Friedrich Engels und Karl Marx betrieben seit den 1840er Jahren intensive wissenschaftliche Studien zu Kinderarmut und Kinderarbeit. Daraus können auch die Kindheitswissenschaften und die wissenschaftliche Kinderpolitik nach mehr als 150 Jahren Erkenntnisse gewinnen. Ein großer empirischer und analytischer Schatz ist dabei auch heute noch zu heben. Die folgenden Zeilen sollen das ein wenig verdeutlichen.
Bekanntlich rührten die politischen Motive zum Schutz der proletarischen Kinder während der Industrialisierung in deutschen Ländern im 19. Jahrhundert eher aus Bedenken, die ihnen zugedachte Rolle als zukünftige Soldaten könne aufgrund der Kinderarbeit eingeschränkt sein. Dazu kam die Sorge, die Kinder könnten sich durch die frühzeitige Fesselung an die Fabrik und Gewöhnung an die Fabrikarbeit einseitig entwickeln und dadurch zu keiner anderen Arbeit fähig sein, wie z.B. als Ackerbau-Tagelöhner, Bauhandwerker, Hausgesinde usw.. So warnte der preußische Staatskanzler von Hardenberg 1817 vor ihrer späteren militärischen Unbrauchbarkeit aufgrund von Kinderarbeit, und der westfälische Oberpräsident Ludwig von Vincke 1818 vor der „Anwendung der kleinen Kinder“ an Maschinen.[1] Bis zur ersten gesetzlichen (aber keineswegs allgemein umgesetzten) Einschränkung der Kinderausbeutung für Minderjährige ab neun Jahren im „Preußischen Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ (1839) dauerte es jedoch abermals über zwei Jahrzehnte.[2] Davor liegt noch die erste Kinderschutzdebatte in einem deutschen Land. Am 6. Juli 1837 erörterte der Unternehmer und Abgeordnete Johann Heinrich vom Baur im rheinischen Provinziallandtag das Für und Wider der Kinderarbeit aus kapitalistischem Interesse: Zwar solle man arme und arbeitende Kinder „unter den Schutz milder Gesetze stellen“. Diese sollten jedoch keine so großen Beschränkungen für die Fabrikanten enthalten, dass „dadurch der Bestand unserer Industrieanlagen wegen der Konkurrenz des Auslandes unmöglich gemacht wird. Der Wohlstand und die Zierde unserer Provinz gingen hierdurch verloren“.[3]
Wie Jürgen Kuczynski schreibt, waren die Jahre 1820 bis 1840 in Deutschland „die Zeit der schlimmsten und schrankenlosesten Kinderausbeutung. Kinder von 6 Jahren wurden in elfstündiger Nachtarbeit beschäftigt und arbeiteten (…) von früh 7 Uhr bis abends 8 Uhr. Um während des Essens nicht pausieren zu müssen, wurde ihnen die karge Mahlzeit in einem Blechtopfe um den Hals gehängt“.[4] Marx beschäftigte sich im „Kapital“ – in den Kapiteln über den Arbeitstag und über den absoluten Mehrwert – mit den Kämpfen der englischen Unternehmer, die Kinder nachts verwerten zu dürfen, da die Maschinen sonst hätten abgestellt werden müssen (MEW 23, S. 278). Viele Kinder bekamen nicht einmal etwas zu essen und durften oft überhaupt keine Pause einlegen; die Kindersterblichkeit stieg gravierend an, die Lebenserwartung sank (MEW 23, S. 419f.).
