Interpretationen und Lesarten

Klaus Holzkamps „Kapital"-Rezeption und die Entwicklung der Kritischen Psychologie

Klaus Holzkamp (1927 - 1995) zum 90. Geburtstag

von Morus Markard
September 2017

„Wer das ‚Kapital’ durcharbeitet, verändert sich entweder mit dessen Aneignung oder er begreift es nicht.“ (Holzkamp 1976, 204) Diese etwas apodiktisch-emphatische Verallgemeinerung seiner eigenen „Kapital“-Rezeption ist wohl auch Ausdruck der Aufbruchsstimmung, die die Studentenbewegung repräsentierte, und von der sich der Anfang der 70er Jahre schon so etablierte wie renommierte Methodologe und Experimentalforscher Holzkamp hatte affizieren lassen. Eine gewisse Voraussetzung dafür bzw. eine gewisse Bereitschaft dazu war durch zwei methodologische Monographien („Theorie und Experiment in der Psychologie“ [1964] und „Wissenschaft als Handlung“ [1968]) angelegt, in denen er das Verhältnis von Experimentalpsychologie und außerexperimenteller Realität (selbst-)kritisch reflektiert hatte. In diesen beiden Arbeiten hatte er gegenüber der sensualistischen Vorstellung, wissenschaftliche bzw. psychologische Erkenntnis komme vor allem dadurch zustande, dass man Zusammenhänge beobachte und analysiere, den generellen, in der Herstellung experimenteller Bedingungen besonders deutlich zutage tretenden Handlungsaspekt wissenschaftlicher Erkenntnis hervorgehoben.

Die noch eher formal konstruktivistisch formulierten und auf den Wissenschaftsprozess selber zentrierten Überlegungen drängten Holzkamp – eben unter dem Eindruck der Wissenschafts- und Gesellschaftskritik der Studentenbewegung – dazu, Bedingungen und wissenschaftliches Handeln über den wissenschaftlichen Kontext hinaus auf gesellschaftliche Verhältnisse zu beziehen und die eigene Reproduktion darin zu reflektieren. So schrieb er in einem Nachwort zur zweiten Auflage seines Buches „Theorie und Experiment in der Psychologie“ (1981, 276), seine einst noch konstruktivistischen Vorstellungen seien „ein Beispiel dafür (gewesen), wieweit man kommt, und wo man stehen bleibt, wenn man (…) den handelnden Forscher nur als isoliertes Individuum gegenüber einer bisher unberührten Wirklichkeit in den Blick bekommt: d.h. wenn man nicht begreift, dass Erkenntnis ein Aspekt der gegenständlichen Naturaneignung durch gesellschaftliche Arbeit im historischen Prozess ist.“

Kritik der Gedankenform des „abstrakt – isoliert – menschlichen Individuums“ (Feuerbach-Thesen)

Es ist der damit thematisierte Zusammenhang von Person und Werk Holzkamps, aus dem verständlich wird, dass, wie er feststellte, seine Erkenntnisse aus der „Kapital“-Rezeption „zu einer Umstrukturierung nicht nur unserer psychologischen Auffassungen, sondern unserer gesamten Lebenspraxis führten“ (1976, ebd.). War diese Umstrukturierung inhaltlich durchaus folgerichtig, war sie gleichzeitig Konsequenz ausgrenzender Feindseligkeit, mit der (nicht nur in der Psychologie und nicht nur an der FU Berlin) wissenschaftlicher Fundamentalkritik vom politischen wie wissenschaftlichen Mainstream begegnet wurde (vgl. Markard 2009, 64): Diese Feindseligkeit äußerte sich in einem publizistischen, dem Ausdruck „Kalter Krieg“ alle Ehre machenden Trommelfeuer gegen die Demokratisierung der FU, in Schmähkampagnen der „Notgemeinschaft für eine Freie Universität“ (die vor einer „Freien Universität unter Hammer und Sichel“ warnte), einer denunziatorischen Berichterstattung über ein studentisches, von Holzkamp formal verantwortetes Projekt „Schülerladen Rote Freiheit“ (vgl. die Analyse von W.F. Haug 1971), in publizistischen persönlichen Attacken gegen Klaus Holzkamp und in regierungsamtlichen – allerdings gerichtlich wieder aufgehobenen – Verboten von Lehrveranstaltungen. Holzkamp wurde zum streitbaren Wissenschaftler nicht, weil er einschlägige Kontroversen gesucht hätte – er wich ihnen allerdings auch nicht aus, weil er den gesellschaftlichen Konsequenzen seiner wissenschaftlichen Überlegungen nicht ausweichen zu können meinte.

