Das reiche humanistische Erbe der bürgerlichen Aufklärung und Klassik hat in unserer Zeit, die durch eine tiefe gesellschaftliche und geistige Restauration geprägt ist, eine aktuelle Dimension von neuer Qualität, die vor einem Vierteljahrhundert noch nicht absehbar war. Zu den hervorragendsten Repräsentanten der klassischen deutschen Philosophie gehört Johann Gottlieb Fichte, der am 19. Mai 1762 im ostsächsischen Rammenau geboren wurde. Im Jahre 2012 begehen wir seinen 250. Geburtstag. Fichtes Denken war maßgeblich durch die historischen Erfahrungen der Französischen Revolution, insbesondere die revolutionär-demokratische Diktatur der Jakobiner, beeinflusst. In seinen Auffassungen manifestierten sich die Positionen des demokratischen Kleinbürgertums Deutschlands während und nach der Französischen Revolution. Fichtes Denken und Wirken steht in seinen Fortwirkungen dem Zerfall des Bewusstseins in der spätbürgerlichen Philosophie der Gegenwart, der sich in ihr findenden Destruktion der Subjektivität, ihrer Orientierungslosigkeit, dem Postulat der Unveränderlichkeit des bestehenden Gesellschaftssystems und der Annahme der Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen entschieden entgegen. Fichtes Ideen sind in hohem Maße geistiger Kraftquell für gesellschaftsveränderndes Handeln in der Gegenwart.
Von liberalen zu revolutionär-demokratischen Positionen
Fichte war Sohn eines dörflichen Bandwebers. Zeitweilige finanzielle Unterstützung durch den Gutsherrn ermöglichte ihm den Weg zur Bildung. 1774 – 1780 besuchte er die Fürstenschule in Schulpforta und begann mit dem Studium der Theologie in Jena, das er in Leipzig fortsetzte, jedoch aus materiellen Gründen nicht beenden konnte. Zwölf Jahre musste Fichte seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer verdienen. In dieser Zeit durchwanderte er auf der Suche nach Hauslehrerstellen – größtenteils zu Fuß – Deutschland. Die Kenntnis der sozialen Nöte des Volkes, die er dabei erlangte, bestimmte in wesentlichem Maße seine späteren philosophischen und gesellschaftstheoretischen Positionen. 1791 besuchte er in Königsberg I. Kant und legte ihm seine Schrift „Versuch einer Kritik aller Offenbarung” vor. Die anonym herausgegebene Schrift wurde in der Öffentlichkeit als Werk Kants begeistert aufgenommen. Durch die von Kant aufgeklärte Autorenschaft gelangte Fichte schnell zu Ansehen. 1793 heiratete er Johanna Rahn, eine Tochter Klopstocks. Im gleichen Jahr veröffentlichte er in den zwei anonymen Schriften „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten” und „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution” ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Französischen Revolution. 1794 wurde er als Professor für Philosophie an die Universität Jena berufen.
Fichte schließt an das sozialtheoretische Denken der Aufklärung und an Kants „Kritik der praktischen Vernunft” an. Besonders aber ist er der Rousseauschen Lehre vom contract social verpflichtet. Die Französische Revolution gilt Fichte als ein „reiches Gemälde über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwerth”. Sie sei „wichtig für die gesammte Menschheit”[1]. Ausgangspunkt ist für Fichte das der Tradition der Aufklärung verpflichtete, von allen staatlichen Autoritäten unabhängige, freie, bindungslose Individuum. Denk- und Gewissensfreiheit sind unverzichtbare Attribute des menschlichen Individuums. Allein die Vernunft ist die Richterin über alle Autorität. Der Ausgangspunkt des Denkens Fichtes ist radikal-liberal. Das Eintreten für radikale gesellschaftliche Veränderungen ist für Fichte die gegen Kant veränderte und erweiterte Implikation des kategorischen Imperativs.