In England führte das sogar soweit, dass wir von dort die ersten direkten Äußerungen von arbeitenden Kindern erhalten haben. Die Forderungen arbeitender Kinder an das englische Parlament von 1836 lauten: „Wir respektieren unsere Meister und sind gewillt, für unseren Lebensunterhalt und den unserer Eltern zu arbeiten, aber wir wollen mehr Zeit zum Ausruhen, für ein bisschen Spiel und um Lesen und Schreiben zu lernen. Wir halten es nicht für richtig, dass wir nur arbeiten und leiden müssen, von Montagfrüh bis Samstagnacht, um andere reich zu machen. Geehrte Gentlemen, informieren Sie sich sorgfältig über unsere Lage!“ (Petition von Kindern an das englische Parlament, 1836).[5]
Auch in Deutschland gab es im 19. Jahrhundert maßgeblich von arbeitenden Jungen und Mädchen getragene Streiks und Aktionen gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Sie wurden zumeist mit sofortiger Entlassung beantwortet, aber nicht nur damit. Auf Grund des gesetzlich bestehenden Züchtigungs-Rechts gegenüber Beschäftigten und Auszubildenden konnten die Fabrikanten ihre jugendlichen Arbeiterinnen und Arbeiter vor der Entlassung noch verprügeln und schlagen (lassen), wie es ihnen gefiel.[6]
Tatsächlich kam es schließlich im Vorreiterland der industriellen Revolution, England, zur Formulierung des Fabrikgesetzes von 1833, das die Kinderarbeit im Alter unter neun Jahren verbieten und die Arbeitszeit der Kinder zwischen neun und 13 Jahren auf acht Stunden täglich begrenzen sollte. Doch auf Druck der Unternehmerschaft und der Liberalen im Unterhaus wurde ein neues Gesetz formuliert. Dieses verlegte die Altersgrenze auf acht Jahre und erlaubte ab acht Jahren eine tägliche Arbeitszeit (inklusive Samstag) von 12 Stunden (vgl. MEW 23, S. 299).[7]
Doch nach einiger Zeit schlug eine neu gegründete Englische Kinderarbeitskommission Alarm: In ihren 1863 bis 1867 veröffentlichten offiziellen Reports interessierte sich die „Children’s Employment Commission“ zwar auch nicht primär für die Leiden, das Elend und die Interessen der Kinder. Deren jämmerliches Bildungs- und Religionsniveau sah sie als besonders besorgniserregend an: So kannten viele Kinder nicht einmal den Namen der Königin Victoria. Sie rechneten „Vier mal Vier macht Acht“; sie buchstabierten Gott (God) wie „Dog“ (Hund) und hielten den Teufel für „eine gute Person“, aber Jesus für einen „schlechten Kerl“ (vgl. Children’s Employment Commission, Fourth Report, London 1865; zit. nach: MEW 23, S. 274). Das Entsetzen über derlei Zustände nahm immer mehr zu, sodass allmählich die schlimmsten Kinderarbeits-Exzesse unter proletarischen Heranwachsenden eingeschränkt wurden (die Bürger- und Adelskinder waren von der Ausbeutung nicht betroffen). Gleichzeitig wurde die Schulpflicht verbindlicher gehandhabt, denn sie ermöglichte es, besser qualifizierte Arbeitskräfte für die anspruchsvoller werdenden Tätigkeiten in der industriellen Arbeitswelt zu erhalten.[8]
Engels’ und Marx’ Sicht auf die Kinderarbeit während der industriellen Revolution
Wer sich für Untersuchungen zur Ausbeutung von Kindern während der industriellen Revolution interessiert, wird bei Friedrich Engels und Karl Marx besonders fündig. Eine richtige Schatzkiste an Quellen und Zeugenaussagen von Kindern, an Public Health Reports, Inspektionsberichten, ärztlichen Analysen, Untersuchungen von Kinderarbeitskommissionen und pastoralen Beschreibungen findet sich in ihren Werken und besonders im „Kapital“ über dieses „System unbeschränkter Sklaverei“, dessen Grausamkeiten denen der Spanier gegenüber den indigenen Völkern Amerikas ähnelten, wie Marx den bürgerlichen englischen Ökonom John Wade wiedergibt (MEW 23, S. 258).