Diese gewannen für Holzkamp eine gesellschaftskritische Dimension, indem er das experimentelle Setting bzw. dessen methodisch notwendige hierarchische Anordnung – Versuchsleitung (VL) und Versuchsperson (VP) – auf gesellschaftliche Herrschaftskonstellationen bezog: In der experimentellen Anordnung könne bestenfalls erfasst werden, wie Menschen sich unter fremdgesetzten, von ihnen unbeeinflussbaren Bedingungen verhalten. Es werde davon abgesehen, dass Menschen nicht nur unter Bedingungen leben, sondern ihre Lebensbedingungen auch schaffen und verändern. In der Tat ist das Verhältnis von VL und VP so reglementiert, dass eine dialogische oder symmetrisch gleichberechtigte Beziehung ausgeschlossen ist. Die VL setzt die Bedingungen des Experiments, seinen Ablauf und die Variationsmöglichkeiten der VP-Reaktionen fest. Holzkamp (1972a, 59) sah darin die „Idee einer Art ‚Norm-Vp’“, die sich an die experimentelle Situation wie an undurchschaute „Umweltbedingungen“ anpasst (ebd., 59). Diese Idee setzte er folgendermaßen zu menschlichen Möglichkeiten ins Verhältnis: Wenn man „Lebewesen, die eine Geschichte haben, die [...] in freiem, symmetrischem Dialog vernünftig ihre Interessen vertreten können, als ‚Menschen‘ bezeichnet, wenn man andererseits Lebewesen, die in einer fremden, naturhaften Umgebung stehen, die keine ‚Geschichte‘ haben, die auf bestimmte Stimuli lediglich mit festgelegten begrenzten Verhaltensweisen reagieren können, ‚Organismen‘ nennen will, so kann man feststellen, dass im Konzept der Norm-Versuchsperson restriktive Bestimmungen enthalten sind, durch welche Individuen [...] im Experiment dazu gebracht werden sollen, sich wie ‚Organismen‘ zu verhalten.“ (Ebd., 61) Sofern diese methodologische Restriktion nicht theoretisch reflektiert werde, gewinne der „quasiorganismische“ Charakter der Norm-VP „anthropologische Dignität“ (62): „Postulat der Unmittelbarkeit“ (Usnadse; vgl. Leontjew 1982, 77). Die Formulierung von der „Idee“ der Norm-Vp verweist allerdings darauf, dass Holzkamp der darin enthaltenen Determinationsvorstellung keine empirische Geltung zuweist – im Unterschied etwa zu F. Haugs Einlassung, das Menschenbild des Behaviorismus sei „zynisch”, entspreche zugleich aber „massenhaft tatsächlichem Verhalten bzw. seinen Änderungen“ (Haug 2003, S. 134), womit die Vorstellung der organismischen Reduktion für die Sache selbst genommen wird.

Für die weitere Entwicklung der Arbeiten Holzkamps ist wesentlich, dass er seine Experimentalkritik auf Marx’ 6. Feuerbachthese bezog, wonach (nicht nur die „Norm-VP“, sondern generell) die Vorstellung vom „abstrakt-isoliert menschliche[n] Individuum“ das „Ergebnis der Abstraktion von der konkreten historisch-gesellschaftlichen Lage des Menschen“ ist. Das Individuum „unbefragt als das ‚Konkrete’“ zu bestimmen, sei „charakteristisch für die bestehende Psychologie“. Und eben diese aus der „bürgerlichen Ideologie des ‚Individuums‘ und der ‚Persönlichkeit’“ resultierende „Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit menschlicher Verhältnisse“ zu überwinden sei die „entscheidende Voraussetzung für die Konzeption einer kritisch-emanzipatorischen Psychologie“ (1970, 108). Ebenso ist hervorzuheben, dass Holzkamp im Zuge dieser Entwicklung das Konzept des „freien Dialogs“, mit dem er, wie zitiert, die experimentelle Restriktion kontrastieren wollte, selber als „idealistische Konstruktion“ (1972 b, 241) problematisierte, die von den Widersprüchen der Produktionsverhältnisse abstrahiere.