Die Privilegien des Adels und der Geistlichkeit – zu letzteren zählte der Besitz der Kirchengüter – sind mit den Rechten der Menschheit unvereinbar. In „Zurückforderung der Denkfreiheit …” spricht sich Fichte bevorzugt für evolutionäre gesellschaftliche Veränderungen aus, auch wenn er die Legitimität einer Staatsumwälzung auf revolutionärem Wege anerkennt. Widerspricht ein Staat seinem Endzweck, der Durchsetzung von Humanität und Freiheit, so hat das Volk das Recht und die Pflicht zur Verfassungsänderung. „Keine Staatsverfassung ist unabänderlich, es ist in ihrer Natur, dass sie sich alle ändern. Eine schlechte, die gegen den notwendigen Endzweck aller Staatsverbindungen streitet, muss abgeändert werden; eine gute, die ihn befördert, ändert sich selbst ab.”[2] Im Besonderen bezieht sich Fichte auf Rousseaus Lehre von der Volkssouveränität. Er korrigiert Rousseau von einer Position, die nicht nur den Niedergang der Gesellschaft beschreibt, sondern auf Veränderung der vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse drängt. Im „Beitrag” und seinen Jenaer Vorlesungen „Von den Pflichten der Gelehrten” führt Fichte aus, dass jeder Mensch von Natur aus frei sei und niemand das Recht habe, ihm ein Gesetz aufzuerlegen, als er sich selbst. In entschieden demokratischem und zugleich radikal-liberalem Sinne bemerkt Fichte, dass der Staat als Institution nur vorübergehende Existenz habe. Inhalt und Ziel des Geschichtsprozesses sei die fortschreitende Realisierung der „Kultur zur Freiheit”. Vernunft ist für Fichte Synonym eines Gesellschaftszustandes, in dem alle Individuen ihre Kräfte und Fähigkeiten vollständig entwickeln können, ein Höchstmaß an Freiheit der Individuen sich mit gesellschaftlicher Gleichheit verbindet. Der Mensch ist für Fichte höchstes Wesen für den Menschen. Die Bestimmung der Geschichte sei die Herausbildung eines Höchstmaßes an menschlicher Vollkommenheit, ein harmonisches Verhältnis aller Gesellschaftsglieder. Im Dualismus von Natur und Vernunft müsse der Einfluss der Natur immer schwächer, die Herrschaft der Vernunft immer mächtiger werden. Die in den Jenaer Vorlesungen begründete kulturtheoretische Konzeption Fichtes ist eine Gipfelleistung des bürgerlich-demokratischen Humanismus. Die Fichtesche Formel von der Identität, von der Schaffung einer Gesellschaft vollkommener Einheit, in der Freiheit und Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder oberste Maxime sind, bringt in hohem Maße Citoyen-Bewusstsein zum Ausdruck, ist heroische Illusion, die unter dem Eindruck der jakobinischen Phase der Französischen Revolution steht.
Die Gedankenführung Fichtes in seinen Frühschriften führt am Ende des „Beitrags” von radikal-liberalen zu revolutionär-demokratischen Positionen. In der Frage der Anwendung revolutionärer Gewalt nimmt Fichte, über Rousseau hinausgehend, Impulse des Jakobinismus, namentlich Robespierres, auf. Wenn Adel und Geistlichkeit dem rechtmäßigen Akt der Abschaffung der Privilegien und der Säkularisierung des Kircheneigentums entgegentreten, dann ist es legitim, gegen Adel und Geistlichkeit auch gewaltsam vorzugehen. Widerstand gegen unveräußerliche Menschenrechte, wie sie die Aufkündigung der Verträge mit Adel und Geistlichkeit darstellen, könne nur von Feinden der Menschheit geleistet werden, die außerhalb jedes bürgerlichen Gesetzes stehen. Fichte gelangte zur Formulierung des Rechts und der Pflicht auf Revolution, das er mit dem Recht auf Existenz verbindet. Die weitere Ausformung der Fichteschen Gedankengänge findet sich in seinem 1796 veröffentlichten „Naturrecht nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre”. Der Einzelne, der gegen eine Regierung aufsteht, sei stets Rebell. „Das Volk als Ganzes ist nie Rebell, denn es sei nach dem Rechte, die höchste Gewalt, über welche keine geht… Nur gegen einen höhern findet Rebellion Statt. Aber was auf der Erde ist höher, denn das Volk! Es könnte nur gegen sich selbst rebellieren, welches ungereimt ist.”[3] Bereits im „Beitrag” wird die ursprünglich weitgehend eliminierte Staatsgewalt wieder mit starken Machtbefugnissen ausgestattet, da sie nur durch revolutionäre Gewalt gehandhabt werden kann.