In seinem Buch über die Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845 beschäftigte sich auch Friedrich Engels intensiv mit der vorherrschenden Ausbeutung von Kindern und der damit verbundenen moralischen Verkümmerung und intellektuellen Verödung. Sie, wie die Fabrikarbeit der Frauen, dienten seines Erachtens der Bourgeoisie als „Rentbarmachung der Weiber und Kinder“ (MEW 2, S. 308) zum Drücken der Löhne. Im 1. Band des „Kapital“ verweist Marx auf Engels’ Werk als Referenz lange vor den Berichten der englischen Kinderarbeitskommission in den 1860er Jahren. Karl Marx zog schon in seinen frühen Werken eine Parallele zwischen Kinderarbeit und der allgemeinen Ausbeutung der Arbeitskraft durch die Industrie. „Die Vereinfachung der Maschine, der Arbeit wird dazu benutzt, um den ersten werdenden Menschen, den ganz unausgebildeten Menschen – das Kind – zum Arbeiter zu machen, wie der Arbeiter ein verwahrlostes Kind geworden ist.“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844, MEW 40, S. 548) Später dann, im Band 1 des „Kapital“, betonte er die Möglichkeit für das Kapital, Kinderarbeit durch technischen Fortschritt zur Intensivierung der Arbeit zu nutzen. „Sofern die Maschine Muskelkraft entbehrlich macht, wird sie zum Mittel, Arbeiter ohne Muskelkraft oder von unreifer Köperentwicklung, aber größerer Geschmeidigkeit der Glieder anzuwenden. (…) So erweitert die Maschinerie von vornherein mit dem menschlichen Exploitationsmaterial, dem eigensten Ausbeutungsfeld des Kapitals, zugleich den Exploitationsgrad.“ (MEW 23, S. 416f.) Mit dessen grausamen Ausdehnungsversuchen und den ihnen zugrundeliegenden Formen von Habgier und Profitsucht (verbunden mit scheinheiligster religiöser Legitimation), für die kein Verbrechen an Kindern wie Erwachsenen zu groß erscheint, sofern es Gewinn bringt, beschäftigt sich das „Kapital“ zu großen Teilen.
Bereits in der Genfer Resolution über Frauen- und Kinderarbeit von 1866 im Programm der Internationalen Arbeiter-Assoziation formulierte Marx die Janusköpfigkeit des industriellen Modernisierungsprozesses: „Wir betrachten die Tendenz der modernen Industrie, Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zur Mitwirkung an dem großen Werk der gesellschaftlichen Produktion heranzuziehen, als eine fortschrittliche, gesunde und berechtigte Tendenz, obgleich die Art und Weise, auf welche diese Tendenz unter der Kapitalherrschaft verwirklicht wird, eine abscheuliche ist.“ (MEW 16, S. 193) Marx ist also nicht grundsätzlich gegen Kinderarbeit, sondern nur gegen die kapitalistische Form der Kinderausbeutung. Geregelte produktive und nicht-ausbeuterische Tätigkeit von Kindern hält er sogar für pädagogisch sinnvoll. „In einem rationellen Zustand der Gesellschaft sollte jedes Kind vom 9. Jahr an ein produktiver Arbeiter werden, ebenso wie kein arbeitsfähiger Erwachsener von dem allgemeinen Naturgesetz ausgenommen sein sollte, nämlich zu arbeiten, um essen zu können, und zu arbeiten nicht bloß mit dem Hirn, sondern auch mit den Händen. (...) Aus physischen Gründen halten wir es für notwendig, dass die Kinder und jungen Personen beiderlei Geschlechts in drei Gruppen eingeteilt werden, die unterschiedlich behandelt werden müssen. Die erste Gruppe soll das Alter von 9 bis 12 Jahren umfassen, die zweite das von 13 bis 15 Jahren und die dritte das von 16 und 17 Jahren. Wir schlagen vor, dass die Beschäftigung der ersten Gruppe in irgendeiner Werkstatt oder mit häuslicher Arbeit gesetzlich auf zwei Stunden beschränkt wird, die der zweiten auf vier und die der dritten auf sechs Stunden. Für die dritte Gruppe muss eine Unterbrechung von wenigstens einer Stunde für Mahlzeiten oder Erholung gegeben werden.“ (Marx, Programm der Internationalen Arbeiterassoziation [IAA], MEW 16, S. 193f.)