Wie allerdings diese Einsichten psychologisch produktiv werden könnten oder sollten, war damit keineswegs beantwortet. Auf die Tagesordnung gesetzt war aber nun die zwar nicht unmittelbar psychologische, wohl aber psychologisch relevante Frage nach dem Verhältnis gesellschaftlicher und individueller Reproduktion, eine Frage, zu deren Beantwortung Holzkamp sich systematischer mit der marxschen Kritik der politischen Ökonomie – und damit eben auch mit dem „Kapital“ – befasste, zunächst übrigens im Rahmen eines studentisch organisierten Seminars. Im Zuge dieser Entwicklung sah er die Vorstellung des gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen abstrakten Individuums, wie er resümierte, nicht (mehr) als bloßen Fehler von Psychologinnen und Psychologen, sondern als die „quasi ‚richtige’ Spiegelung bestimmter ‚verkehrter’ gesellschaftlicher Verhältnisse“, als Befangenheit „in den Gedankenformen bürgerlicher Ideologie“ bzw. als Reproduktion der Ausgeschlossenheit „von der bewussten Planung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen“ (1976, 207).

Spezifizierung des logisch-historischen Verfahrens

Was nun die „Kapital“-Rezeption angeht, handelt es sich in der bisher geschilderten wissenschaftlichen Entwicklung erstens um den Bezug auf die Resultate marxscher und marxistischer gesellschaftstheoretischer Analysen als Voraussetzung für psychologische Bedeutungsanalysen, d.h. für die Nutzung und Konkretisierung gesellschaftstheoretischer Erkenntnisse für die Aufschlüsselung individueller Erfahrungen – und zwar zur Beantwortung der Frage, welches Ensemble von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen gesellschaftliche Bedingungen repräsentieren; zweitens handelt es sich um die Nutzung und Konkretisierung v.a. in der Warenanalyse enthaltener psychologischer Bedeutungsmomente wie „objektive Gedankenformen“ (s.u.).

Als Problem aber stellte sich heraus, dass mit der Rezeption und Kritik von „Gedankenformen bürgerlicher Ideologie“ zwar die ‚Bürgerlichkeit’ der diese Ideologie blind reproduzierenden Psychologie zu konstatieren war, aber keine „positiven Ergebnisse über die empirische Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft“ zu gewinnen sind (ebd.), vor allem keine Erkenntnisse über menschliche Möglichkeiten, die über die Formbestimmtheit durch kapitalistische Verhältnisse hinausgehen. Damit verbunden ist das Manko, dass auf der bisher erreichten Ebene keine Differenzierung des unterschiedliche Erkenntnisgehalts von verschiedenen psychologischen Ansätzen möglich ist (Maiers 1979).

Dieses Problem konnte mit dem dritten Bezug auf das marxsche „Kapital“ angegangen werden, nämlich der Anwendung bzw. Spezifizierung des logisch-historischen Verfahrens zur Fundierung psychologischer Grundbegriffe, die Holzkamp „Kategorien“ nannte – terminologisch allerdings in bemerkenswertem Unterschied zu Marx, der damit gerade Alltagsvorstellungen meinte (Haug 2008), die bei Holzkamp wiederum als „Vorbegriffe“ (1983, 48ff, 515ff) bezeichnet werden. Der Titel von Holzkamps Hauptwerk, „Grundlegung der Psychologie“ (1983), markiert eben diesen Anspruch, in der historisch-empirischen Rekonstruktion des Psychischen, deren Verfahren wie Resultate in diesem Buch auf den Begriff gebracht sind, die Psychologie auch dadurch (neu) zu fundieren, dass begriffliche Bestimmungen einer historisch-empirischen Argumentation zugänglich gemacht werden sollten: Wie ist das Psychische des Menschen unter Berücksichtigung seiner Gewordenheit begreifbar zu machen und wie ist es in psychologischen Begriffe zu fassen, bzw. wie sind vorfindliche psychologische Begriffe zu analysieren?

Der Grundgedanke ist in der berühmten Passage Marx’ aus der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“ enthalten: „In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc.“ (Marx 1857-58 [1953], 26)