Im Anschluss an Rousseau sowie an Robespierre und Marat erlangt bei Fichte das Recht auf Existenz Priorität gegenüber allen anderen Grundrechten. Ihm folgt das Recht auf Eigentum und Freiheit erst nach. Der Geist des Eigentumsvertrages und Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung laute: „Jeder muß von seiner Arbeit leben können …Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt.”[4] Als Ideologe kleinbürgerlicher Schichten erblickt Fichte im Eigentum die entscheidende Voraussetzung für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit. Wohltätigkeit bestehe darin, dem Eigentumslosen Eigentum, eine sichere und fortdauernde Existenz zu verschaffen. Statt Almosen gelte es dem Amtlosen Anstellung, dem Arbeitslosen Arbeit zu verschaffen.
Der Vernunftstaat erlangt bei Fichte eine revolutionär-demokratische Ausprägung. „Die von Fichte in den Jahren 1796-1800 entwickelte Staatsauffassung entspricht in ihren Grundzügen der Staatsauffassung der Revolutionsregierung von 1783/94.”[5] Den Bestrebungen bei Rousseau, in den Konventdebatten und bei Fichte, überhaupt bei kleinbürgerlichen Theoretikern jener Zeit, dem Recht auf Existenz Priorität zu verleihen, was die reale Existenzunsicherheit des Kleinbürgertums in der Periode des sich entfaltenden Kapitalismus reflektiert, entspricht auf der Ebene des Staatsrechts die Gegnerschaft zum Liberalismus und die Betonung einer starken, mit bedeutenden Machtbefugnissen ausgestatteten Staatsgewalt. Die Parallelität von Fichte und Robespierre besteht u.a. in der historischen Illusion, dass in der bürgerlichen Gesellschaft ein einheitlicher Wille des Volkes zur Geltung kommen könne und sich in ihr eine verhältnismäßige Gleichheit der Vermögen herstellen lasse. Was freilich im französischen Jakobinismus vorrangig Gegenstand praktischer Politik war, wird bei Fichte nur zum Gegenstand theoretischer Deduktion, die vor allem auf die Ableitung des Sittengesetzes zielt.
Leistungen der frühen „Wissenschaftslehre“
Eigentlicher Träger des Fortschritts sind nach Fichte die Gelehrten, denen es obliege, die „Wissenschaftslehre” zu verbreiten und damit dem Vernunftfortschritt zum Durchbruch zu verhelfen. In der privilegierten Stellung des Gelehrten kommt Fichtes Hochachtung vor der Wissenschaft und Philosophie als Element der Menschenbildung und seine Auffassung von der humanistischen Verantwortung, die der Gelehrte vor der Gesellschaft trägt, zum Ausdruck. Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten hielt Fichte mehrfach, so 1794/1795, 1805 und 1811.
Fichtes Streben nach radikalen gesellschaftlichen Veränderungen, wie es in seiner Lehre vom freien, bindungslosen Individuum des „Beitrags” zur Geltung kam, fand seinen allgemein-theoretischen Ausdruck in der „Wissenschaftslehre”, deren erste Fassung 1794 erschien. Der Kern der Fichteschen Bemühungen in ihr ist die theoretische Begründung der Befreiung des Individuums von allen irgendwie gearteten Bindungen zum Zwecke der Gestaltung der Gesellschaft durch den autonomen Menschen. Fichte bezeichnete seine philosophische Lehre als das „erste System der Freiheit”[6].
