deutschen waren die meisten Bände der 1. chinesischen „Marx-Engels-Werke“ aus dem Russischen übersetzt worden, was zwangsläufig eine Reihe von Mängeln mit sich brachte. Daher setzte das Zentrale Übersetzungsbüro 1986, nach einem neuen Beschluss des Zentralkomitees der KPCh, die Erarbeitung einer zweiten chinesischen Ausgabe der „Marx-Engels-Werke“ offiziell in Gang. Dieser Ausgabe liegt die zweite „Marx-Engels-Gesamtausgabe“ (MEGA) zugrunde. Sie soll planmäßig 70 Bände umfassen und lässt sich in 4 Abteilungen unterteilen. Die 2. Abteilung besteht aus Band 30 bis Band 46. In dieser Abteilung erscheinen „Das Kapital“ und dessen Vorarbeiten (17 Bände mit 19 Büchern), darunter Band 30 bis Band 40 (11 Bände mit 13 Büchern) mit allen ökonomischen Manuskripten von Marx zwischen 1857 und 1882. Band 41 wird die Redaktionsmanuskripte und Ergänzungstexte von Engels zwischen 1883 und 1895 enthalten, Band 42, 43 und 44 jeweils die 1. deutsche Auflage, die französische Ausgabe und die 4. deutsche Auflage des I. Bandes des „Kapital“, Band 45 die 2. deutsche Auflage des II. Bandes und Band 46 die deutsche Auflage des III. Bandes. Mit Ausnahme von Band 45 und Band 46, die wegen des damals noch ausstehenden Erscheinens der MEGA-Bände II/13 und II/15 die Bände 24 und 25 der MEW zugrunde legten, werden alle anderen Bände der 2. Abteilung auf der Grundlage der MEGA erarbeitet. Für Band 42 und 43 wurden noch die von japanischen Kollegen hergestellten Photodrucke der Original-Ausgaben als Vorlage genommen. Aufgrund der Forschungsergebnisse der MEGA-Bearbeiter konnte die Anordnung der 2. Abteilung der 2. chinesischen „Marx-Engels-Werke“ etwas besser arrangiert werden. Zurzeit liegen die Bände 30 bis 36 und 42 bis 46 bereits vor. Anlässlich des 150. Jahrestages des Erscheinens des I. Bandes des „Kapital“ wurde dessen neu überarbeitete chinesische Übersetzung (Band 42) zum Jahreswechsel 2016/2017 veröffentlicht.
Die chinesischen Übersetzungen von „Das Kapital“ durch das Zentrale Übersetzungsbüro gelten in China als wissenschaftlicher Standard. Sie liegen den Übersetzungen in die Sprachen der verschiedenen nationalen Minderheiten durch das Übersetzungszentrum der Minderheiten-Sprachen Chinas zugrunde (Herausgabe in den Verlagen für nationale Minderheiten). 1990 wurde das dreibändige „Kapital“ in der Übersetzungsfassung der 1. chinesischen „Marx-Engels-Werke“ als Einzelausgabe durch den Zeitverlag in Taiwan mit Langzeichen publiziert.
II. Verbreitung und Rezeption des „Kapital“ in China
Vor der Oktoberrevolution war das „Kapital“ in China nur punktuell und mit wenig Resonanz bekannt. Nach jener Revolution im Jahre 1917, insbesondere aber nach der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1921 begann der Verbreitung- und Rezeptionsprozess des „Kapital“ in China. Die damalige reaktionäre Regierung verfolgte Übersetzer und Verbreiter des „Kapital“, aber ungeachtet dessen erwies sich die Verbreitung des „Kapital“ als unaufhaltsam.
Während die Kuomintang-Regierung das „Kapital“ verbot, wurde es unter der Leitung der KPCh in Yan’an und anderen befreiten Gebieten als Richtschnur der Revolution angesehen. Die KPCh mobilisierte ihre Mitglieder, „Das Kapital“ in verschiedenen Formen zu studieren und zu erforschen. Mao Zedong, der Vorsitzende der KPCh, las und kommentierte auch das „Kapital“ sorgfältig. Damals war die wichtigste Aufgabe der Verbreitung des „Kapital“, die Volksmassen mit der marxistischen Weltanschauung und Methodologie des dialektischen und historischen Materialismus vertraut zu machen, damit sie eine Anregung bekamen, die durch die KPCh geführte Volksrevolution aktiv zu unterstützen und sich dem Sturz der reaktionären Herrschaft sowie der Verwirklichung der nationalen Unabhängigkeit und der Befreiung des Volks zu widmen.
Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 wurde der Marxismus zum Leitgedanken des chinesischen Volkes. Der Schwerpunkt der Verbreitung des „Kapital“ in der Zeit zwischen der Gründung der Volksrepublik und dem 3. Plenum des XI. Zentralkomitees der KPCh 1978 bestand darin, die Parteimitglieder und die Massen mit den Gesetzen der ökonomischen Bewegungen der kapitalistischen Gesellschaft vertraut zu machen, das Wesen des Kapitalismus und die Überlegenheit des Sozialismus zu erkennen und auf Grundlage der Theorien der marxistischen Politischen Ökonomie theoretische und praktische Fragen zu behandeln. Jedoch begünstigten „ultralinke“ Ansichten dogmatische Haltungen. Während der Kulturrevolution galt das „Kapital“ als „veraltet“, seine Verbreitung stagnierte.