Im Unterschied zu Rekonstruktion in der Ökonomie hat die Rekonstruktion des Psychischen allerdings zu berücksichtigen, dass Menschen nicht nur gesellschaftliche, sondern eben auch Naturwesen sind, eine Naturgeschichte haben (so dass, was im Marx-Zitat bloß Veranschaulichung ist, in der Psychologie zum inhaltlichen Programm gehört). Das auf Naturgeschichte ausgeweitete logisch-historische Verfahren läuft also darauf hinaus, das Verhältnis von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte begrifflich so aufzuklären, dass dem entwicklungsgeschichtlich Früheren das begrifflich Allgemeinere und dem entwicklungsgeschichtlich Späteren das begrifflich Spezifischere entsprechen soll. So ist, um ein Beispiel anzuführen, das Reiz-Reaktions-Lernen, experimentell untersucht etwa bei klassischer Konditionierung, Aspekt einer Umweltanpassung, die sich „früh“ herausbildete, und die die Menschen – als Möglichkeit – mit vielen Arten teilen. Bedeutungsvermitteltes Lernen dagegen entsteht viel später und ist spezifisch für den Menschen. (Dass Menschen auf dem Spezifitätsniveau „Bedeutungsvermitteltheit“ lernen können, heißt allerdings nicht, dass ihnen das genetisch frühere Reiz-Reaktions-Lernen nicht mehr zur Verfügung stünde.) Generell soll die Rekonstruktion des Psychischen auch ermöglichen, sowohl Anthropomorphisierungen tierischen Verhaltens als auch Biologisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse bzw. menschlichen Handelns und Erlebens und damit Universalisierungen historisch spezifischer Ausdrucksformen des Psychischen zu vermeiden.

In seinen Überlegungen zum logisch-historischen Vorgehen im „Kapital“ stellte Holzkamp (1974, 131) – in einer Auseinandersetzung mit Joachim Bischoff (1973) – zum Verhältnis von Logischem und Historischem fest: Wenn in der Analyse der historischen Gewordenheit der Geldform „von ‚Entwicklung’ die Rede ist, so bedeutet dies keine ‚logische’ Gedankenentwicklung, sondern die wirkliche Entwicklung des materiellen gesellschaftlichen Lebensprozesses, ‚Notwendigkeit’ heißt hier nicht ‚logische’ Denknotwendigkeit, sondern ‚Notwendigkeit’ unter Voraussetzung einer immer fortschreitenden historischen Entwicklung des gesellschaftlichen Lebensprozesses, mithin materielle Entwicklungsnotwendigkeit.“ Dem entspreche Engels’ (1859, 475) Charakterisierung der logischen Vorgehensweise als „nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten“ (vgl. Holzkamp a.a.O., 101). Wenn damit natürlich noch offen ist, was das konkret bedeutet, sind die fünf Stufen, die Holzkamp (1983, 78-81) für die Analyse der für dialektisches Denken zentralen Bestimmung des Verhältnisses von Kontinuität und qualitativ neuen Ebenen (und damit des Verhältnisses von Logischem und Historischen) in der Naturgeschichte des Psychischen herausarbeitete, als eine Operationalisierung anzusehen: 1. Aufzeigen der realhistorischen Dimensionen innerhalb einer Entwicklungsstufe, auf der der qualitative Umschlag sich vollzieht; 2. Darstellung der Veränderungen der Umweltbedingungen, die einen Entwicklungswiderspruch im Organismus hervorrufen; 3. Nachweis eines Funktionswechsels der relevanten Entwicklungsdimension; 4. Nachweis des Umstandes, dass die neue Funktion für die Lebensgewinnung dominant wird; 5. Analyse des Umstands, dass damit die Basis für neue Richtungen und Möglichkeiten eines neuen Fünfschritts gegeben ist.

Soweit sich die Kategorialanalyse auf biologische Evolutionsprozesse bezieht, wird sie als „funktional-historisch“ charakterisiert (Maiers 1999): die Rekonstruktion von Widersprüchen in Organismus-Umwelt-Konstellationen, aus denen in der Evolutionsreihe, die zum Menschen führt, Entwicklungen und neue Qualitäten in ihrer biologischen Funktionalität begreifbar werden – eben unter dem Gesichtspunkt der Entstehung und Differenzierung des Psychischen. Wesentliches Resultat ist die „gesellschaftliche Natur“ des Menschen (Holzkamp 1983, 180), wie sie sich im Tier-Mensch-Übergangsfeld herausgebildet hat: als Ermöglichungsgrundlage individueller Vergesellschaftung.