Kant hatte einen Dualismus von Natur und Freiheit konzipiert. Der mechanisch gefassten Naturkausalität stehe die Selbstgesetzgebung der Vernunft aus Freiheit gegenüber. Freiheit ist für Kant Selbstbestimmung des Willens aus praktischer Vernunft, bezogen auf das Ding an sich, sie vermittelt keine theoretische Erkenntnis des Objekts. Das moralische Gesetz soll unbedingte Geltung haben, nicht dem Zwang äußerer Notwendigkeit unterworfen sein. Doch die Realisierung der Freiheit verbleibt für Kant mit dem Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft nur im Bereich des Abstrakt-Ideellen. Eine solche Lösung des Problems war für die Vertreter jener Generation, die unmittelbar von den Ereignissen der Französischen Revolution erfasst wurden, unhaltbar. Fichte reißt die Kantschen Grenzen zwischen Erscheinung und Ding an sich nieder. Für Fichte ist die Vernunft schlechthin praktisch, identisch mit dem freien Selbstbewusstsein. Die Umgestaltung der Wirklichkeit, aktives gesellschaftliches Handeln ist ihm höchste Maxime. Keine äußere Macht könne dem menschlichen Willen und dem menschlichen Selbstbewusstsein entgegengesetzt werden. Was für Kant nicht Gegenstand theoretischer Erkenntnis sein konnte, erhebt Fichte zum absoluten Subjekt. Für Fichte ist alle Realität Setzung des absoluten Ich, des absoluten Subjekts. J. Zelenỳ führt aus: „Die traditionelle Ontologie verwandelt sich bei Fichte in die Metaphysik der praktischen Vernunft. Die Fundamentalfragen der Logik (der theoretischen Stellung) sind dort untrennbar mit bestimmten – wie man heute sagen könnte – existential-praktischen Haltungen vereinigt, die sich nicht theoretisch deduzieren und die sich auch auf keinerlei Form der theoretischen Haltung reduzieren lassen. Das Primat des außerrationalen praktischen Verhaltens, das Fichte proklamiert, ist … in eine Bedingung verwandelt, in der die … absolute Vernunft sich selbst setzt und schafft.”[7]
Während nach Kant alles Bewusstsein durch das Selbstbewusstsein nur bedingt sei, d. h. der Inhalt durch irgend etwas außer dem Selbstbewusstsein begründet sein kann, sei nach der Wissenschaftslehre alles Bewusstsein durch das Selbstbewusstsein bestimmt. Die intellektuelle Anschauung als das „Bewusstsein des Handelns” ist nach Fichte die grundlegende geistige Tätigkeit. Durch die intellektuelle Anschauung wird das absolute Ich nicht als Sein und Ruhe, sondern als Handeln, Tätigkeit und Bewegtheit erkannt. Intellektuelle Anschauung ist Selbstbeziehung des Ich auf seinen Tätigkeitsprozess, Anschauung der inneren absoluten Spontaneität.
In der „Wissenschaftslehre” sucht Fichte den „absolutersten, schlechthin unbedingten Grundsatz” alles menschlichen Wissens aufzufinden. Dieser müsse die gleiche Gewissheit haben wie der logische Satz der Identität A = A. Den Ausgangspunkt der „Wissenschaftslehre” bilde die reine abstrakte Tathandlung, die allem Wissen zugrunde liege. Diese Tathandlung bestehe im Setzen des Ich. Man könne nicht denken, ohne sein Ich hinzuzudenken. Fichte formuliert: „Das Ich sezt ursprünglich schlechthin sein eignes Seyn.”[8] Das Ich sei die Quelle aller Realität. Damit unternimmt Fichte eine Kantkritik von rechts, indem er das unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existierende Ding an sich eliminiert. Der Dualismus des Kantschen Denkens wird ausgeschaltet, was der Fichteschen Philosophie eine große innere theoretische Geschlossenheit, freilich auf dem Boden des subjektiven Idealismus, sichert. Mit der Betonung der absoluten Priorität menschlichen Handelns, mit der Hypostasierung der Aktivität des menschlichen Subjekts ist Fichte der eigentliche Theoretiker der „tätigen Seite” innerhalb der klassischen deutschen Philosophie. Der subjektive Idealismus ist – angesichts der strukturellen Schranken des zeitgenössischen Materialismus – die historisch unvermeidliche Form der theoretischen Begründung der radikalen Umgestaltung der überlebten feudalen Gesellschaftsverhältnisse durch das bürgerliche Individuum.