Mit der Reform- und Öffnungspolitik seit Ende der 1970er Jahre begann eine „goldene Zeit“ für die Verbreitung des „Kapital“. Doch wurden seit Mitte der 1980er Jahre Zweifel am „Kapital“ geäußert; das Studium des „Kapital“ an Universitäten und Hochschulen wurde an den Rand gedrängt. Unabhängig davon konnten die Forschungen zum „Kapital“ vertieft und bedeutende Ergebnisse erzielt werden.
Zwischen dem Ende der 1970er und dem Beginn der 1990er Jahre konzentrierte sich die Forschung zum „Kapital“ auf das Werk selbst; sie betraf insbesondere Untersuchungen zum Band I (Gegenstand, Aufbau, Methodologie, Geschichte). Anfang der 1980er Jahre rückten Studien zur Reproduktionstheorie stärker in den Mittelpunkt; Band II war Kernpunkt geworden. Die im Prozess der Reform und Öffnung auftauchenden neuen Phänomene und Probleme wurden stärker beachtet. Neben eigenen Forschungsergebnissen wurden auch in großer Zahl ausländische Publikationen übersetzt.
Im Jahr 1983 warf Professor Xiong Yingwu (1929–2003) die Frage der „historische Begrenztheit“ des „Kapital“ auf. Das sorgte für umfangreiche Kontroversen und gründliche Diskussionen. Mitte der 1980er Jahre wurde mit dem Vorantreiben der marktorientierten Reformen und der Einführung der westlichen, vor allem der britisch-amerikanischen Wirtschaftsdoktrinen in China der Hochschulunterricht in Politischer Ökonomie und zum „Kapital“ immer mehr gekürzt oder sogar abgeschafft. Nach Meinungen einiger Gelehrter sind die westlichen Wirtschaftstheorien seit Mitte der 1990er Jahre an den chinesischen Universitäten und Hochschulen tatsächlich zum Mainstream geworden, während die marxistische politische Ökonomie marginalisiert wurde. Manche Grundsätze des Marx’schen „Kapital“ wurden in Zweifel gezogen und durch andere Lehrmeinungen ersetzt. Dabei differenziert sich die akademische wirtschaftswissenschaftliche Szene in China rasch. Manche marxistischen Ökonomen sind der Ansicht, dass der große Erfolge der Reform und Öffnung vor allem einem Prinzip der marxistischen Politischen Ökonomie zu verdanken sei, nämlich der Anpassung der Produktionsverhältnisse an die Entwicklung der Produktivkräfte, was zu einer ausgeprägten Freisetzung von produktiven Potenzen führe.
Seit Anfang der 1990er Jahre gewann neben den Bänden I und II auch der Band III des „Kapital“ große Aufmerksamkeit. Hervorzuheben sind folgenden Tendenzen: Problemorientierte Forschung, enge Verbindung mit der Realität, vor allem mit der Entwicklung der sozialistischen Marktwirtschaft und der internationalen Finanzkrise; Berücksichtigung der Aspekte von Totalität, Offenheit und interdisziplinärem Charakter des „Kapital“; stärkere Heranziehung der Manuskripte zum „Kapital“, insbesondere der in der MEGA veröffentlichten Original-Texte und der Forschungsergebnisse der MEGA-Arbeit. 2004 wurde ein Projekt zur Erforschung und zum Aufbau der marxistischen Theorien durch das Zentralkomitee der KPCh in Gang gesetzt; in dessen Rahmen ist eine Reihe von Lehrmaterialien zur marxistischen politischen Ökonomie erschienen.
Seit 2012 hat Xi Jinping (geb. 1953), der jetzige Generalsekretär der KPCh und Staatspräsident Chinas, mehrfach über die Aktualität des „Kapital“ gesprochen. Er betonte, „Das Kapital“ habe als eines der wichtigsten klassischen Werke des Marxismus „die Prüfung der Zeit bestanden“, es sei „eine Leuchte der Wahrheit“. Am 17. Mai 2016 erklärte Xi auf dem nationalen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Forum: „Es wird gesagt, die marxistische politische Ökonomie sei veraltet. Diese Behauptung ist willkürlich. Abgesehen von den Erfahrungen der Geschichte genügt es, einen Blick auf die aktuelle internationale Finanzkrise zu werfen und darauf, dass in vielen westlichen Ländern die Wirtschaft im Abschwung befindlich ist, dass die soziale Polarisierung sich zuspitzt und die Widersprüche der Gesellschaften sich vertiefen. Daran sieht man, dass die dem kapitalistischen System eigenen Widersprüche zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Eigentum an den Produktionsmitteln immer noch existieren, nur ihre Erscheinungsformen und Merkmale haben sich verändert.“[6] Xis Rede über das „Kapital“ kann als Ermutigung der marxistischen politischen Ökonomie in ganz China verstanden werden. Eine Wiederherstellung und Stärkung der Lehr- und Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet sind zu erkennen.