In dem Maße aber, in dem sich über frühe Formen von Kooperation (hinaus) eine gesellschaftliche Lebensgewinnung durchsetzt (und damit der Geltungsbereich des funktional-historischen Verfahrens überschritten wird), ist eine neue Qualität des „Gesamtprozesses der Lebensgewinnung“ (ebd., 175) zu analysieren. Für das historische Verfahren erzwingt diese Entwicklung hin zur „gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenzsicherung“ (197) einen „neuen Interpretationsrahmen“ (190), dessen psychologische Bedeutung nunmehr in der Rekonstruktion des – jetzt eben spezifisch menschlichen – Psychischen auszumachen ist. Im Ergebnis ist „Handlungsfähigkeit als gesamtgesellschaftlich vermittelte Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen“ (239) der Begriff, mit dem das Verhältnis gesellschaftlicher und individueller Reproduktion aufgeschlüsselt werden soll, wobei die subjektive Befindlichkeit als Aspekt eben dieser Verfügungsmöglichkeiten angesehen wird. Unter Bezug auf die im Begriff „Handlungsfähigkeit“ bestimmte Verfügung über die gesellschaftlichen und damit eigenen Lebensbedingungen relativierte Holzkamp (a.a.O., 243) im Übrigen die marxsche Fassung von der Arbeit als „erstem Lebensbedürfnis“ (Marx,1875, 21): „Nicht die ‚Arbeit’ als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern ‚Arbeit’ nur soweit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess erlaubt, ihn also ‚handlungsfähig’ macht.“

Marxistische Subjektwissenschaft

Mit der Bestimmung der Handlungsfähigkeit als „psychologische[r] Zentralkategorie“ (Holzkamp, a.a.O., 20) ist hervorgehoben, dass Lebensqualität nicht in erster Linie durch die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen gewährleistet ist, sondern v.a. durch die Verfügung über die Quellen der Befriedigung. Die objektiven Lebensbedingungen erhalten so psychologische Relevanz als Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen. In der Weise, wie ein Individuum Bedingungen für sich als bedeutsam wahrnimmt und akzentuiert, mache es sie zu seinen „Prämissen“. Menschliche Handlungen und Befindlichkeiten sind danach weder – deterministisch – „bedingt“, noch gegenüber den Lebensbedingungen beliebig, sondern in Prämissen als subjektiv akzentuierten Bedingungen/Bedeutungen „begründet“. Holzkamp resümiert (239): „Die marxistische Individualwissenschaft ist so in einem dezidierten Sinne ‚Subjektwissenschaft’.“ Diesen dezidierten Bezug auf den „anstößigen“ Marx, der der Kritik erst ihren „Stachel“ und ihre „Verheißung“ gibt (Haug 2006, 8), verteidigte Holzkamp auch noch, als er sich damit konfrontiert sah, dass seine Bezüge auf Foucaults Institutionsanalyse der Schule als Abwendung von Marx gedeutet wurden: „Also, bitte schön, nichts von Aufgabe, oder auch nur Relativierung, unserer marxistischen Grundorientierung!“ (1996, 129)[1]

Obwohl der Mensch den Standpunkt seiner subjektiven Lebenswelt nie verlassen kann, kann er dennoch seine eigene Stellung – sowohl im gesellschaftlichen Gesamtprozess, als auch bezüglich der Genese des Psychischen – gedanklich/praktisch erfassen. Das ist, so Holzkamp (1984, 48), die „methodologische Basisvoraussetzung materialistischer Dialektik“. Ausgehend von „der menschlichen Lebenstätigkeit“, „von der Unmittelbarkeit“ der Situation aus, muss versucht werden, den Zusammenhang, in dem diese steht, zu erfassen, um dann wieder zur Unmittelbarkeit zurückzukehren, nur, dass diese dann im Zusammenhang begriffen ist. Dies gilt sowohl für historisch-empirische Analysen als auch für die Aufschlüsselung psychischer Probleme im Hier und Jetzt: der „Weg vom ‚Vorstellungskonkretum’ über die ‚Abstraktion’ zum ‚Gedankenkonkretum’, also der „begriffenen Unmittelbarkeit“ (ebd., 49).

Generell machen die Menschen, wie Marx formulierte, „ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (1852, 115). Mit der Reduzierung von Geschichte auf eine bloße Entwicklungslogik dagegen „bleibt für den Menschen nur die Rolle des Zuschauers des von selbst ablaufenden Geschichtsprozesses“ (Holzkamp 1974, 157). Gegenüber einem derart deterministischen Materialismus betonte Holzkamp, der Marxismus sei „in der Art und Weise, wie er das Verhältnis zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung des historischen Prozesses“ herausarbeite, „historische Subjektwissenschaft par excellence“. In diesem Kontext ziele die Kritische Psychologie als „’besondere Subjektwissenschaft’“ auf die „Entwicklung der subjekthaft-aktiven Komponente, also der Selbstbestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit“ (1977, 64).