Das absolute Ich entwickelt alle Tätigkeiten der Vernunft und die Bestimmungen der Außenwelt aus sich selbst. Wie kein anderer Denker akzentuierte Fichte die antizipatorische Struktur des menschlichen Denkens und Handelns. Die Inhalte des die Gesellschaft verändernden Handelns müssen aus dem Bewusstsein erzeugt werden. Sie stehen in rigorosem Kontrast zur vorgefundenen rückständigen gesellschaftlichen Realität in Deutschland. Die „Wissenschaftslehre” hat es nicht mit dem empirischen Ich, sondern mit dem absoluten Ich zu tun. Dieses ist mit dem „Bewusstsein überhaupt” Kants zu vergleichen. Das absolute Ich sei „schlechthin unbedingt und durch nichts höheres bestimmbar”[9]. Es ist die Substantialisierung der Tätigkeit. Im absoluten Ich verbirgt sich in äußerster Abstraktion die Menschheit in ihrer gesamten Entwicklung, deren tätige Daseinsweise zum abstrakten Subjekt verselbständigt und überhöht wird. In äußerster Abstraktion drückt sich darin der Gedanke aus, dass sich die Menschheit durch ihre Tätigkeit selbst erzeugt. Im individuellen Ich tritt das absolute Ich lediglich als Besonderes in Erscheinung. Die Tathandlung geschieht durch Setzen und Gegensetzen. Der „zweite, seinem Gehalte nach bedingte” Grundsatz der „Wissenschaftslehre” lautet: „dem Ich” wird „schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich”[10]. Dieser Satz steht logisch dem ersten entgegen. Das Ich setzt etwas in sich nicht, indem es ein Nicht-Ich setzt. Die praktische Tätigkeit des Ich bedarf nach Fichte der Existenz von etwas außerhalb und unabhängig vom Ich Existierenden, auf das das Ich wirken kann. Dem ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre entsprach die Kategorie der Realität, dem zweiten, der Antithese, die Kategorie der Negation. Beide Grundsätze schließen sich logisch aus. Die Dialektik von Ich und Nicht-Ich bezeichnet die Grundstruktur der Wirklichkeit. Neben den beiden ursprünglichen Tathandlungen des Ich – Setzen und Entgegensetzen – nahm Fichte noch eine dritte Tathandlung, durch welche die entgegen gesetzten Ich und Nicht-Ich vereinigt, gleichgesetzt werden, ohne sich selbst aufzuheben. Auf dem Wege des wechselseitigen Einschränkens von Ich und Nicht-Ich leitet Fichte alle kategorialen Bestimmungen der Wirklichkeit wie Realität, Negation, Limitation, Wechselwirkung, Kausalität, Qualität und Quantität, Substantialität ab. Fichte unterscheidet theoretische und praktische Wissenschaftslehre. Ist es Aufgabe der ersteren zu erklären, in welcher Weise das Nicht-Ich das Ich bestimmt, so ist es umgekehrt Anliegen der letzteren, zu zeigen, wie das Ich das Nicht-Ich beschränkt. Die praktische Tätigkeit hat für Fichte die Priorität, doch ist sie für ihn eigentlich auf die praktisch-geistige Tätigkeit beschränkt. Die praktisch-gegenständliche Tätigkeit, im Besonderen der menschliche Arbeitsprozess, wird bei Fichte nicht unmittelbar reflektiert. Kants Ding an sich reproduziert sich bei Fichte in der Form eines „Anstoßes”, den das Nicht-Ich auf das Ich ausübe. Dieser Begriff des „Anstoßes” war noch unbestimmter als Kants Annahme eines Dings an sich, macht aber die Unvermeidlichkeit der Anerkennung einer vom Bewusstsein unabhängigen Komponente bei Fichte deutlich.
Für Fichte sind Subjekt und Objekt gleichursprünglich in ihrer Vereinigung im Ich des absoluten Subjekts enthalten. Damit wird die Subjekt-Objekt-Beziehung zum wirklichkeitskonstituierenden Grundverhältnis. Fichte fasst sie als bewusstseinsimmanent. Für ihn befinden sich im Unterschied zu Kant Subjekt und Objekt in beständiger Korrespondenz. Er fasste erstmals den gesamten menschlichen Erkenntnisprozess als eine in sich geschlossene dialektische Subjekt-Objekt-Beziehung. Nach der Ableitung der Grundkategorien entstehen alle weiteren aus der Entfaltung des Gegensatzes von Ich und Nicht-Ich. Die einzelnen Momente des Erkenntnisprozesses und die Bewusstseinsformen sind für Fichte stets eng miteinander verwoben, sie treten „in synthetischer Vereinigung” auf. Die Erkenntnisformen bilden ein dialektisch bewegtes Ganzes, das von dem Streben des Subjekts bestimmt wird, die gesamte Wirklichkeit als Resultat seiner eigenen Tätigkeit zu begreifen. Kants Auffassung der produktiven Einbildungskraft als subjektives Vermögen der Synthesis des Mannigfaltigen in der Wahrnehmung wird bei Fichte zum universellen produktiven Vermögen des Ich umgeformt. „Fichtes Konzeption der Einbildungskraft macht diese zum schöpferisch-dialektischen Organ, das die eigentlich empirische Welt als sinnlich-prozessuale Gestalt schafft.”[11]
Mit Fichte bildet sich innerhalb der klassischen deutschen Philosophie der subjektive Idealismus voll aus. Dieser Übergang war historisch unumgänglich. Er war der Versuch, die geschichtlich notwendige Aktivität des menschlichen Subjekts als Voraussetzung grundlegender sozialer Umgestaltungen in der Periode der Französischen Revolution theoretisch zu begründen. Fichtes subjektiver Idealismus war der hypostasierte Ausdruck des Selbstbewusstseins des deutschen Bürgertums, zugleich der Reflex seiner realen Schwäche in einem noch kleinstaatlich zersplitterten Land. „Was Fichte suchte und erhoffte, schlug sich in einer Theorie nieder, der das gesellschaftlich-praktische Korrektiv fehlte und die so ihren Schöpfer zu idealistisch-überstiegenen Schlussfolgerungen verleitete.”[12] Fichte hypertrophiert den Gedanken der Befreiung von Feudalismus und Absolutismus zur Idee einer völligen Befreiung vom Einfluss der materiellen, außerbewussten Wirklichkeit.