Marx verlangte, dass die Arbeit der Kinder nach ihrer Art und Dauer bestimmten hygienischen und vor allem pädagogischen Kriterien entsprechen müsse und die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit der entscheidende pädagogische Zweck der produktiven Tätigkeit sein solle. Aus dieser Sichtweise heraus wandte sich Marx, wie gesagt, nicht grundsätzlich gegen jegliche Kinderarbeit, sondern vor allem gegen deren kapitalistische Ausbeutung. Deshalb kritisierte er auch 1875 die summarische Forderung nach Verbot der Kinderarbeit im Entwurf zum „Gothaer Programm“ der frühen Sozialdemokratie: „Allgemeines Verbot der Kinderarbeit ist unverträglich mit der Existenz der großen Industrie und daher leerer frommer Wunsch. Durchführung desselben – wenn möglich – wäre reaktionär, da, bei strenger Regelung der Arbeitszeit nach den verschiednen Altersstufen und sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum Schutz der Kinder, frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft ist.“ (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 32)
Kinder-Ausbeutung als Grundlage für den Kampf um
Kinderrechte und allseitige Entwicklung der Persönlichkeit
Die eigentümlich dialektisch-materialistische Betrachtungsweise Marx’ zeigt sich nun darin, dass er erkennt, dass in dem Maße, wie die Kinder der Ausbeutung unterworfen werden, auch die Grundlage für die Proklamation des Rechts der Kinder gelegt wird. Damit entwirft er eine der ersten explizit materialistischen Theorien zur Entstehung und Entwicklung von Kinderrechten. „Die Gewalt der Tatsachen zwang jedoch, endlich anzuerkennen, dass die große Industrie mit der ökonomischen Grundlage des alten Familienwesens und der ihr entsprechenden Familienarbeit auch die alten Familienverhältnisse selbst auflöst. Das Recht der Kinder musste proklamiert werden.“ (MEW 23, S. 513) In der Tatsache, dass in der industriellen Revolution Frauen und Kinder gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt in Fabriken und Bergwerken unter elenden Bedingungen zu bestreiten, entdeckte Marx bereits Grundlagen für weitere Widerspruchs-, Wechselwirkungs- und Wandlungsmomente. „So furchtbar und ekelhaft nun die Auflösung des alten Familienwesens innerhalb des kapitalistischen Systems erscheint, so schafft nichtsdestoweniger die große Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter.“ (MEW 23, S. 514)
Im Kapitel über „Weiber- und Kinderarbeit“ untersucht Marx beispielsweise die Auswirkungen, wenn alle Familienmitglieder zum „menschlichen Exploitationsmaterial, dem eigensten Ausbeutungsfeld des Kapitals“ werden und darüber der „Exploitationsgrad“ erweitert wird. Dazu gibt er zunächst den britischen Politökonomen Thomas de Quincey wieder, um dann selbst auf familiäre Funktionen bei der Mehrwertproduktion einzugehen: „‘Die Zahl der Arbeiter hat sehr zugenommen, weil man immer mehr Männer durch Frauenarbeit und vor allem Erwachsenen- durch Kinderarbeit ersetzt. Drei Mädchen im Alter von 13 Jahren mit Löhnen von 6 bis 8 sh. die Woche haben einen Mann reifen Alters mit einem Lohn von 18 bis 45 sh. verdrängt.’ (Th. de Quincey, „The Logic of Politic. Econ.