Die von Holzkamp hervorgehobene methodologische Bedeutung der „historischen Entwicklung des gesellschaftlichen Lebensprozesses“ muss sich auch beweisen, wenn es um die kategoriale Aufschlüsselung des Psychischen konkret in kapitalistischen Verhältnissen als der für uns akuten Ausprägung „gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz“ geht. Das heißt aber auch, dass der oben erwähnte zweite Bezug auf das Kapital, die Nutzung und Konkretisierung v.a. in der Warenanalyse enthaltener psychologischer Bedeutungsmomente wie „objektive Gedankenformen“ (wie „Warenfetisch“) als Anforderungen an die Individuen verstanden werden muss, zu der sie sich verhalten können und müssen, Anforderungen, die in konkrete psychologische Analysen eingehen müssen, diese aber nicht ersetzen können.

Die Basis für darauf bezogene kategoriale Bestimmungen sind (1) die psychischen Implikationen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz; (2) gesellschaftstheoretische Bestimmungen der allgemeinen Eigen-arten der kapitalistischen Gesellschaft; (3) Daten über „Erleben und Verhalten“ in der kapitalistischen Gesellschaft (unterschiedlicher Ausprägung, wenn wir bei diesen Daten nicht nur an wissenschaftliche Daten, sondern auch an Belletristik und historische Schilderungen denken); (4) mehr oder weniger aktuelle psychologische Konzepte/Theorien (Vorbegriffe); und (5) unsere je eigenen (aktual-) empirischen Daten/Erfahrungen in der Gesellschaft, in der wir existieren, und die sich in den letzten Jahrzehnten (Neoliberalismus, High-Tech-Kapitalismus) nicht unerheblich verändert hat – personale Erfahrungen, wie sie sich eben auch in Holzkamps Explikationen der „restriktiven“ vs. „verallgemeinerten“ Handlungsfähigkeit und ihrer Aspekte Kognition, Emotion und Motivation niederschlagen (Markard 2009, 180).

Auf der Basis des Begriffs der „restriktiven Handlungsfähigkeit“ lässt sich die Frage konkretisieren, warum und wie Menschen sich trotz potenzieller Selbst- und Fremdschädigung mit ausbeuterischen Verhältnissen arrangieren. Demgegenüber markiert „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ das utopische Potenzial kritisch-psychologischen Denkens, ohne das eine emanzipatorische Perspektive nicht zu verfolgen ist, als eine „Alternative, die immer dann hervortritt, wenn mir der restriktiv-selbstschädigende Charakter einer Begründungsfigur deutlich wird“ (Holzkamp 1990, 39). Anders formuliert: Die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit kann es nicht geben (a.a.O., 37ff; Markard 2106, 16), sondern es geht darum, sich am Ringen um die Möglichkeiten menschlicher Emanzipation und an den entsprechenden Kämpfen zu beteiligen, Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und sich mit den dabei auftretenden psychologischen Fragen zu beschäftigen. Wesentlich ist, dass die kategorialen Bestimmungen Voraussetzungen für empirische Analysen vorfindlicher psychischer Sachverhalte sind, sie aber nicht ersetzen können (Markard 2009, 200ff). Und: Konsequenz des subjektwissenschaftlichen Charakters der Kritischen Psychologie ist, dass sie psychologische Forschung soweit wie möglich als Kooperation mit den Betroffenen versteht (ebd., 274ff).

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Um mit Holzkamps Aufsatz, den zitierend ich begonnen habe, auch abzuschließen: „Ohne das marxsche ‚Kapital’ wäre es gar nicht möglich gewesen, die geschilderte neue Ebene von Fragestellungen zu erreichen, hätte somit der Versuch einer Verwissenschaftlichung der Psychologie durch Überwindung ihrer Befangenheit in der blinden Reproduktion der Oberfläche subjektiver Lebenstätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht erst in Angriff genommen werden können.“ (1976, 213)

Literatur

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[1] Dass die englischsprachige Auswahl von Holzkamp-Schriften (Schraube & Osterkamp 2013) im Titel auf „marxistisch“ verzichtet, die spanischsprachige (Vollmer 2015) hingegen nicht (was einer der Herausgeber der englischsprachigen Ausgabe verhindern wollte), verweist auf den mittlerweile unterschiedlichen Umgang mit der „Anstößigkeit“. Der Band VI der Holzkamp-Schriften führt den Titel „Kritische Psychologie als Subjektwissenschaft“, im Vorwort der Herausgeber (Haug et al., 2015, 20) ist dann von „marxistische[r] Subjektwissenschaft“ die Rede.