Eine humanistische Geschichtsphilosophie
1798/99 wurde Fichtes Wirken in Jena im Zusammenhang mit dem so genannten „Atheismusstreit” scharfen Angriffen ausgesetzt. Der Streit wurde durch einen von Friedrich Karl Forberg im „Philosophischen Journal” verfassten Aufsatz „Entwicklung des Begriffs der Religion” ausgelöst, in dem dieser einen „praktischen Glauben an eine moralische Welt-Regierung” in den Mittelpunkt stellte, doch faktisch atheistische Auffassungen vertrat. Fichte verteidigte in einem Beitrag „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-Regierung”, der in der gleichen Zeitschrift erschien, Forbergs Positionen, lehnte aber doch die Religion keineswegs ab. Nachdem Fichte vom Verbot des entsprechenden Heftes des „Philosophischen Journals” erfuhr, verfasste er zunächst eine „Appellation an das Publikum” und dann eine Verteidigungsschrift, mit denen er dem Vorwurf des Atheismus entgegentrat. Die Diskussion um den angeblichen Atheismus Fichtes erregte breite Kreise der deutschen Öffentlichkeit und gestaltete sich zu einer Auseinandersetzung zwischen den Kräften der bürgerlichen Demokratie und denen des Feudalabsolutismus und den ihn repräsentierenden konservativen Ideologen. Die ideologischen Kämpfe machten deutlich, dass am Ende des Jahrhunderts die Kräfte der politischen Reaktion wieder an Boden gewannen. Fichte erkannte in seiner Verantwortungsschrift, dass es in dem entfachten Streit nicht um Atheismus, sondern um seine bürgerlich-demokratischen Grundauffassungen ging. „Ich bin ihnen ein Democrat, ein Jacobiner, dies ist’s.”[13] Der Atheismusstreit führte im April 1799 zur Entlassung Fichtes aus seinem Jenaer Lehramt.
Obwohl Fichte noch im Mai 1799 erklärt hatte, er könne im Brandenburgischen nicht leben, nahm er kurz darauf eine Einladung F. Schlegels an und siedelte nach Berlin über. Die Wirkungsmöglichkeiten Fichtes in den ersten Jahren nach 1800 in der preußischen Hauptstadt waren eingeschränkt. In Berlin lebte Fichte zunächst als Privatgelehrter. Die erste Schrift, an der Fichte nach seiner Übersiedlung nach Berlin arbeitete, war „Die Bestimmung des Menschen”. Hier legte er die geschichtsphilosophische Grundposition seiner Jenaer Jahre in populärer Form dar und entwickelte eine gegenüber der „Wissenschaftslehre” in gewisser Weise realistischere Konzeption menschlicher Freiheit. Fichte erhellt den konkreten Bezugspunkt der Priorität des Handlungsgesetzes. Es ergibt sich zwingend aus dem geringen Grad, in dem der Mensch die äußere Natur und die eigenen Lebensverhältnisse bisher unter seine Kontrolle gebracht hat. Es gelte, die rohe Gewalt der Natur zu bändigen, sie unter die Kontrolle und Botmäßigkeit der Vernunft zu bringen. Fichtes Lehre von der „Bestimmung des Menschen” zielt auf das wachsende Beherrschen und planmäßige Ausnutzen der Naturgesetzmäßigkeiten durch die assoziierten menschlichen Individuen über zunehmendes Anwenden wissenschaftlicher Einsichten.