III. Übersetzung und Verbreitung des „Kapital“ in China – drei allgemeine Aspekte
Die Geschichte der Verbreitung des „Kapital“ in China widerspiegelt in Miniatur die Verbreitung der marxistischen Klassiker und ihrer wissenschaftlichen Theorien in China. Die intensivere Beschäftigung mit dem „Kapital“ ist nicht nur auf akademische Motive zurückzuführen, sondern stärker noch auf praktische Ziele. Sie steht insofern in engem Zusammenhang mit der durch die KPCh geführten Revolution, mit Aufbau und Reform des Landes und der Verwirklichung des Wiederaufstiegs des chinesischen Volkes.
Drei Momente können, wie der historische Überblick zeigte, im Zusammenhang mit der Übersetzung des „Kapital“ in China hervorgehoben werden. Erstens die hohe Achtung gegenüber dem Originaltext. Schon am Anfang wurden deutschsprachige Ausgaben als Vorlage benutzt. Heute dient die MEGA als Vorlage; bei der Übersetzung der 1. deutschen Auflage des I. Bandes des „Kapital“ wurde die 1867 von Otto Meissner herausgegebene Ausgabe (Photodruck der Aoki-Shoten Buchhandlung in Japan) als wichtigste Grundlage herangezogen. Zweitens ist die systematische Berücksichtigung früherer Übersetzungs-Ergebnisse zu nennen. Zur allmählichen Vervollkommnung der chinesischen Übersetzung des „Kapital“ hat jede Generation der Übersetzer ihre Beiträge geleistet. Daneben sind alle wichtigen fremdsprachigen Übersetzungen aus der ganzen Welt – wie russische, englische, französische oder japanische Ausgaben – zu Rate gezogen worden. Drittens sind die chinesischen Übersetzungen Kollektiv-Leistungen der Übersetzer und Herausgeber unter Einbeziehung der Arbeit verschiedener Philosophen, Sozial-, und Naturwissenschaftler und einfacher Arbeiter. Darüber hinaus wurden Studierende, Experten und Fachleute verschiedener Bereiche um Rat gebeten.
In China sind bis zum Jahr 2017 zehn vollständige Übersetzungen des ersten Bandes des „Kapital“ in chinesischer Sprache erschienen: Die Ausgabe von Hou Wailu und Wang Sihua (1936), die von Guo Dali und Wang Ya’nan (1938, 1953, 1963) und die vom Zentralen Übersetzungsbüro (1972, 1983, 1987, 2001, 2016, 2016). Darüber wurden neun weitere vollständige Übersetzungen desselben Buches in sieben Sprachen der nationalen Minderheiten herausgebracht: in mongolischer (1990, 2007), koreanischer (1988, 2007), uigurischer (2008) und kasachischer Sprache (2008), in der Yi-Sprache (2008), der Zhuang-Sprache (2010) und in tibetischer Sprache (2008). Damit ist China eines der Länder auf der Erde, die über die meisten Übersetzungsausgaben des Marx’schen „Kapital“ und der zugehörigen Manuskripte verfügen. Diese Ausgaben sind Teil eines relativ umfassenden Editionssystems von Werk-Ausgaben, Einzelausgaben, ausgewählten Ausgaben, Exzerpte-Ausgaben und verschiedenen populären Ausgaben, Kommentaren und Forschungspublikationen.
Mit der Reform- und Öffnungspolitik ergaben sich die besten Bedingungen für die Verbindung von Marxismus und chinesischer Realität; dies war auch die bisher fruchtbarste Periode in der Geschichte der Verbreitung des „Kapital“ in China in den vergangenen hundert Jahren.
Übersetzung aus dem Chinesischen: Eike Kopf
[1] Vgl. Zhou Liangxun, Zur Verbreitung des Kapital in China, in Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Nr. 28, Berlin 1989, S. 125-132.
[2] Der originale Text lautet: „...we shall find in the utterances of those who speak in the name of the masses of the people a meaning which cannot be mistaken. Whatever may be said of that class of literature represented in Gemany by Karl Marx’ Kapital...“ Siehe Benjamin Kidd, Social Evolution, New York 1894, S. 68.
[3] Sun Yat-sen, Eine Rede vor der Sozialistischen Partei Chinas in Shanghai, in: Sun Yat-sen, Werke, Zhonghua Verlagsbuchhandlung, Beijing 1982, B.2, S.515.
[4] Mao Zedong, Über die demokratische Diktatur des Volkes, in: Mao Tse-Tung, Ausgewählte Werke, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1969, Bd. IV, S. 440.
[5] Von Sun Yatsen 1906 entwickelt.
[6] Xi Jinping, Rede vor dem nationalen Forum für Philosophie und Sozialwissenschaften, 17. Mai 2016, in: Guang Ming Tageszeitung, 19. Mai 2016.