“, Lond. 1844, Note zu p. 147) Da gewisse Funktionen der Familie, z.B. Warten und Säugen der Kinder usw., nicht ganz unterdrückt werden können, müssen die vom Kapital konfiszierten Familienmütter mehr oder minder Stellvertreter dingen. Die Arbeiten, welche der Familienkonsum erheischt, wie Nähen, Flicken usw., müssen durch Kauf fertiger Waren ersetzt werden. Der verminderten Ausgabe von häuslicher Arbeit entspricht also vermehrte Geldausgabe. Die Produktionskosten der Arbeiterfamilie wachsen daher und gleichen die Mehreinnahme aus. Es kommt hinzu, daß Ökonomie und Zweckmäßigkeit in Vernutzung und Bereitung der Lebensmittel unmöglich werden. Über diese von der offiziellen politischen Ökonomie verheimlichten Tatsachen findet man reichliches Material in den ‚Reports‘ der Fabrikinspektoren, der ‚Children’s Employment Commission‘ und namentlich auch den ‚Reports on Public Health‘.“ (MEW 23, S. 417)
Völlig blind ist Marx also nicht hinsichtlich der ökonomischen Bedeutung von Familien- und Hausarbeit.[9] Sicherlich finden sich hierzu bei Heidi Rosenbaum[10] und Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden[11] noch wesentlich detailliertere Informationen zu patriarchalischen Grundstrukturen, doch auch Marx setzt sich im „Kapital“ intensiv mit familiensoziologischen und kindheitswissenschaftlichen Fragen auseinander, die z.T. erst hundert Jahre nach ihm im universitären Forschungsfeld (wieder-)entdeckt worden sind. Seien es sozioökonomische und regionale Hintergründe von Kindersterblichkeitsraten, Probleme der Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern, „unpassender Nahrung, Mangel an Nahrung, Fütterung mit Opiaten usw.“ (siehe MEW 23, S. 420), so ist das Marxsche Hauptwerk eine wichtige Quelle für die familiensoziologische und kindheitswissenschaftliche Forschung zur Zeit der industriellen Revolution.
Das von Marx zusammengestellte umfangreiche Material der Fabrikinspektoren sowie verschiedene weitere von ihm genutzte Untersuchungsberichte über Kinderarbeit (MEW 23, S. 504ff.) unterstützten schließlich auch die Fabrikgesetzgebung zur Einschränkung der Kinderarbeit. Dabei setzt Marx sich aber auch kritisch mit der Sichtweise mancher anklagender Berichte auseinander, sofern alleine die Eltern als Hauptverursacher der Ausbeutung ihrer Kinder dargestellt werden. „‘Unglücklicherweise’, heißt es im Schlußbericht der ‚Child. Empl. Comm.‘ von 1866, ‚leuchtet aus der Gesamtheit der Zeugenaussagen hervor, daß die Kinder beiderlei Geschlechts gegen niemand so sehr des Schutzes bedürfen als gegen ihre Eltern.‘ Das System der maßlosen Exploitation der Kinderarbeit überhaupt und der Hausarbeit im besonderen wird dadurch ‚erhalten, daß die Eltern über ihre jungen und zarten Sprößlinge eine willkürliche und heillose Gewalt ohne Zügel oder Kontrolle ausüben ... Eltern dürfen nicht die absolute Macht besitzen, ihre Kinder zu reinen Maschinen zu machen, um soundso viel wöchentlichen Lohn herauszuschlagen ... Kinder und junge Personen haben ein Recht auf den Schutz der Legislatur wider den Mißbrauch der elterlichen Gewalt, der ihre physische Kraft vorzeitig bricht und sie degradiert auf der Staffel moralischer und intellektueller Wesen.‘ Es ist jedoch“, so Marx’ Kritik, „nicht der Mißbrauch der elterlichen Gewalt, der die direkt oder indirekte Exploitation unreifer Arbeitskräfte durch das Kapital schuf, sondern es ist umgekehrt die kapitalistische Exploitationsweise, welche die elterliche Gewalt, durch Aufhebung der ihr entsprechenden ökonomischen Grundlage, zu einem Mißbrauch gemacht hat.“ (MEW 23, S. 513f.)