Im Besonderen gilt es nach Fichte, die Beziehungen der Menschen untereinander zu humanisieren, Krieg, Gewalt, Grausamkeit, Verbrechen, Elend, Feindschaft und alle soziale Unterdrückung auszuschalten. Die Gesamterfahrung des Aufstiegs der bürgerlichen Klasse, verdichtet durch die Impulse, die vom weltgeschichtlichen Ereignis der Französischen Revolution ausgingen, fasst Fichte in der „Bestimmung des Menschen” in der Aufgabe zusammen, alle menschlichen Daseinsformen vernünftig zu gestalten, soziale Gleichheit zum beherrschenden Prinzip der Gesellschaftsbeziehungen zu erheben. Erst das Ausschalten egoistischer und individualistischer Verhaltensformen, das Aufhören sozialer Unterdrückung und Ungleichheit, das Herbeiführen einer wirklichen Assoziation der Individuen schaffe den Raum für die rationellste Beherrschung der Naturkräfte.
Romantischer Antikapitalismus
Ende des Jahres 1800 erschien Fichtes Schrift „Der geschlossene Handelsstaat”, die der Autor dem preußischen Staatsminister von Struensee widmete. Fichte schließt in ihr an seine Jenaer Arbeit „Grundlage des Naturrechts …” an, die wesentlich von Inspirationen des Jakobinismus geprägt war. Fichtes „Geschlossener Handelsstaat” ist eine Staatsutopie, die in Anlehnung an jakobinische Gedankengänge von einer kleinbürgerlich-antifeudalen Grundüberlegung durchdrungen ist; auf der anderen Seite entwickelt sie mit der Forderung einer Rückkehr zum Zunftsystem eine retrograde Kapitalismuskritik, in der romantisches Gedankengut eine wesentliche Rolle spielt. Fichte erstrebt wie in seinen vorangegangenen Arbeiten eine Gesellschaft von Kleineigentümern mit maximaler Vermögensgleichheit, die für die Gesamtheit des Volkes menschenwürdige Existenzbedingungen sichert. „Der Mensch soll arbeiten; aber nicht wie ein Lastthier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt und nach der nothdürftigsten Erholung der erschöpfenden Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird.”[14]
Insgesamt ist der „geschlossene Handelsstaat” vor allem ein kleinbürgerlicher Protest gegen die zunehmende Kapitalisierung der Gesellschaft in West- und Mitteleuropa seit dem Ende des 18. Jahrhundert, eine Reaktion auf die historische Erfahrung des Thermidor. Die Züge einer Rückwendung zum Mittelalter, die Elemente eines romantischen Antikapitalismus sind nicht schlechthin als reaktionär zu bezeichnen. Sie sind für Fichte nunmehr in einer freilich historisch verklärenden Sicht unerlässliche Bedingungen für die Realisierung des Zustands eines ewigen Friedens, seines humanistischen und demokratischen Gesellschaftsideals.
Erfahrungen des Thermidor
Die historischen Erfahrungen nach dem Thermidor, die in Erscheinung tretenden inneren Widersprüche des Kapitalismus führen zu wesentlichen Veränderungen in Fichtes Denken. Fichte vermag die ursprünglichen Zielsetzungen seines Denkens nur um den Preis einer Mystifizierung seiner weltanschaulichen Aussage zu bewahren.
In den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters”, einem in Berlin 1804/05 gehaltenen Vortragszyklus zu geschichtsphilosophischen Fragen, sucht Fichte die Wesenszüge seines kleinbürgerlich-demokratischen Gesellschaftsideals zu bewahren, indem er es mit einer entschiedenen Kritik der Aufklärung, mit einer umfassenden Zeitalterkritik verbindet. Bürgerliche Wirklichkeit, Vernunft und Freiheit bilden nunmehr divergierende Momente. Geschichte wird gefasst als in fünf Zeitaltern verlaufende Vernunftentwicklung, beginnend in blinder, instinktiver Form, kulminierend in ihrer voll bewussten Handhabung. Fichte setzt sich in seiner Kritik des gegenwärtigen Zeitalters, des „Zeitalters der vollendeten Sündhaftigkeit”, in scharfer Form mit den von Individualismus und Egoismus, vom bloßen „Genußstandpunkt” beherrschten bürgerlichen Lebensverhältnissen auseinander. Die bürgerliche Gesellschaft, die den wachsenden Antagonismus von Individuum und Gesellschaft in sich birgt, wird zum Gegenstand entschiedenster Kritik. Sie ist nach Fichte durch Egoismus und Utilitarismus, Unvernunft und Unfreiheit geprägt. In der Gegenwart habe die Geschichte ihren Tiefpunkt erreicht. Erst in einer künftigen Geschichtsepoche werde die Vernunft das Leben der Menschheit gänzlich durchdringen und eigentlicher Zweck menschlichen Lebens sein.
Die Enttäuschung darüber, dass die Ideen der „Wissenschaftslehre” nicht die von Fichte gewünschte Resonanz fanden, veranlasste ihn, sich der dem Volke geläufigen Sprache zu bedienen, um auf diese Weise die Ideen der bürgerlichen Demokratie in die Köpfe der Menschen einzupflanzen. In seinen Vorlesungen „Anweisungen zum seligen Leben” (1806) führte Fichte aus: Eigentliche Existenz habe nur das „göttliche Dasein” als das „ geistige Licht”. Nur „Gott” ist eigentlich „Leben”, damit aber auch Urquell aller Aktivität und Tätigkeit. Wahre Religiosität ist „nicht lediglich betrachtend, und beschauend …, sondern sie ist nothwendig thätig und praktisch”[15]. Fichte suchte seine Lehre im Anschluss an die johanneische Theologie zu begründen, die nicht wie die Lehre des Apostel Paulus auf äußere Beweisführung und Wunder baue, sondern auf Vernunft und innere Überzeugung. Der eigentlich areligiöse Inhalt des Fichteschen Denkens kommt darin zum Ausdruck, dass er das „göttliche Daseyn” als Intellekt, d. h. als den Träger der „Wissenschaftslehre” fasst. „Religion” erlangt einen gänzlich diesseitigen, wirklichkeitsimmanenten Inhalt. Nicht zufällig nimmt er in der „Anweisung zum seligen Leben” Partei für die oppositionellen Ketzerbewegungen in der Geschichte: „… durch die ganze Kirchen-, Ketzer- und Verfolgungsgeschichte hindurch stehen die Verfolgten jedes Mal auf dem verhältnismäßig höhern, und die Verfolger auf dem niedern Standpuncte”.[16]
(Teil II folgt in Z 89, März 2012)
[1] J. G. Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution. Erster Theil, in: J. G. Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. I.1, S. 203.
[2] Ebd., S. 254.
[3] J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Erster Theil, in: Akad.-Ausg., Bd. I.3, S. 457.
[4] J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Zweiter Theil, in: Akad.-Ausg., Bd. I.4, S. 23.
[5] M. Buhr, Die Philosophie Fichtes und die Französische Revolution, in: Ders., (Hg.), Französische Revolution und klassische deutsche Philosophie, Berlin 1990, S. 154.
[6] J. G. Fichte an (Jens Immanuel Baggesen?) (Zürich?) (1795 April oder Mai) (Jena oder Asmannstädt), in: Akad.-Ausg., Bd. III.2, S. 300.
[7] J. Zelenỳ, Die Wissenschaftslogik bei Marx und „Das Kapital”, Berlin 1968, S. 318f.
[8] J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Akad.-Ausg., Bd. I.2, S. 255.
[9] Ebd., S. 279.
[10] Ebd., S. 266.
[11] W. Heise, Hölderlin. Schönheit und Geschichte, Berlin 1988, S. 199.
[12] M. Buhr, Vernunft – Mensch – Geschichte, Studien zur Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie, Berlin 1977, S. 173f.
[13] J. G. Fichte als Verfasser des ersten angeklagten Aufsatzes, und Mitherausgebers des phil. Journals Verantwortungsschrift, in: Akad.-Ausg., Bd. I.6, S. 72f.
[14] J. G. Fichte, Der geschloßne Handelsstaat, in: Akad.-Ausg., Bd. I.7, S. 71.
[15] J. G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre, in: Akad.-Ausg., Bd. I.9, S. 112.
[16] Ebd., S. 69.