Zugleich beschäftigt sich Marx mit dem eigentümlichen Widerspruch der gesellschaftlichen Entwicklung, dass in dieser Entfremdung auch ein „Umwälzungsferment“ liege (MEW 23, S. 512). „Aus dem Fabriksystem (…) entspross der Keim der Erziehung der Zukunft, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen“ (MEW 23, S. 507f.; MEW 16, S. 195). Marx stellt also heraus, dass in dialektischer „Aufhebung“ die seinerzeitige Ausbeutung der Kinder sich in sinnvolle, produktive Arbeit, verbunden mit Unterricht und Gymnastik als Teil von Bildung und Erziehung erweisen sollte – in einer rationalen, d.h. klassenlosen Gesellschaft.[12]
[1] Siehe Erna M. Johansen, Betrogene Kinder. Eine Sozialgeschichte der Kindheit, Frankfurt am Main 1978, S. 103f.
[2] Vgl. Michael Klundt, Kinderpolitik. Eine Einführung in Praxisfelder und Probleme. Weinheim/Basel 2017, S. 21ff.
[3] Zit. nach: Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2012, S. 40.
[4] Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. Studien Bd. 3. 1810-1871. Köln 1981, S. 238.
[5] Zit. nach: Manfred Liebel u.a., Wozu Kinderrechte. Grundlagen und Perspektiven. Weinheim/München 2007, S. 15.
[6] Vgl. Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, a.a.O., S. 265f.
[7] Dies galt, bis die englische Arbeiterbewegung 1847 den 11-Stundentag und 1848 den 10-Stundentag erkämpfte. Vgl. Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a.M. 1969, S. 35f.
[8] Vgl. Johanna Mierendorff, Kindheit und Wohlfahrtsstaat. Entstehung, Wandel und Kontinuität des Musters moderner Kindheit. Weinheim/München 2010, S. 25f.
[9] Vgl. Urte Sperling/Georg Fülberth, Zwei Geheimnisse des Mehrwerts, in: Wolfgang Gehrke/Christiane Reymann, Das Kapital. Ein Buch der Bücher nicht nur für Linke. Köln 2017, S. 66f.
[10] Vgl. Heidi Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1982, S. 381ff.
[11] Vgl. Margarete Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden, Gesellschaft von Rom bis Ffm. Ungleichheitsverhältnisse in West-Europa und die iberischen Eigenwege. Kassel 2001, S. 225ff.
[12] Von Marx’ Herangehensweise aus gesehen stellt sich der Gegensatz zwischen Institutionen zur „Ausrottung der Kinderarbeit“ (z.B. Internationale Arbeitsorganisation ILO, Gewerkschaft GEW) und solchen gegen Kinderarbeits-Verbote (z.B. Bewegung arbeitender Kinder Pronats, Bolivianisches Legalisierungs- und Regulierungsgesetz der Kinderarbeit von 2014) so kompliziert dar, dass es eines weiteren Beitrages bedürfte. Vgl. dazu Manfred Liebel, Kinderarbeit verbieten? Überlegungen zu aktuellen Kampagnen und Kontroversen, und Uta Mader/Jens Wernicke, Kinder vor Ausbeutung und Kinderarbeit schützen. Und vor der Resignation fragwürdiger Helfer, in: Forum Wissenschaft 4/2010, sowie Manfred Liebel/Peter Strack, Das Kinder- und Jugendgesetz von Bolivien (Ley 548, 2014) und die Internationale Arbeitsorganisation – Kontroversen über eine neue Politik zur Unterstützung arbeitender Kinder im Globalen Süden, Berlin 2017, in: http://www.pronats.de/assets/Uploads/liebel-strack-codigo-bolivia-umsetzung-april-2017.pdf.